28
Jul
2010

Das Pub der 1000 Rätsel

Herr T. und Frau Frogg überschritten also die Grenze zum Londoner Stadteil Hackney, traditionellerweise als stolzes Arbeiterquartier bekannt. Was bisher geschah, könnt Ihr hier lesen. Zu unserer Rechten lag immer noch schwer und grün das Wasser des Grand Union Canal. Da verspürte Frau Frogg einen...äh, wie soll ich sagen... Druck auf der Blase. Nun, ich würde Euch damit nicht belästigen, wenn er nicht Ursache für eine aussergewöhnliche Entdeckung geworden wäre.

Wir wollten in einem der charmanten Cafés am Ufer einkehren. Aber mit den charmanten Cafés war es nun plötzlich vorbei. Ausgerechnet Hackney werden die Vorposten der Zivilisation am Kanal spärlich. Nichts als Hausboote und denkmalschützenswerte Lagerhäuser in verschiedenen Stadien des Verfalls.

Erst als wir nach einer halben Stunde oder so zum Victoria Park kamen, dachte ich, jetzt würde alles gut. Ich meine: Königin Victoria hat den Park in den 1850er-Jahren eingerichtet, um ein paar 10000 Menschenleben jährlich zu retten. So steht es jedenfalls auf dem Schild am Eingang des Parks. Die Lebensbedingungen in der Gegend müssen damals so schaurig gewesen sein, dass man mit ein bisschen Licht, Luft und englischem Rasen Tragödien verhindern konnte.

Der Park ist hübsch und dient auch heute noch der körperlichen Ertüchtigung.

Victoria Park, London

Der Rasen ist nur deshalb so gelb, weil ihm die Bewässerung fehlt: Es hatte seit Wochen nicht richtig geregnet in London.

Queen Victoria müsste doch auch an Notlagen wir jene von Frau Frogg gedacht haben, dachte Frau Frogg. Doch sie irrte sich.

Wir mussten noch einige Hundert Meter weiter noch Osten wandern, bis zum Mile End Park. Über den Mile End Park kann man nur sagen: Er weiss nicht, was er ist. Ein Park? Ein Experimentierfeld für Öko-Freaks? Das Ende von allem? Keine Ahnung. Und mitten im Mile End Park sahen wir auf einem verdorrten Stück Rasen etwas abseits des Weges das Hinterteil eines einsamen, baufälligen Hauses. Die Wände waren russig und das ganze Haus so düster, als sei Jack the Ripper hier Stammgast gewesen - und als sei es seither nie mehr renoviert worden. Eine blasse Tafel am Wegrand wies es als Pub aus. "Das war früher mal ein Pub!", sagte Frau Frogg und wollte schon weitergehen.

Aber Herr T. hatte Lunte gerochen und ging um das Haus herum. "Es ist offen!" rief er. Und tatsächlich: Die Ecktür zum Lokal stand offen, und von vorne sah es etwas freundlicher aus.

The Palm Tree Pub

Vor dem Eingang war sogar ein blitzsauberer, schwarzer Jaguar parkiert (unten rechts im Bild). Keine Ahnung, was sein Besitzer an diesem gottvergessenen Ort zu suchen hatte. Gehörte er etwa dem Wirt? War der Wirt ein berüchtigter Waffenhändler?

Das Pub heisst The Palm Tree, auch wenn weit und breit keine Palmen zu sehen sind. Es existiert seit grauer Vorzeit: seit 1609. Wahrscheinlich hat es die Häuserzeilen rundum im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs verloren. Es sieht so aus, als vermisse es sie immer noch. Innen präsentiert es sich mit den landesüblichen Pub-Verzierungen aus Spiegeln, goldenen Tapeten und violett gemusterten Plüschsesseln - alles so abgewetzt und verblasst, als hätte der Wirt sich und sein Lokal längst aufgegeben. Ausser uns waren nur noch ein East Ender mit Gipsfuss und sein Sohn da, beide im Trainingsanzug. Ich rechnete damit, dass bald ein gespenstischer Greis hinter dem Tresen auftauchen würde.

Doch weit gefehlt: Der Mann, der aus den Tiefen des alten Hauses auftauchte, war ein lächelnder, fitter Mittvierziger. Herr T. bestellte zwei Glas Cider, Frau Frogg eilte aufs stille Örtchen.

Dann staunten wir über die tiefen Getränkepreise des Lokals. Im Zentrum von London kosten zwei Glas Apfelwein gut das Doppelte.

Schliesslich entdeckte Herr T., dass über dem Tresen Dutzende Künstlerbilder hingen, nicht alle brandneu. Er fragte den Publican, ob die Künstler hier alle mal aufgetreten seien. "Aber sicher!", sagte der stolz. Und: "Das hier ist ein Jazzlokal! Nein, nein, sowas wie Rockmusik machen wir hier nicht!" Es war ihm deutlich anzusehen, dass er Rockmusik ein bisschen primitiv fand. "Aber jeden Freitag, Samstag und Sonntag haben wir hier Jazzmusik!" sagte er. Keine grossen Namen. Es klang eher so, als würden die drei gleichen Stamm-Musiker sich dreimal die Woche für die immergleiche Fan-Gemeinde von fünf Personen einfinden.

Aber der Wirt schien stolz und glücklich auf sein Lokal.

Es war einer der seltsamsten Orte, die ich je gesehen habe.
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Journal einer Kussbereiten

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