kaputter sozialstaat

19
Dez
2013

Weihnachtliche Heuchelei

Zu Weihnachten entdecken die Menschen ihre wohltätige Ader. Spendenaktionen soweit das Auge reicht. Das Fernsehen blickt auf bedauernswerte Menschen, die den Winter auf dem Campingplatz verbringen. Im Weihnachtsmärchen teilt ein kleines Mädchen seine Weihnachtsguetzli mit einem obdachlosen Mann - "jööö, wie härzig"!* Zum Glück war wenigstens die Musik dazu ganz hinreissend.

Die Geldbeutel gehen auf. Der Rubel rollt wie eine Lawine.

Es fällt mir heuer zu ersten Mal auf, und es macht mich tobsüchtig: Das ganze Jahr über dürfen Herr und Frau Bürgerin mehr Härte gegen Asylbewerber fordern. Mehr Polizei, damit keine derangierten Randalierer sie stören. Sparmassnahmen bei den Sozialausgaben. Sparmassnahmen bei den Sozialversicherungen. Tiefere Steuern. Noch mehr Sparmassnahmen.

Aber zur Weihnachtszeit erhellen plötzlich tausend güldene Lichtlein die soziale Realität da draussen. "Sie wäre ja ganz dunkelgrau ohne mein Lichtlein", denken dann Herr und Frau Bürger. Sie haben keine Ahnung!

An Weihnachten brauchen Herr und Frau Bürger jemanden, den sie retten können. An Weihnachten wollen sie über ihre Güte gerührt sein.

Mir ist davon so schlecht wie von einer Überdosis Weihnachtsguetzli.

* Schweizerdeutsch für "so süss!"

5
Jan
2013

Schiesswütiger Invalider

Im hübschen Schweizer Bergdorf Daillon lief diese Woche ein 33-Jähriger Amok.



Nach der Tat in Daillon (Quelle: www.blick.ch)

Der Mann erschoss mit einem Karabiner drei Frauen und verletzte zwei Männer. Die Schweizer Presse machte grosses Aufhebens darum, dass das Mann bei der Invalidenversicherung (IV) eine Rente bezog. Die Boulevard-Zeitung Blick etwa liess gestern die "Stiefmutter" des Täters, Gisèle Zermatten, auf der Front zu Wort kommen: "Die Behörden sind schuld", sagt sie in fetten Lettern. Und weiter: "Florian B. (33) ist IV-Rentner und trinkt zu viel. 'Er bekam Geld fürs Nichtstun. Dabei hätte er problemlos arbeiten können'."

Als Person mit einer chronischen Krankheit damit potenzielle IV-Rentnerin finde ich diese Schlagzeile ungeheuer diskriminierend. Sie behauptet nicht nur, dass die Sozialversicherung Schuld am Amoklauf sei. Sie legt auch bedenklich nahe, dass es sich bei IV-Rentnern im Allgemeinen um faules, kriminelles Pack handle, das nicht mit Versicherungsgeldern durchgefüttert gehöre. Solche Schlagzeilen gestern sind ein Symptom für die hässliche Demontage, die unser reiches Land zurzeit mit einer an sich stolzen sozialen Errungenschaft betreibt.

Nun gut. Frau Zermattens Aussagen sollte man mit Vorsicht geniessen. Als "Stiefmutter" von Florian B. hat sie Interesse daran, Schuldige für den Amoklauf woanders als im nächsten Umfeld des Täters zu finden. Aber vielleicht sollte den Frau Zermattens dieses Landes trotzdem mal jemand erklären: Für die allermeisten Leute ist es ungeheuer demütigend, auf dem Arbeitsmarkt nicht (mehr) zu bestehen. Wenn das Gefühl, nichts nütze zu sein, auch mal in mörderische Wut umschlägt, ist das verwerflich und tragisch. Aber es ist gewiss nicht die Schuld der IV. Und es sagt nichts über andere IV-Rentner aus.

Ob Herr B. seine Rente zu Recht bezog, können wir als Aussenstehende schlicht nicht beurteilen. Es gibt ernste Behinderungen, die Stammtisch-Experten nicht sehen.

Edit 6. Januar: Die Sonntagszeitung lässt heute Bekannte des Täters zu Wort kommen. Ihre Aussagen belegen, dass der Täter seine Rente sehr zu recht bezog, etwa dies: B. habe Halluzinationen gehabt. Und, so ein Freund: "Seine Verwandten wollten, dass er sich zusammenreisst, obwohl bei ihm eine Schizophrenie diagnostiziert worden ist." Offenbar hat die IV sogar versucht, ihn wieder ins Arbeitsleben einzugleidern. Ein Versuch, der für B. in der psychiatrischen Klinik endete. Tatsächlich sind die Eingliederungsversuche der IV - vorsichtig ausgedrückt - nicht über jeden Zweifel erhaben. Sozialhilfe-Experte Walter Schmid fordert in der gleichen Ausgabe: "Wenn jemand aus psychischen Gründen eine IV-Rente bekommt, muss klar festgelegt werden, wer sich um die Person kümmert. Wir müssen verhindern, dass diese Menschen in totaler Isolation vereinsamen. Das kann ein Nährboden für solche Taten sein."

Bedenkenswert.

29
Jan
2012

Lieber reich und gesund

Die Lektüre der Sonntagspresse kann man sich heute sparen. Hingegen möchte ich vor allem meine Schweizer Leser auf einen Beitrag bei ivinfo aufmerksam machen. Der Bericht zeigt - zugespitzt formuliert: Wer in unserem Land krank wird und in eine Rentenabklärung gerät, lebt unter Umständen gefährlich. Dafür können sich Gutachter schamlos an ihm bereichern. Das ist besonders stossend, weil unsere Invalidenversicherung - für die wir alle zahlen - mit den Renten äusserst knausrig geworden ist.

Ein Freund von mir pflegte zu sagen: "Lieber reich und gesund als arm und krank".

Damals war ich noch jung und wollte nicht begreifen, dass es dieser lakonischen Aussage nichts hinzuzufügen gab. Ich glaubte, in einer gerechten Gesellschaft zu leben, die auch für ihre Kranken nach bestem Gewissen sorgte. Heute verstehe ich sie. Jeden einzelnen Buchstaben.

23
Feb
2011

Sozialstaat wird ausgehöhlt

Folgenden Beitrag habe ich bei Mia kopiert. Ich bin zwar ziemlich sicher, dass die Quote der Ständerätinnen und -räte unter meinen Lesern deutlich gegen Null tendiert. Doch der Beitrag ist nicht nur für Politiker lesenswert. Wir sind hierzulande dabei, die Glaubwürdigkeit unseres Sozialstaats auszuhölen. Man muss kein Politiker sein, um ein Interesse daran zu haben, das zu verhindern.

Sehr geehrter Herr Ständerat …
Sehr geehrte Frau Ständerätin …

In der kommenden Frühjahrssession werden Sie gemeinsam mit Ihren RatskollegInnen die Differenzbereinigung der IV-Revision 6a beraten. Ihre Entscheidungen werden nicht nur Auswirkungen auf die finanzielle Lage der Invalidenversicherung haben, sondern auch die Schicksale von mehreren zehntausend Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen beeinflussen. Dies scheint in einem Ratssaal voller gesunder und erfolgreicher Menschen offenbar ab und zu etwas vergessen zu gehen.

Mit grosser Besorgnis habe ich zur Kenntnis genommen, dass die SGK-S die umstrittene Schlussbestimmung über «die pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebilder» dem Ständerat zur Annahme empfiehlt. Diese Schlussbestimmung bedeutet eine unhaltbare Diskriminierung von Menschen mit einer psychischen Erkrankung, da sich die überwiegende Mehrheit der psychischen Störungen nicht auf eine nachweisbare organische Grundlage zurückführen lässt.

Auch Herrn Bundesrat Burkhalters mehrfache Beteuerungen während der Nationalratsdebatte zur IV-Revision 6a, dass schwere psychische Krankheiten selbstverständlich von Überprüfungen ausgenommen würden, vermochten nicht zu überzeugen. Es erscheint doch sehr unglaubwürdig, dass eine Bestimmung im Gesetz verankert werden soll, deren Wortlaut angeblich «nicht wörtlich zu nehmen sei».

Dass mit der Schlussbestimmung gezielt die gesetzliche Grundlage geschaffen werden soll, Menschen mit psychischen Erkrankungen generell von Leistungen der Invalidenversicherung auszuschliessen, ist inakzeptabel. Besonders stossend ist, dass offenbar ganz bewusst die Erkrankungen mit dem niedrigsten Sozialprestige, der höchsten Stigmatisierung und dem geringsten zu erwartenden Widerstand für massive Sparmassnahmen ausgewählt wurden.

Dass der gegenüber Menschen mit unsichtbaren Behinderungen seit Jahren polemisch geäusserte generelle Missbrauchsverdacht nun ohne jegliche Grundlage oder Beweise für dessen Wahrheitsgehalt Eingang in die Gesetzgebung finden soll, kann kaum als seriöse Gesetzesarbeit bezeichnet werden. Zudem wurde die Formulierung übereilt, unter Umgehung der Vernehmlassung und ohne vorherige Abklärung der Folgen eingefügt.

Aus diesen Gründen möchte ich Sie freundlich bitten, die vorgesehene Schlussbestimmung abzulehnen.

26
Apr
2010

Schlampen, schummeln

Hier ein interessanter Link zu meinem neuen Lieblingsthema "kaputter Sozialstaat".

Er zeigt: Schweizer Gutachter für die Sozialversicherungen schummeln und schlampen und verdienen ordentlich Geld - alles auf dem Buckel der Betroffenen.

Ihr werdet Euch fragen: Warum dieses Drama um die Gutachter? Wer keine Invalidenrente oder kein Geld von der Unfallversicherung bekommt, soll doch einfach zum Sozialamt gehen! Nun, unser Schweizer System sorgt dafür, dass der Run auf die IV für alle irgendwie Geschwächten attraktiv bleibt.

Denn wer die Gutachter-Hürden übersteht und eine IV-Rente erhält, erhält damit gewissermassen ein Gütesiegel. Es berechtigt ihn zum Bezug weiterer Gelder: So bekommt er eine Rente von seiner Pensionskasse (wie er sie normalerweise erst ab 65 bekäme). Damit macht er schon mal 60 Prozent seines ursprünglichen Einkommens. Hat er auch noch eine Lebensversicherung, so wird diese ihm wegen Erwerbsunfähigkeit ausgezahlt. Damit wird er zum Krösus unter den Bettlern.

Wer dagegen zum Sozialamt geht, bekommt von Staat das bare Existenzminimum - aber erst, wenn er sein ganzes Erspartes aufgebraucht hat. Zahlungen an die Lebensversicherung werden sistiert, er verliert also auch noch Geld, das er im Alter einmal gebrauchen könnte. Und wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen: Er gilt als Scheininvalider und damit als Abschaum.

In den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts war das alles noch kein Thema. Wer irgendwie kränkelte, bekam eine IV. Dann kam die erste grosse Krise. Arbeitsplätze wurden plötzlich knapp. Die Chefs reagierten, indem sie Hunderttausende in Frührente schickten: die Älteren in die Frühpensionierung, die Jüngeren bekamen schon wegen irgendeiner Kleinigkeit eine IV-Rente nachgeworfen. Doch anfangs der Nuller-Jahre setzte sich in diesem Land das Rechtsbürgertum durch und damit die Überzeugung: Unser Land ist ein armes Land, das nicht jedes hungrige Maul würdig stopfen kann - und vor allem nicht diejenigen der vielen Scheininvaliden.

Fortan stieg die Zahl der Scheininvaliden und man schreckt auch nicht davor zurück, sie gegeneinander auszuspielen: Wer als Schweizer mit einem chronischen Schmerzleiden 100prozentig arbeitsfähig gestempelt wird, schimpft über die Ausländer. Das habe ich schon oft erlebt. Denn, so Volkes Stimme: Die sind angeblich am Niedergang der IV schuld, weil sich ja so viele von ihnen eine Rente zu ertrügen versucht haben.

Man zeigt so gerne auf Scheininvalide, dass daneben eine Tatsache vollkommen übersehen wird: Es gibt in diesem Land Leute, für die die Arbeitswelt keinen Platz mehr hat. Wer zwei Stunden im Tag arbeiten kann, findet in diesem Land keine Stelle - egal ob ein Gutachter ihn für invalid befindet oder nicht. Und unsere Wirtschaft und unser Sozialsystem sind im Moment nicht in der Lage, solchen Menschen gegenüber Gerechtigkeit walten zu lassen. An dieser Tatsache ändern alle Schneckentänze der Gutachter, der IV, der Politiker nichts. Es ist eine unbequeme Tatsache.

Eine, die die Idee eines Grundeinkommens für alle plötzlich viel attraktiver aussehen.

11
Apr
2010

Kaputter Sozialstaat

Dies ist die Geschichte der Kellnerin Verena. Sie ist eine fiktive Figur, aber ihre Geschichte ist zusammengestückelt aus vielen einzelnen Geschichten, die ich in letzter Zeit gehört habe. Verena hat die Meniere'sche Krankheit. Alle paar Wochen hat sie einen Drehschwindel-Anfall. Sie kann sich dann nicht mehr auf den Beinen halten, ist auch schon hingefallen, oft erbricht sie während solcher Anfälle. Wenn ihr schwindlig war, fiel sie jeweils einen halben oder ganzen Tag bei der Arbeit aus - meistens ohne Vorwarnung.

Irgendwann hatte ihr Chef genug und entliess sie. Nicht nett, aber verständlich. Wer will schon eine unzuverlässige Kellnerin.

Die Sache hatte sich herumgesprochen, und sie fand keinen neuen Job.

Nun gibt es für solche Fälle in der Schweiz die so genannte Invalidenversicherung (IV). Meinen jedenfalls die meisten Schweizer und zahlen als Arbeitnehmer auch brav monatlich ihre Beiträge. Aber wer sich ein bisschen umhört, erfährt schnell: Die IV ist selber invalid, krank gespart von unseren Politikern. Mit dem Segen des Volkes, muss man fairerweise sagen, aber das macht es nicht besser.

Verena ging zur IV. Sie bat nicht um eine Rente. Sie wollte Beiträge für eine Umschulung. Sie wollte einen Beruf, bei dem sie sich ihre Zeit besser selber einteilen konnte.

"Tut uns leid", hiess es bei der IV, "Verena bräuchte eine Ausbildung, keine Umschulung. Und wir sind eine Umschulungs-Institution, keine Ausbildungs-Institution." Zu Deutsch: Wer schon keinen rechten Beruf hat, soll auch keinen lernen, wenn er erst krank ist.

Ihr Arzt sagt sarkastisch. "Also bitte! Wofür brauchen wir denn eine IV!? In der Schweiz wird doch heute niemand mehr krank!"

Falls Verena jemanden zum Anpumpen gefunden hat, prozessiert sie jetzt gegen die IV. Das tun viele. Falls nicht, wird sie zum Sozialfall.

Ich will nicht jammern. Gestern habe ich diesen Bericht im Tagesanzeiger-Magazin gelesen und muss sagen: Im Vergleich dazu gehts uns blendend. Auch wenn Verena zum Sozialfall wird: Frieren oder hungern muss sie nicht.

Aber der Mechanismus ist ein ähnlicher: Da stösst eine Gesellschaft eine ganze Gruppe von Menschen aus. Weil sie den falschen Pass haben. Oder weil sie krank sind. Man lässt sie verschwinden, vergisst sie und lässt es sich gut gehen. So einfach ist es.
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