auf reisen

2
Aug
2010

Die spinnen, die Briten!

In London gibt es Smoothies und Smoochies, Frappucinos, Cappucinos und Latte Macchiatos. Es gibt Mezze, Sushi, Fish & Chips und Chicken Tikka Masala, kurz: Man kann hier alles essen und trinken, was das Herz begehrt. Und mehr. Aber in unserem Hotel gibt es keine einzige Einzelportion Konfitüre, die sich ohne Zuhilfenahme eines guten Messers öffnen lässt. Es gibt auch keine guten Messer.

Als britische Meisterleistung im öffentlichen Verkehrs gilt der Bau der Docklands Light Railway. In den Neunzigern die ersten Stadtbahnen Europas ohne Lokführer. Futuristisch und elegant. Aber wer an einem Julinachmittag um 16 Uhr an der Station Westferry eine Fahrkarte kaufen will, ist total angeschmiert. Die Sonne scheint direkt auf die Touchscreens aller vier Ticket-Automaten. Die Bildschirme sind brandschwarz Nichts zu sehen. Bediente Schalter gibt es keine. "It's a disgrace!" schimpft die Frau mit dem Kinderwagen. Und Frau Frogg lernt, wie sich ein Blinder vor dem Touchscreen fühlt.

Und dann gibt es Kew Gardens. Hier kommt alles zur Hochblüte, was die Botanik sich je ausgedacht hat: die Leidenschaften des Sammelns, Ordnens und Benennens; phantastische Gewächshäuser; die aus der Sorge um das Klima geborene Pädagogik; das schiere Glück über die Fülle des Lebens.

Kew Gardens Cactus in Kew Gardens
Butterfly in Kew Gardens

Die Kew Gardens wären ein Paradies, eine Oase der Ruhe. Sind sie aber nicht: Sie liegen genau in der Anflugschneise des Flughafens Heathrow. Im Zweiminutentakt donnern die Düsenjets im Landeanflug über die Köpfe der Gäste hinweg.

Kurz: Hier herrscht immer die Superlative - und dann steckt der Teufel im Detail. Vielleicht ist es das, was ich an dieser Stadt so mag.

28
Jul
2010

Das Pub der 1000 Rätsel

Herr T. und Frau Frogg überschritten also die Grenze zum Londoner Stadteil Hackney, traditionellerweise als stolzes Arbeiterquartier bekannt. Was bisher geschah, könnt Ihr hier lesen. Zu unserer Rechten lag immer noch schwer und grün das Wasser des Grand Union Canal. Da verspürte Frau Frogg einen...äh, wie soll ich sagen... Druck auf der Blase. Nun, ich würde Euch damit nicht belästigen, wenn er nicht Ursache für eine aussergewöhnliche Entdeckung geworden wäre.

Wir wollten in einem der charmanten Cafés am Ufer einkehren. Aber mit den charmanten Cafés war es nun plötzlich vorbei. Ausgerechnet Hackney werden die Vorposten der Zivilisation am Kanal spärlich. Nichts als Hausboote und denkmalschützenswerte Lagerhäuser in verschiedenen Stadien des Verfalls.

Erst als wir nach einer halben Stunde oder so zum Victoria Park kamen, dachte ich, jetzt würde alles gut. Ich meine: Königin Victoria hat den Park in den 1850er-Jahren eingerichtet, um ein paar 10000 Menschenleben jährlich zu retten. So steht es jedenfalls auf dem Schild am Eingang des Parks. Die Lebensbedingungen in der Gegend müssen damals so schaurig gewesen sein, dass man mit ein bisschen Licht, Luft und englischem Rasen Tragödien verhindern konnte.

Der Park ist hübsch und dient auch heute noch der körperlichen Ertüchtigung.

Victoria Park, London

Der Rasen ist nur deshalb so gelb, weil ihm die Bewässerung fehlt: Es hatte seit Wochen nicht richtig geregnet in London.

Queen Victoria müsste doch auch an Notlagen wir jene von Frau Frogg gedacht haben, dachte Frau Frogg. Doch sie irrte sich.

Wir mussten noch einige Hundert Meter weiter noch Osten wandern, bis zum Mile End Park. Über den Mile End Park kann man nur sagen: Er weiss nicht, was er ist. Ein Park? Ein Experimentierfeld für Öko-Freaks? Das Ende von allem? Keine Ahnung. Und mitten im Mile End Park sahen wir auf einem verdorrten Stück Rasen etwas abseits des Weges das Hinterteil eines einsamen, baufälligen Hauses. Die Wände waren russig und das ganze Haus so düster, als sei Jack the Ripper hier Stammgast gewesen - und als sei es seither nie mehr renoviert worden. Eine blasse Tafel am Wegrand wies es als Pub aus. "Das war früher mal ein Pub!", sagte Frau Frogg und wollte schon weitergehen.

Aber Herr T. hatte Lunte gerochen und ging um das Haus herum. "Es ist offen!" rief er. Und tatsächlich: Die Ecktür zum Lokal stand offen, und von vorne sah es etwas freundlicher aus.

The Palm Tree Pub

Vor dem Eingang war sogar ein blitzsauberer, schwarzer Jaguar parkiert (unten rechts im Bild). Keine Ahnung, was sein Besitzer an diesem gottvergessenen Ort zu suchen hatte. Gehörte er etwa dem Wirt? War der Wirt ein berüchtigter Waffenhändler?

Das Pub heisst The Palm Tree, auch wenn weit und breit keine Palmen zu sehen sind. Es existiert seit grauer Vorzeit: seit 1609. Wahrscheinlich hat es die Häuserzeilen rundum im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs verloren. Es sieht so aus, als vermisse es sie immer noch. Innen präsentiert es sich mit den landesüblichen Pub-Verzierungen aus Spiegeln, goldenen Tapeten und violett gemusterten Plüschsesseln - alles so abgewetzt und verblasst, als hätte der Wirt sich und sein Lokal längst aufgegeben. Ausser uns waren nur noch ein East Ender mit Gipsfuss und sein Sohn da, beide im Trainingsanzug. Ich rechnete damit, dass bald ein gespenstischer Greis hinter dem Tresen auftauchen würde.

Doch weit gefehlt: Der Mann, der aus den Tiefen des alten Hauses auftauchte, war ein lächelnder, fitter Mittvierziger. Herr T. bestellte zwei Glas Cider, Frau Frogg eilte aufs stille Örtchen.

Dann staunten wir über die tiefen Getränkepreise des Lokals. Im Zentrum von London kosten zwei Glas Apfelwein gut das Doppelte.

Schliesslich entdeckte Herr T., dass über dem Tresen Dutzende Künstlerbilder hingen, nicht alle brandneu. Er fragte den Publican, ob die Künstler hier alle mal aufgetreten seien. "Aber sicher!", sagte der stolz. Und: "Das hier ist ein Jazzlokal! Nein, nein, sowas wie Rockmusik machen wir hier nicht!" Es war ihm deutlich anzusehen, dass er Rockmusik ein bisschen primitiv fand. "Aber jeden Freitag, Samstag und Sonntag haben wir hier Jazzmusik!" sagte er. Keine grossen Namen. Es klang eher so, als würden die drei gleichen Stamm-Musiker sich dreimal die Woche für die immergleiche Fan-Gemeinde von fünf Personen einfinden.

Aber der Wirt schien stolz und glücklich auf sein Lokal.

Es war einer der seltsamsten Orte, die ich je gesehen habe.

26
Jul
2010

London: Geheimtipp für Stadtwanderer

Jeder touristische Anfänger kennt den Camden-Market in London. Er ist malerisch, wild und oft überlaufen.


(Quelle: www.travelstay.com)

In seiner Mitte fliesst ein Kanal: Der Grand Union Canal. Fortgeschrittene Touristen verlassen den Markt gerne diesem Kanal entlang. Die meisten gehen westwärts. Dabei erleben sie Böötli-Herrlichkeit, den Anblick des Londoner Zoos von aussen und erreichen schliesslich das idyllische Little Venice.

Hardcore-Stadtwanderer dagegen gehen am Kanal gen Osten. Denn auf dieser Seite von London geht wirklich die Post ab: Hier gibts altes Industriegemäuer, ambitiöse, neue Stadtarchitektur, arm und reich und das pralle Leben. Schnell erreicht man den Bahnhof King's Cross. Dort statten Harry Potter-Fans kurz dem Gleis 9 3/4 einen Besuch ab. Hogwarts-Besucher stehen bereits Schlange für ein solches Bild.

platformpotter

Auf dem Rückweg zum Kanal sollte man einen wehmütigen Blick auf die Grossbaustelle beim Bahnhof werfen. Hier wird gerade eine linksgrüne Oase nach 25 Jahren erbittertem Widerstand niedergewalzt und neu bebaut.

Ab hier heisst das Ziel Limehouse Basin und liegt 8,5 Kilometer südöstlich an der Themse. Der Weg ist breit und gemütlich. Man teilt ihn mit Radfahrern, Joggern und Fussgängern. Probleme gibts erst in Islington. Dort verschwindet der Wasserlauf unversehens in einem Tunnel. Den Anschluss ans nächste Kanal-Stück zu finden, stellt auch für gute Kartenleser eine kleine Herausforderung dar. Unterwegs lockt der Stadtmarkt von Islington. Klein und auch ganz hübsch.

Danach wandert man den verwunschenen, alten Gärten von Islington entlang. Und weiter im Osten wirds dann eine Weile richtig trendy. Hier gibts auch hübsche Restaurants, die Frau Frogg und Herr T. aber links liegen liessen.

Grand Union Canal, London
(Bilder von Herrn T.)

Was sich exakt an der Grenze zum traditionell armen Stadtteil Hackney zu rächen begann. Aber diese Geschichte erzähle ich morgen oder übermorgen.

25
Jul
2010

Frage

Nehmen wir an, Du verreisst mit dem Flugzeug. Auf der Rückreise geht Deine Reisetasche verloren. Sie enthält:

- Deinen MP3-Player
- Deine bequemste Feierabend-Hose
- Zwei tolle Bücher, die Du Dir als Souvenir und Lesestoff gekauft hast
- Deine Identitätskarte
- Dein Bahn-Abo
- Deine hübsche Sommerbluse vom letzten Jahr
- Dein Portmonee mit 100 Schweizer Franken oder 70 Euro
- Deine Zahnbürste und Zahnpaste
- Dein Shampoo

Der Verlust welches dieser Gegenstände würde Dich am meisten schmerzen?

18
Jul
2010

Ich fliege

In letzter Zeit wurde hier viel über Grenzen diskutiert - und dass es manchmal besser ist, sie nicht zu überschreiten. Doch bald tue ich genau das Gegenteil: Ich verreise ins Ausland. Ich fliege sogar: Herr T. und ich verbringen ab Dienstag ein paar Tage nach London. Für Durchschnitts-Europäer ist das ja alles andere als ungewöhnlich. Aber Ihr wisst ja: Nach dieser Hörsturz-Geschichte vom letzten Herbst ist eine solche Reise für Frau Frogg etwas Bemerkenswertes.

Frau Frogg erklimmt sogar den Gipfel der sommerlichen Sorglosigkeit und wirft ihre finanziellen Bedenken in den Wind. Dem Schweizer Franken droht wegen der Euro-Krise sowieso eine Inflation. Also ist es klug, Geld für eine Traumreise zu verscherbeln, bevor es einem in den Fingern zerrinnt.

Den Entscheid für diese Reise mitbeeinflusst hat sicher der Umstand, dass ein Aufenthalt in London für mich seit eh und je eine Art Kurcharakter gehabt hat. Ich habe mich immer wohl gefühlt in dieser Stadt. In jungen Jahren habe ich viel Zeit dort verbracht. In den achtziger Jahren und neunziger Jahren schien sie mir hauptsächlich von linken Öko-Freaks bewohnt. Auch wimmelte es dort von liebenswerten, aber etwas ineffizienten Intellektuellen. Und ich erinnere mich noch gut an meine letzte Ankunft in London vor drei Jahren: Wir fuhren vom City Airport mit der Light Railway Richtung Westen. Morgenlicht streichelte die Spitzen der Hochhäuser am Canary Wharf, ich roch den Geruch von London: Russ und die Polster der Dockland Light Railway. Ich hörte englische Durchsagen. Plötzlich hatte ich das Gefühl, mehr Luft zum Atmen zu haben als zu Hause im Alpenland.

Letzteres ist eine touristische Illusion. Das Vereinigte Königreich ist im letzten Jahrzehnt ein hartes Land geworden. Der Typ des bulligen Sous-Chef mit anrasierter Glatze dominiert das Strassenbild. Er ist roh, rücksichtslos und gierig. Falls er intelligent ist, ist er zynisch. Eins aber ist er sicher: versoffen. Robbie Williams verkörpert für mich den Idealtyp des Briten der Nuller Jahre. Er wirkt facettenreich und ironisch, ein Chamäleon. Aber ich kann mich des Verdachtes nicht erwehren, dass es bei dieser Figur letztlich nur um Koks und Kohle geht. Ich habe den Kerl nie gemocht.

Für mich ist das hier die Hymne der britischen Nuller Jahre:



Die hat einen Zynismus, der mir gefällt. Der Typ im Song präsentiert sich als stolzes Stehaufmännchen: Die Zeile "I get knocked down, but I get up again" wird gefühlte drei Dutzend Mal wiederholt. Aber wahrscheinlich fällt er nur wegen seines immensen Alkoholkonsums überhaupt so oft auf die Schnauze: "He drinks a whisky drink / he drinks a wodka drink / he drinks a lager drink / he drinks a cyder drink, und so weiter". Und im Grunde sind seine besten Zeiten längst vorbei: "He sings a song that remind him of the good times / he sings a song that remind him of the better times." Kurz: Er ist eine traurige Gestalt.

Höchste Zeit, London an einer neuen Grenze zu erleben: Beim Schritt in ein neues Jahrzehnt!

17
Jul
2010

Top 5 Engadin: Kino Scuol

Dieser letzte Engadin-Tipp ist nicht mehrheitsfähig. Er ist allenfalls, vielleicht, vielleicht, kultig. Herr T. findet es nicht einmal kultig. Herr T. sagt, das Kino Scuol sei ein trauriger Ort. Ein Kino sollte ein Treffpunkt sein, findet er. Das Kino von Scuol sei kein Treffpunkt. In der Vorsaison hat man dort gute Chancen, den Saal für 300 Leute mit nur einem halben Dutzend müden Gestalten zu teilen. Was Herr T. nicht bedacht hat: Weil man so allein ist mit ihnen, kommt man dann doch unweigerlich ins Gespräch.

Aber nicht deswegen liebe ich dieses Kino. Ich liebe es, weil man hier Dörflichkeit, vergangene touristische Grandezza und die Idee Kino feiert. Die Idee Kino hat in meinen Augen eben wenig mit Treffpünktlichkeit zu tun. Sondern mehr mit der Flucht aus dem Dorf, mit Lichterglanz und grossen Gefühlen.

Doch vor dem Kino Scuol ist man noch mitten im Dorf, auf dem Pausenplatz des Schulhauses. Der Eingang zum Lichtspielhaus führt auch ins Schulgebäude.

Kino Scuol

Die Lampen im Torbogen sind unverkennbar Jugendstil-Leuchten. Es müssen wohlmeinende Lehrpersonen gewesen sein, die sie mit einer Holzarbeit verunziert haben.

In der Vorhalle springt einen zuerst die bäurische Strenge der Engadiner Vergangenheit an: Zur Linken hängt ein expressionistisches Winterbild. Im Vordergrund sieht man eine alte Bauernfrau auf einem Schlitten. Sie blickt mit unendlich bitterer Miene über ein Schneefeld auf ein Engadiner Dorf. Rechts dagegen winken schon die frivolen Vergnügungen des Kinos: Da steht das uralte Kassenhäuschen - am Schalter ein Plastik-Container mit rosaroten Süssigkeiten und ein Stapel der neuesten "Film demnächst"-Ausgabe.

Wir kauften eine Karte und betraten den Saal. Er ist reich mit Holzschnitzereien verziert. Man sollte früh hingehen. Damit man Zeit hat, sich ihn anzusehen, bevor die Lichter ausgehen.

Wir sahen "Crazy Heart". Kein schlechter Film, wenn man bedenkt, dass wir keine Wahl hatten. Es war der einzige Abend in unseren zwei Ferienwochen, in denen das Kino geöffnet war.



Die ältere Frau in der Reihe vor aus hatte als junge Frau im Tourismus-Büro gearbeitet. Der Saal diene auch als Austragungsort von Gemeindeversammlungen, erzählte sie uns. Und: "Früher war ich hier für die Programmierung zuständig. Als ich anfing, hatte ich ziemlichen Respekt vor dieser Arbeit. Aber man sagte mir: 'Wenn Du ein volles Haus willst, dann setz einfach 'Spiel mir das Lied vom Tod' aufs Programm. Das wirkt immer.' Das war auch so."

13
Jul
2010

Top 5 Engadin: Sent

Wie einige von Euch sicher bemerkt haben, musste ich nicht nur meine ehrgeizigen Berggängerpläne herunterfahren. Auch meine Berichterstattung über das Engadin wird jetzt zurückgestutzt. Warum, werde ich in Kürze verraten. Hier einstweilen die Fortsetzung meiner ehemaligen Top 10.

Als archetypisches Engadiner Dorf wird ja der ganzen Welt Guarda verkauft.

(Quelle: www.fotolink.ch)

Gewiss, Guarda ist hübsch. Aber Guarda kennt inzwischen jeder. Sogar die Japaner treiben sich dort oben herum.

Reizvoller finde ich persönlich Sent. Dort hat man sich vom Dörfli-Groove entfernt und der architektonischen Formensprache des Engadins ein geradezu kleinstädtisches Gepräge gegeben.


(Quelle: www.sent-online.ch)

Das ist eine Leistung, denn Sent hat lediglich rund 900 Einwohner, und der Dorfkern liegt auf 1430 Metern über Meer. Offenbar* liegt es daran, dass früher viele Leute von dort in die grossen Städte Europas emigrierten und als Zuckerbäcker ordentlich Geld verdienten. Wenn sie zurückkamen, leisteten sie sich ein richtig schönes Haus.

Eine echte Trouvaille ist auch das Verlorene Café. Ich nenne es das Verlorene Café, weil ich seinen Namen nicht notiert und es nicht einmal fotografiert habe. Ich bin lediglich einmal in Eile daran vorbeigegangen und habe es später vom Postauto aus gesehen. Ich war nicht mal drin. Aber das macht nichts: Es ist das Portal des Ladens, das den Frogg'schen Architekturpreis verdient hat. Es vereint Engadiner Sgraffito-Technik mit einem rauen Art Deco-Chic. Es liegt an der Hauptstrasse von Sent, eher am Westende. Falls jemand von Euch es fotografiert, schickt mir bitte eine Kopie von dem Bild!

Einstweilen bleibt das Verlorene Café für mich ein Grund, wieder einmal ins Engadin zu reisen.

* Quelle: Chasper Baumann: "Engadin", der tauglichste Reiseführer, den ich über die Region gefunden habe. Er ist ziemlich oberflächlich, dafür umfassend. Und er verzichtet auf die akademischen Schwurbeleien, die den fundierteren Werken über die Gegend anhaftet.

11
Jul
2010

Am Berg gescheitert

Nach dem Glückserlebnis im Val Plavna suchte ich die Herausforderung am Berg. Nichts geringeres als der Felsenweg im Val d'Uina sollte es am nächsten Tag werden.


(Bild Quelle www.bce.98.ch)

Natürlich hatte ich ein paar Bedenken. Ich meine: Ich fahre wegen meiner Schwindelanfälle nicht mehr Auto. Wie ich es mit Bergtouren halten soll, hat mir nie jemand gesagt. Ich habe zu fragen vergessen. Und wenn Du die Menière'schen Krankheit hast, rennt Dir nie einer nach, um Dir einen guten Ratschlag zu geben. Das weiss ich inzwischen.

Der Weg sei gut gesichert, versicherte mir Herr T. immerhin. Er sei schon als Kind dort oben gewesen.

Ob das stimmte, fand Frau Frogg nie heraus. Denn sie scheiterte schon am Aufstieg über einer Felswand. Der war nicht gut gesichert. Da gab es ein Feld mit Schneeresten zu überwinden. Dann kam ein schräger Holzbalken, der einzige Halt in einer Steilwand. Und kaum darüber hinweg gekraxelt, sah Frau Frogg schon die nächste Gefahrenzone ohne Extra-Sicherung für Meniere-Patientinnen.

Ich verspürte ein merkwürdiges Gefühl in der Magengrube. Und über Schwindel weiss ich inziwschen eins ganz sicher: Er wird schlimmer, wenn er unter keinen Umständen da sein sollte. Ich bestand auf Umkehr, und zwar unmissverständlich.

Herr T. war not amused. Ist er einmal losgezogen, so lässt er sich ungern so kurz vor dem Ziel stoppen. Aber man muss zu seiner Ehrenrettung sagen: Er verhielt sich wie ein Gentleman.

Auf dem Rückweg sahen wir zwei Mittfünfzigern mit Mountain-Bikes zu. Sie quälten unverzagt ihre Zweiräder jenen Pfad hoch, an dem ich so kläglich gescheitert war. "Pah! Zwei Dienstleistungs-Sklaven, die sich etwas beweisen müssen!" lästerte Frau Frogg.

Aber die Niederlage traf sie tief. Sie stieg nicht nur vom Berg hinunter, sie tauchte tief hinab in ein älteres Ich. Sie war wieder die pummelige Drittklässlerin, die unten stand, wenn die anderen oben auf der Kletterstange sassen. Die bei der Teamwahl zum Völkerball-Spiel bis zuletzt aussen vor blieb. Die einen Schrecken vor dem Reck hatte.

Der Weg zurück durchs Val d'Uina war lang und dunkel. Erst nach einer Weile sah ich wieder den Wald, den Bach, die Blumen. Es waren die Worte unseres Vermieters, des Pfarrers, die mich schliesslich trösteten. "Haben sie die Blumen gesehen?" hatte er gefragt. Und dann: "Man muss die Blumen nicht beim Namen kennen. Man muss sie nur sehen."

10
Jul
2010

Top 5 Engadin: Eis

Wer eine Abkühlung braucht, ist hier genau richtig. Hier gibts einen Beitrag über die vielleicht höchstgelegene Eisdiele Europas (1200 Meter über Meer). Wobei sie natürlich nicht Eis verkauft, sondern Glatsch*, und zwar gemäss eigenen Angaben solches aus melkfrischer, biologischer Alpenmilch. Sie heisst Glatscharia Balnot.



Das Lokal liegt am Stradun, der Hauptstrasse von Scuol. Es ist in einem Gebäude untergebracht, auf dem ein grosses, gellblaues "@" prangt. Vielleicht deshalb, weil die Glatscharia gleichzeitig das Internet-Café von Scuol ist. Es gibt zwar dort lediglich zwei Terminals. Aber seit der Erfindung des Laptop besuchen wahrscheinlich nur noch Menschen das Internet-Café, die es sich leisten können, ihren Arbeitsplatz nicht in die Ferien mitzunehmen. Herr T. und ich waren jedenfalls meist weit und breit die einzigen Nutzer. Aber das Angebot war ok: Die Preispolitik leger, die Tastaturen stets sauber (keine Selbstverständlichkeit!).

Ich verbrachte gerne viel Zeit in der Glatscharia - auch wenn es damals im Engadin so kalt war, dass darob ganz bestimmt der ganzen Welt der Appetit auf Eis verging. Doch das Lokal verströmt stets diesen wunderbaren Konditorei-Duft, der Frau Frogg noch in der Erinnerung ewig und drei Tage lang Appetit auf Latte Macchiato oder wenigstens das Schöggeli zum Verveine-Tee machen wird.

Und jetzt kommen wir doch noch zum Eis, das wir wegen des kalten Wetters erst gegen Ende der zweiten Woche probierten.

Klar, dass es ausgezeichnet war. Dazu bietet die Glatscharia Balnot einige ziemlich ausgefallene Aromen an: "Holunder" zum Beispiel (ein wenig wässrig), oder "Chili-Chocolat" (mein Favorit, aber nichts für Traditionalisten), "Marzipan" und dazu alles von "Ananas" über "Aprikose" (köstlich) bis "Vanille" und "Waldbeeren".

* rumansch für Glacé oder Eis, wie auch in halla da glatsch.

9
Jul
2010

Top 5 Engadin: Val Plavna

Das Unterengadin hat mindestens ein Dutzend Seitentäler. Von aussen betrachtet sehen sie alle gleich aus: Waldig. Bergig. Aber Herr T. fuhr an guten Aussichtspunkten gerne mit dem Zeigefinger durch die Gegend und deklinierte die Namen der Täler mit unüberhörbarer Begeisterung herunter: Da das Val Sinestra, dort das Val d'Uina, hier das Val Sowieso, dort das Val Soundso und eben das Val Plavna.

An unserem ersten Schönwettertag gab es für ihn kein Halten mehr: Er führte uns auf den Engadiner Touren-Klassiker vom Val Mingèr ins Val Plavna. Hier eine genaue Tourenbeschreibung.

Das Val Mingèr ist hübsch und voller Alpenveilchen. Es liegt im Nationalpark, und wir sahen in der Ferne Munggen* herumhoppeln und wahrscheinlich mindestens einen Bartgeier. Mindestens.

Aber der erste Hammer kam nach einem fast dreistündigen Aufstieg auf dem Pässchen Sur il Foss.

Mister T. sur il foss

Ich meine: Wenn man Frau Frogg früher solche Bilder zeigte, dann lächelte sie höflich und dachte: "Rotsockenhuberei!" Frau Frogg ist eine ausdauernde Spazierergängerin. Eine Hochgebirgs-Ziege ist sie nie gewesen. Aber das hier, das war irgendwie überwältigend. Diese Weite! Wildheit! Diese Ödnis! Dieses Licht!

Der Abstieg ins Val Plavna war ebenso überwältigend. Er führt einer riesigen, steil abfallenden Geröllhalde entlang. Für Menière-Patientinnen fahrlässig. Aber ich merkte es erst, als es zum Umkehren zu spät war. Ich steckte tapfer meine Stöcke ins Gestein und schritt weiter. Und ich war glücklich. Ich wusste plötzlich, dass diese Wanderung einen Soundtrack hat. Ich sang ihn leise vor mich hin - oder versuchte es wenigstens:



Am unteren Ende der Geröllhalde steht eine Alphütte. Dort hätte ich stundenlang an der Sonne sitzen und dem Mungg weit unten auf der Bergwiese vor mir zuschauen können. Aber wir hatten zu wenig Wasser, um hier lange herum zu hängen. Und uns standen noch drei Stunden Abstieg nach Tarasp bevor. Herr T. zückte seine Karte aus dem Jahr 1985 und zeigte mir, wo's langging.

Einen weiteren Kilometer talabwärts zeigte sich, dass seine Karte nicht mehr aktuell war: Vor uns lag eine gewaltige Steinwüste. Geschiebe hatte seinen hübschen Weg total zugedeckt. Zum Glück gab es eine neue Piste. Und im Zweifelsfall wiesen da eine Baumskulptur, dort ein Steinmannli oder ein Maultierdung-Haufen den Weg.

Mr. T. im Val Plavna

Wir brauchten eine Stunde, um die Wüste zu durchqueren. Nun befanden wir uns im Bärenland. Auf dem Hügel, der auf dem Bild Herrn T.s Hals schneidet, war Meister Petz am Tag zuvor gesichtet worden. Er hatte dort auf einer Alp ein Schaf gerissen. In einem Schneerest am Wegrand hielt Herr T. Ausschau nach Bärenspuren. Aber wir sahen weder das Tier noch seine Fussabdrücke.

* Murmeltiere
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diefrogg - 11. Jan, 15:20
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