31
Okt
2013

Ein schreckliches Tal


Soglio im Bergell, Oktober 2013.

Was habe ich Freunde vom Bergell schwärmen hören! "Ich war im Bergell", habe ich sie mit leuchtenden Augen sagen hören - als hätte dieses Tal im Südbünden sie zu besseren, zu glücklicheren Menschen gemacht.

Meine Erwartungen waren deshalb hoch, als wir Mitte Oktober im Postauto dem Malojapass entgegensteuerten, der von oben her ins Bergell führt. Ich stellte mir das Tal wie eine italienischere Fortsetzung des Oberengadins vor - licht, weit, golden.

Doch dann warf sich der Bus von der sonnigen Maloja-Passhöhe in einen wahren Abgrund. Serpentine um Serpentine tauchte er in immer grauere Wälder und immer dichteren Nebel. Mehrere hundert Meter führt die Strasse hinunter in ein enges, menschenleeres Tal mit ärmlichen Häusern. Das war das Bergell. Ich war entsetzt.

Das Tal ist immer ein Anziehungspunkt für Künstler gewesen. Alberto Giacometti wurde hier geboren, in eine Künstlerfamilie, und er kehrte immer wieder hierher zurück. Varlin lebte hier, Giovanni Segantini malte hier. Warum? Ich verstand es nicht.

"Warte nur, bis wir in Soglio sind. In Soglio wird alles besser", versprach Herr T. Soglio ist der Hauptort dieses Chrachens*. Er ist auf einem Hangvorsprung gebaut, wo er angeblich etwas mehr Licht bekommen soll als die Dörfer unten im Loch.

Ich sah nicht mehr Licht, sondern nur noch mehr Nebel und Düsternis. Und eine Verkaufsstelle für Soglio-Körperpflegeprodukte. Das besserte meine Laune auch nicht. Soglio-Seife ist für mich immer ein Synonym gewesen für Öko-Askese, für zu lange gelüftete Badezimmer im Winter.

Erst als wir im Palazzo Salis unsere Zimmer bezogen, begann ich den Ort zu mögen. Wenigstens ein bisschen. Der Palazzo ist ein historisches Hotel, ein einstiges Herrschaftshaus, ein Triumph aristokratischen Gestaltungswillens in dieser unwirtlichen Gegend. Was müssen die Bauern rundum geschuftet haben, um ihren Herren das hier alles bezahlen zu können!

Im Bad lag Soglio-Seife, aber es war anständig geheizt.

Wir bekamen das Zimmer, in dem Rilke gewohnt hat - ein Privileg, und ich mochte das Zimmer.

Doch die Kastanien-Tortellini zum Abendessen schmeckten nach Soglio-Seife, und ich fragte mich: Hatten sich alle meine Bekannten nur vom Abglanz der Bergeller Künstler blenden lassen? Von der Tatsache, dass das Bergell in gewissen Kreisen angesagt ist? Oder würde es auch mich noch bezaubern?

* Ein "Chrachen" ist in meiner Sprache ein tiefes, enges Tal - feucht, oft schattig in oft von weltabgewandten Menschen bewohnt.

P.S.: Ende September 2021 habe ich das Bergell nochmals besucht, diesmal bei schönem Wetter. Und rückblickend finde ich: Der Bericht hier ist unnötig unbarmherzig. Hier revidiere ich meine Meinung unter dem Titel "Das magische Tal".

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schneck08 - 31. Okt, 19:24

Als Kind war ich dort im Bergell öfters. Wir wanderten von Maloja aus über den Septimerpass (?) hoch über dem Tal Soglio entgegen. Nach Eis und Mahl ging es dann hinab ins Tal, um dort den Bus zurück ins Engadin zu nehmen. Mir hat es immer sehr gefallen, aber Nebel und Soglio-Seife gab es damals noch nicht... :)

diefrogg - 31. Okt, 19:41

Naja, mein Urteil...

über das Bergell ist natürlich ungerecht. Ich hatte viel zu hohe Erwartungen, und wir wurden vom Wetter wirklich nicht verwöhnt.

Und besonders ungerecht sind meine Spitzen gegen Soglio. Die haben es geschafft, dort unten über 30 Jahre lang Qualitätsprodukte herzustellen und in die ganze Schweiz zu exportieren. Das ist eine grosse Leistung. Dass ich in einigen Hinsichten ein Öko-Muffel bin - dafür können die ja nichts.

Das mit dem Septimerpass dürfte stimmen. Dann sind Sie ja schon als Kind über dieselbe Route gekommen wie die Römer anno dazumal!
schneck08 - 31. Okt, 19:57

Die Römer und sogar HANNIBAL mitsamt Elefanten (!), wie mir damals erwachsenenseits immer versichert wurde. Bei Nebel stelle ich mir Tal und Dorf aber auch in der Tat grauslig vor.
diefrogg - 31. Okt, 20:57

Ja, das hat man mir...

auch mehrmals gesagt. Wikipedia behauptet allerdings, er sei irgendwo über die französischen Alpen gestiegen.

Nur ein Elefant hat überlebt.

Es kann nicht der Septimer gewesen sein. Der letzte Elefant wäre sonst im Bergell an Platzangst gestorben gestorben ;)
speedhiking - 31. Okt, 20:46

Au wei!

Ein treuer Leser,
Ihr S.

diefrogg - 31. Okt, 21:00

Hannibal nahm wohl...

die Fitness-Route. Oder vielleicht sogar die Vital Route ;)
canela.wordpress - 1. Nov, 08:59

als mein ex-mann und ich unsere erste fehlgeburt betrauerten, gingen wir für ein paar tage ins bergell. wir fühlten uns beide erstarrt vor trauer. wir spazierten stundenlang stumm durch die gegend. es war fast sommer und die natur strotzte vor schönheit.

vor einem wald gab es ein grosses feld voller blumen und gräser. und oberhalb dieses feldes tanzten hunderte von farbigen schmetterlingen. wir liessen uns nieder und staunten. es roch nach leben.

da konnte ich endlich weinen. und reden.

dieses bild gebar so viel schönheit und hoffnung. die fassungslosigkeit, verursacht durch den verlust, welche sich in eine art starre und leere verkrustet hatte, verschwand zwar nicht ganz, doch ich fühlte mich wieder weicher.

gib dem bergell nochmals eine chance und kehre zurück, wenn es frühling oder sommer ist. ;-)

diefrogg - 1. Nov, 15:27

Danke für diesen Beitrag,...

canela! Das ist sehr berührend! Wie wir die Orte mögen, die uns die Tränendrüsen geöffnet haben! Bei mir ist es eine kleine Kapelle an einem kleinen See bei uns in der Nähe. Dort beweinte ich zum ersten Mal meinen - damals ziemlich üblen - Hörverlust. Ich gehe dort heute noch hin, wenn ich Hilfe von, naja,... sagen wir mal,... weiter oben, brauche.

Ja, vielleicht gebe ich dem Bergell nochmals eine Chance. Wie sagte doch der Maler Cuno Amiet über das Tal, das er 1896 besuchte: "Wenn es schön war, war es schön." Auch er soll vom Wetter nicht gerade verwöhnt worden sein.
Jossele - 2. Nov, 19:15

Also Segantini ist, um seine Bilder zu malen, fast immer rauf gegangen zum Licht, und selbiges wußte er zu schätzen, woran ein trübes Tal schon auch Ursache sein kann.

Ciacometti hat fast immer so dreingeschaut als wär er nicht viel ins Licht gekommen, was seinem Werk aber keinen Abbruch getan hat, es schaut halt anders aus.

Die Frage, die sich mir zu diesem Beitrag allerdings stellt, ist, wieso wissen sie, wie Soglio Seife schmeckt? ;-)

diefrogg - 3. Nov, 10:11

:))

Zu Giacometti: Ich habe mich auch irgendwann gefragt, ob Lichtlosigkeit im Tal zur Ausmergelung seiner Figuren geführt hat.

Und zu den wirklich nir ein bisschen seifigen Tortellini: Das wird für immer mein Geheimnis bleiben ;)
trox - 15. Dez, 23:21

Scharfes Bild, mit dem Schild "Heimarbeit Ausstellung". Ausserdem kommt mir zu Soglio immer Hermann Arbogast Burger in den Sinn (ja, Brenner heisst er offiziell) mit seinen schwülstigen Betrachtungen dazu, ob er nun Maler oder Schreiber werden soll. Das ist das Kapitel, das angeblich dem "Brenner Braniff" (http://www.cigarsinternational.com/cigars/12488/villiger-braniff/) gewidmet ist. Es macht das Tal auch nicht weniger schrecklich. Aber ich war da noch nie.

diefrogg - 16. Dez, 12:54

Wow!

Du hast an Arbogast gedacht! In Soglio habe ich einen Teil seiner Ausführungen über das Bergell gelesen. Du erinnerst Dich vielleicht, dass ich Herrn Burger in meiner Jugend gekannt habe, und dass er mir ein grosses, ein existenzielles Versprechen gegeben hat. Um sich nur zwei Monate später selber um die Ecke zu bringen.

Aber wenigstens bei meiner Einschätzung über das Bergell hat er mich nicht alleingelassen. Ich werde versuchen, den Text zu finden und ihn noch hier einzukopieren.
Stremic - 28. Mai, 22:18

Ich stimme nicht zu

Weil mir Soglio besonders am Herzen liegt, möchte ich unbedingt versuchen dein Eindruck zu verbessern! Ja, im Bergell sind die "Goldzeiten" vorbei. Na ja, das Bergell kämpft gegen die Entvölkerung und andere Probleme, einige Ställe und Häuser sind vom Zerfallen bedroht, andere werden teuer als (meist leere) Ferienwohnungen verkauft, die ältere Einheimische sind ausgestorben, die (wenige) andere trifft man selten (sie müssen natürlich zur Arbeit!). Manchmal scheinen die Dörfer am aussterben zu sein, und das ist die reine (im Sommer verborgene) Wahrheit, die vor allem im Winter oder beim schlechtem Wetter (du hattest Pech!) besonders auffällig wird...ABER, gib bitte Soglio eine zweite Chanche! Nimm dir Zeit! Der erste Eindruck ist nicht immer der richtige. Vielleicht am 1. August, wenn das Wetter meist schön ist und das Tal richtig "lebendig" wirkt. Versuch, ohne dir von anderen Gedanken ablenken zu lassen, diese Schönheit, diese Ruhe, diese Kraft zu spüren. Es kann doch nicht sein, dass Soglio ohne Grund als "Soglia del paradiso" oder "schönste Dorf der Schweiz" genannt wird (und und und), es könnte aber sein, dass dieses Dorf nicht für dich geeignet bist! Übrigens: ich bin gerade im Bergell, das Wetter ist wüst aber ich geniesse es trotzdem sehr! "Ruhe, Stille, schöne Aussicht, Sofa und eine Tasse Tee". Ich brauche nichts mehr...PS Ich warte gespannt auf dein zweites Bericht!

diefrogg - 29. Mai, 12:29

Liebe(r) Stremic

Danke für Deine korrigierenden Worte. Es war eine Kolumne, und in Kolumnen spitzt man halt oft etwas zu - der Widerspruch ist dann oft das beste an allem. Und ich hatte Pech, es ist wahr. Aber ich schliesse nicht aus, dass ich dem Bergell wieder mal eine Chance geben und dann begeistert sein werde.

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