auf reisen

10
Mrz
2011

Vom Luxushotel in den Gulag

Freitreppe zum Hotel Sonnenberg

Diese Treppe lässt vergangene Eleganz ahnen. Sie führt auf einen grossen, leeren Kiesplatz. Das war natürlich nicht immer so. Im 19. Jahrhundert war die Treppe den Zugang zu einem Luxushotel. Dem Hotel Sonnenberg. Reiche Damen und Herren genossen hier die hinreissende Aussicht auf die nahe Stadt Luzern. Oder vergnügten sich auf dem Golfplatz.

Aber im 20. Jahrhundert liefen die Geschäfte nicht mehr so gut.

Im Zweiten Weltkrieg machte das Hotel dicht. Das Haus wurde ein Flüchtlingslager für Frauen: Zu Kriegsende wohnten hier hauptsächlich Frauen aus der Sowjetunion. Sie waren als Zwangsarbeiterinnen nach Deutschland verschleppt worden und von dort ausgebüxt.

Das Leben im Hotel war hart, aber fair. Fröhlich war es nicht. Es gab genug zu essen, täglich zwei Appelle, und die Frauen arbeiteten. Der "auf äusserliche Musterhaftigkeit und demonstrativ begrenzte Zuwendung ausgerichtete Tagesrhythmus lässt die internierten Frauen deutlich spüren, dass sie halt doch keine 'Gäste' sind, sondern gegen den Willen des Staates 'hier Gestrandete', die jetzt eine verordnete Fürsorge erhalten", schreiben Jürg Stadelmann und Samantha Lottenbach*. Oh, ja. Das glaube ich. Jede Minute eines jeden Tages werden die Frauen erfahren haben, dass sie nicht willkommen waren. Und sowieso allein mit dem Entsetzen über das, was ihnen vorher passiert war. Eine harte Schale haben in der Schweiz heute noch sehr viele. Nicht wenige haben dazu auch einen harten Kern.

Die Mädchen aus der Sowjetunion blieben auch nach Kriegsende. Ihre Rückreise war Gegenstand eines diplomatischen Seilziehens zwischen Bern und Moskau, das Stadelmann und Lottenbach etwas vage beschreiben. Fakt scheint: Stalin wollte die Frauen zurück.

Sie reisten dann auch aus: am 13. September 1945. "Heute wissen wir, dass diese Reise ... für viele der ... Heimkehrer in den sibirischen Gulag und in den Tod führen sollte", schreiben Stadelmann und Lottenbach. "Sie fragen weshalb? Nun, die jungen Menschen stellten in Stalins Augen eine Gefahr dar: Immerhin waren sie über Monate hinweg mit dem Kapitalismus des Westens in Berührung gekommen." (S. 74)

Das Hotel verfiel nach dem Krieg. In den fünfziger Jahren durfte die Armee es übungshalber sprengen. Als ich 30 Jahre später wenige hundert Meter davon entfernt aufwuchs, hatte man es und seine Gäste vollkommen vergessen.

Neben dem Kiesplatz liegt heute ein Spielplatz. Dort spielen am Sonntag die Kinder aus den Vorortsquartieren.

* Im Buch "Sonnenberg: Hotel, Bahn, Flüchtlingsheim", Hrsg: Museum Bellpark, Kriens, 2002, S.66.

30
Jan
2011

Ich hasse Bergspitzen

Der Herr Kulturflaneur hat neuerdings eine Panorama-Obsession. Deshalb wollte er heute auf den Titlis. Ich setzte ihm keinen Widerstand entgegen. Ich hatte mich dieses Jahr erfolgreich gegen Skiferien gesträubt. Ich konnte ihm nicht alles vergällen. Und auf dem Titlis war ich noch nie gewesen. Die Reise würde mir gefallen.

Dachte ich. Doch ich erkannte schon im Zug nach Engelberg, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Frau Frogg, die Gedränge nicht mag, fand alle Waggons gerammelt voll vor. Kein Wunder: In den Niederungen hockt bei uns wieder mal der Hochnebel. Wer konnte, floh in die Berge. Zwar gab es diesmal keine nervötenden Alleinunterhalter im Zug. Die Fahrgäste verbarrikadierten sich still hinter ihren Sonntagszeitungen. Aber eng war es. Eng.

Und doch wurde unsere Reise auf den Titlis ein lehrreicher Ausflug. Ich weiss jetzt: Als der Humanist Petrarca 1336 eine Bergspitze erklomm, verschaffte er sich ein Abenteuer, ein neues Selbstbewusstsein und seiner Zeit wichtige Erkenntnisse. Das hat offensichtlich viele beeindruckt - mit Folgen, ob denen Petrarca die Haare zu Berge stehen würden: Wenn ein Mensch des Jahres 2011 eine Bergspitze erreicht, dann hat er sich bereits Klaustrophobie, eine Erkältung und einen leeren Geldbeutel* verschafft.

Wobei... vielleicht hasse ich gar nicht Bergspitzen, sondern Bergbahnen. Und wer auf den Titlis fährt, lernt gleich drei Bergbahnen kennen. In der ersten, bis Trübsee, war ich ja noch guten Mutes. Beim Umsteigen in die zweite steht man dann lange bei Gedränge an der Kälte und ich bekam kalte Füsse. Aber da hielt mich noch das Staunen über die unglaublichen Wimpern der Skifahrerin neben mir bei der Stange. Herr T. und ich stellten uns später vergnügt vor, wie die junge Schöne mit diesen Borsten ihre Sonnenbrille hochstemmt.

Später steigt man zum zweiten Mal um, in eine spektakuläre Gondel.

Sie ist weltberühmt: Sie dreht sich während der Fahrt um die eigene Achse und gewährt einen spektakulären Rundblick.

Doch als wir auf sie warteten, waren meine Füsse eisig. Ich dachte nicht an spektakuläre Ausblicke. Ich dachte an amputierte Zehen und das Beresina-Lied**.

Bei der Ankunft oben hörte ich ein deutsches Kind mit leidende Stimme seinen Vater fragen: "Können wir jetzt endlich skilaufen? Kommt jetzt keine Gondel mehr?" So ähnlich fühlte ich mich auch. Ich hätte mich gerne ein bisschen bewegt. Ich habe immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich eine Bergspitze erreiche, ohne einen Meter Steigung zu Fuss bewältigt zu haben.

Aber wir waren beide so durchfroren, dass wir erst mal ins Restaurant gingen und - ausgezeichnet - assen.

Erst danach stellte Frau Frogg mit Erleichterung fest, dass man auf dem Titlis auch ein paar Meter zu Fuss gehen kann. Wenn Herr T. gerade nicht fotografierte, spazierten wir also und unterhielten uns angeregt über Panoramen.

Ich muss sagen: Der Ausblick auf dem Titlis ist grandios. Das Dumme ist: Man sieht dort so viele Berggipfel. Und wenn der Kulturflaneur Berggipfel sieht, will er sie erkennen, benennen und mir zeigen. Alle. Einmal unterbrach er sich mitten im Satz und rief: "Schau mal, da drüben, der zerklüftete Gipfel! Das ist das Schärhorn!" Ich reckte den Hals aus dem Kragen, schaute und sah das Schärhorn. Da blies ein Windstoss mir eisige Gischt ins Gesicht und ich dachte: "Die Bedeutung von Bergspitzen wird einfach massiv überschätzt."

Das Merkwürdige ist: Rückblickend finde ich unseren Ausflug schon jetzt richtig grossartig.

* Eine Fahrt von Luzern auf den Titles (Halbtax) kostet 64 Franken.

** Für Nicht-Schweizer und junge Leute: Das Beresina-Lied erinnert an die Schweizer Soldaten, die mit Napoleon nach Russland zogen - und dort in Scharen den Kältetod starben oder Zehen und Finger der Kälte opferten.

21
Jan
2011

In der Bahn entjungfert

In letzter Zeit finde ich bahnfahren unerträglich.

- Es ärgert mich, wenn ein 16-jähriges Tusseli meinen Gesprächspartner T. von unserer Konversation ablenkt - weil es seiner Freundin am Handy unbedingt erzählen muss, wer es entjungfert hat. So laut, dass man sich fragt, wieso es überhaupt ein Handy braucht. Man könnte es in China hören.
- Ich kann es nicht ausstehen, wenn ich drei Tusselis zuhören muss, die von Zürich bis Baar ihre Handy-Töne vergleichen - lautes Gefurze inklusiv.
- Mich irritieren samstagnachmittägliche Trinkgelage in Nachbarabteilen.

Und damit jetzt niemand denkt, nur junge Leute würden mich ärgern:

- Ich mag es auch nicht, wenn ältere Herren einen ganzen Bahnwagen über die Schwächen des SBB-Fahrplans zwischen Rapperswil und Winterthur belehren.
- Oder wenn ältere Damen laut über die rasch fortschreitende Multiple Sklerose ihrer jetzt im Pflegeheim wohnenden Ex-Nachbarin lamentieren.
- Und ich will eigentlich nicht dabeisein, wenn der forsche, deutsche Manager im Nebenabteil die Lehrerin seiner Tochter durchs Handy anbrüllt.

Auch früher haben haben solche Gratis-Unterhalter ganze Zugwaggons geärgert. Aber das Handy hat der Verluderung der Sitten enormen Vorschub geleistet. Die meisten Leute wissen, dass ihre Mitpassagiere sie hören. Sie lärmen aus lauter Selbstgefälligkeit. Sie halten sich für interessant.

Mir reichts. Künftig bin ich militant. Ich werde auf jede Bahnfart meinen im Waffenladen erstandenen Peltor-Kopfhörer mitnehmen. Und ihn bei Quassel-Angriff demonstrativ aufsetzen.



Und ansonsten gilt:

15
Dez
2010

...und tschüss

Ich verabschiede mich hier wieder einmal für Tage. Ich will nach Deutschland, meine Freundin Helga besuchen.

Wenn meine Ohren mitmachen
Wenn es keine Wetter-Katastrophe gibt

Wenn... wenn...

Wenn alles klappt, bin ich erst nächste Woche wieder hier zu lesen.

5
Nov
2010

Als das Hochwasser kam

Heute, kurz nach 16 Uhr. Hinter uns leuchtet die Wiese smaragdgrün in der sinkenden Sonne. Neben uns ein Bahndamm. Hobby-Schafzüchter Kari (71) erzählt vom Hochwasser 2005: "Ich hätte nie gedacht, dass das Wasser so hoch kommen würde", sagt er, "Als es kam, stand ich in meinem Haus vor dem Kellerregal. Ich stapelte die Vorräte von den unteren auf die oberen Regale. Schliesslich stand mir das Wasser am Bauchnabel. Da wusste ich, dass ich aufhören musste. Ich ging die Treppe hoch. Hinter mir knallte das Wasser die Kellertür zu. Wäre ich noch drin gewesen, ich hätte sie nicht mehr aufbekommen. Dann wäre ich jetzt nicht hier."

Schwierig zu erklären, wie ich an diesen Tisch auf der Wiese gekommen bin. Marcel (55) schenkt mir eine zweite Tasse Kaffee ein. Der dritte Mann hier ist bestimmt bald 80. Sie sprechen den Dialekt vom Land. Gleich werden sie "die Zeitung" - solid bürgerlich - ein "linkes Blatt" schimpfen.

Ich gehöre nicht hierher. Ich sollte im Zug nach Solothurn sitzen. Ich sollte mit Herrn T. ins Theater. Er wollte, dass ich mitkomme. Emilia Galotti. Und, ja, ich wäre neugierig darauf gewesen, was man in diesen finsteren Zeiten aus dem Aufklärungs-Klassiker machen kann. Aber es gehört zu den Dingen, die die Krankheit an mir verändert haben: Ich habe eine Abneigung gegen abendliche Zugreisen. Nichts schlimmeres als ein Hörsturz in einem vollgepferchten Zug!

Und noch etwas ist anders als früher. Auch das verstehe ich nicht ganz. Aber egal. An einem Tag wie heute vergesse ich, dass ich einmal ein kulturinteressierter Mensch gewesen bin. Ich will nur noch hinaus an die Sonne. So zog ich heute Morgen die Wanderschuhe an und bestieg einen Vorstadt-Hügel, der den passenden Namen "Sonnenberg" trägt.

sonnnenberg_littau 002

An seinem hinteren Ende hört die Stadt auf, und das Land beginnt. Von hier stieg ich hinunter.

Lehn, Kriens, Switzerland

Kurz vor dem Vorstadt-Bahnhof kam ich am Waldrand mit einem Fremden ins Gespräch. Das war Marcel, und es stellte sich heraus, dass er einen pensionierten Berufskollegen von mir kannte. Hobby-Schafzüchter Kari eben. "Hey, er steht gleich da drüben auf der Wiese hinter dem Bahndamm!" sagte Marcel. So kam es, dass ich ein paar Dinge tat, die ich früher nie getan hätte. Ich stieg über einen Vorstadt-Bahndamm. Ich trank mit drei alten Männern auf einer Wiese Kaffee.

Kari erzählt weiter vom Hochwasser: "Auf der Wiese hier lag ein halber Meter Schlamm und Kies. Der Fluss hat alles überschwemmt." Das ist ziemlich erstaunlich. Denn der Fluss liegt zweihundert Meter weiter drüben, hinter dem Bahndamm. Und der ist einen Meter hoch. Aber eben: Es war ein gewaltiges Hochwasser. Der Kleine Fluss donnerte wie ein Tsunami über die Ebene. Kari erinnert sich noch genau. "Es war am 21. August, und das Wasser kam gegen neun Uhr abends."

Ich war seltsam wach, seltsam heiter. Vielleicht enthielt Marcels Kaffee mehr Koffein als ich gewohnt bin. Ein paarmal dachte ich an Emilia Galotti. War ich am richtigen Ort? Ich wusste es nicht.

9
Okt
2010

Unten grau, oben blau

Man sollte potenzielle Schweiz-Reisende nicht die Lust auf unser Land vergällen. Aber, sorry, ich kann es nicht lassen und erzähle es jetzt doch: Wieder einmal hat sich herbsttypisches Hochdruck-Wetter über unsere Städte gelegt. Es lässt die Schweizer Niederungen überall etwa so aussehen.

DSCN1860
(heute morgen, irgendwo im Mittelland)

Gut zu sehen auf dem Bild: der graue Schleier, der über allem liegt. Man nennt ihn Hochnebel. Manchmal bleibt er wochenlang liegen. Denn die Wetterlage, die ihn heranbringt, ist eine der Stabilsten, die es hier in der Gegend überhaupt gibt. "Sie hält sich pro Jahr ungefähr sechs Monate lang", behauptet mein Kollege Fröhlich. Aber das ist böswillig übertrieben. Denn gelegentlich zieht das Hoch ab. Dann hellt es einen halben Tag lang auf. Und dann folgen mehrere Tage Dauerregen oder -schneefall. Bis sich ein neues Hoch etabliert hat.

Man sollte sich dennoch nicht von einer Herbstreise in die Schweiz abhalten lassen. Denn zu dieser Jahreszeit kann man hierzulande Zeuge eines merkwürdigen Phänomens werden: einer stillen Völkerwanderung. Am Samstagmorgen schlafen Herr und Frau Schweizer nicht aus. Nein. Wer kann, steht beizeiten auf, zieht Sportbekleidung an und macht sich auf den Weg zur nächsten Bergbahn. Es zieht uns an solchen Tagen in die Höhe. In hellen Scharen. Wer Drängeleien nicht scheut, sollte es uns nachtun. Ab 1000 Metern über Meer erwarten ihn ein blaues Wunder und das Nebelmeer.

DSCN1875
(heute Mittag, Fräkmüntegg)

4
Okt
2010

Allein in den Bergen

Ich habe den Aufstieg geschafft. Vor mir liegt eine geradezu psychedelisch grüne Wiese. Mein Rücken ist bachnass, aber ein heisser Wind streicht mir über die Hände. Der Föhn. Es ist unglaublich blau hier oben, unglaublich gelb und weit weg liegt der Schnee auf den Berner Alpen wie Schlagrahm auf einer göttlichen Süssigkeit.

Ich bin auf der Alp Emmetti ob Lungern, 967 Meter über Meer, es ist etwa 14.15 Uhr.

Warum ich hierher gekommen bin? Nun, zwei Gründe.

1) Eines der beiden Kilos, das ich im letzten Jahr angesetzt habe, ärgert mich. Ich will es mir wegsporteln.

2) Dieser Marsch ist auch eine Etüde in Genügsamkeit. Noch kann ich es mir im Prinzip leisten, ins Ausland zu reisen. Aber ich weiss nicht wie lange noch. Ich will mir beweisen, dass man auch mit einem kleinen Budget Ausflüge machen kann, die sich wie eine richtige Reise anfühlen.

Ich bin von Giswil her auf einer Kiesstrasse hochgestiegen. Tief unter mir die Ebene der oberen Sarner Aa. Manchmal gelang es mir, meine Gedanken wie einen Vorhang vor meinen Augen wegzuziehen. Dann wurde mir bewusst, wie mächtig die Bäume rundum waren. Wie enorm sich das anfühlt: Frau Frogg mutterseelenallein in den Bergen.

Ich stieg die letzten Schritte bis zu den beiden Alphütten hinauf. Im Süden sah ich jetzt die drei Wetterhörner, düster umwölkt.


(Quelle: www.swissworld.ch; meine eigene Kamera macht gerade schlapp).

Die Alphütten liegen verlassen da. Leer. Ein Windstoss drischt über die Wiese. Plötzlich habe ich einen Anflug von Sennentuntschi-Horror. Mir fällt die Stelle in der Geschichte ein, an der die Sennen im Herbst von der Alp abziehen. Das lebend gewordene Puppenmonster ist bei der Hütte geblieben und hat einen der drei dabehalten. Als sich die beiden anderen noch einmal umblicken, sehen sie das Tuntschi auf dem Dach: Es zieht gerade ihrem Kollegen die Haut ab.

Nach dem Bettag soll man nicht mehr in die Berge gehen, sagt Herr T. Der Bettag war am Sonntag vor einer Woche. Ich habe hier nichts verloren. Ich mache, dass ich vom Berg hinunterkomme. Beim Abstieg wird mir schwindlig.

Unten im Tal spielt der Lungernsee Mini-Mittelmeer.


(Quelle: www.sengers.ch)

Der sonst so stille See hat eine Brandung und Schaumkrönchen. Der Föhn peitscht ihm über die Haut. Ein einsamer Surfer zischt pfeilschnell über den See.

Zu Hause sitzt Herr T. über seinen Computer gebeugt. "Was?! Auf 967 Metern warst Du?! Das ist doch gar kein Berg. Das ist bloss ein Hügel!"

25
Aug
2010

Bezaubernde Mädchen

Irgendwann sagte meine tamilische Nachbarin, sie gehe jetzt kochen. Damit mir nicht langweilig werde, wolle sie mir etwas zum Anschauen geben. Sie holte eine mit Silber-Ornamenten verzierte Kiste hervor. In der Kiste lag ein dickes Buch. "Das sind Bilder von meiner Tochter. Wir machen ein Fest, wenn ein Mädchen seine erste Periode bekommt. Und ein Buch mit Bildern."

In diesem Buch fand ich nun endlich den indischen Dekor, den ich bislang in ihrer Wohnung vergeblich gesucht hatte: Mahikas Tochter im purpurroten Sari, im rosaroten Sari, im himmelblauen Sari. Mit Armreifen, Silberschmuck, Ohrschmuck, Goldschmuck auf der Stirn. "Puberty Ceremony" stand in Zierschrift auf jeder dritten Seite, dazu der Vorname des Mädchens.

Etwas Vergleichbares habe ich auf YouTube gefunden:



Auch die Tochter meiner Nachbarin präsentierte sich mühelos als Schönheit: jeder Zentimeter blühende Jugend, werdende Dame, Eleganz, Haltung, Geheimnisse im Blick, Versprechen auf den schimmernden Lippen.

Ich weiss: Die Ethnologin nennt so ein Fest "Initiationsritus". Auf Internet-Foren wird viel über diese "Puberty Ceremonies" gelästert. Das sei etwas Altmodisches. Es gehe der Familie ursprünglich nur drum, den Nachbarn im Dorf klar zu machen, dass ein Mädchen jetzt im heiratsfähigen Alter sei. Ich konnte Mahikas Tochter nicht fragen, ob sie sich bei der Foto-Session wohl gefühlt habe. Ich betrachtete das Buch mit dem unbedarften Blick der Touristin.

Aber glaubt:mir: Ich kann wenigstens beurteilen, wie ein Mädchen aussieht, das sich an seiner Initiations-Zeremonie unwohl fühlt. So:



Das ist Fräulein Frogg an ihrer Firmung, anno 1978. Mit Schaudern denke ich an diese Frisur zurück! An diesen Blazer! Immer schien er entweder zu eng oder zu weit. Wie alles an mir. Ich weiss nicht, ob es an unserer katholischen Kultur lag. Die hätte ja jedem Köper im Grunde am liebsten einen schwarzen Sack übergeworfen. Oder daran, dass ich noch kurz zuvor ein pummeliges, unsportliches Kind gewesen war. Oder war meine Mutter schuld? Sie fand die neuen Ausbuchtungen an meinem Oberkörper etwas zu gross, irgendwie überhängend. Sie wusste nie, ob sie mich damit als Konkurrenz oder als Zielperson für strenge Diät-Massnahmen betrachten sollte*.

Ungefähr zu jener Zeit muss meine Mutter mich ins Beldona geschleppt und mir den ersten BH gekauft haben. "Freiheitsberaubung!" schrie das Herz von Fräulein Frogg. Und am ersten Quartierfeste mit Paartanz: "Patriarchaler Terror!" Wenn all das Frausein hiess, wollte ich keine Frau sein. Erst recht keine Dame!

War ich glücklich, als meine Haare wenige Jahre später lang und dick und dunkel durch die Gegend flatterten! War ich froh, als ich mir endlich ungetadelt ein Bauernhemd meines Vaters und ein Gilet aus dem Second-Hand-Laden anziehen konnte! Als ich mich in der Hardrock-Disco austoben konnte, wo mein Zorn seine Musik fand. Gott, war ich glücklich!

Ich weiss, dass viele Orte in Asien kein Hort der Frauen-Emanzipation sind. Ich weiss, dass ich nichts weiss über Sri Lanka. Ich weiss, dass ich ein gutes Leben habe. Aber mit dem Buch von Mahikas Tochter in der Hand überkam mich leise Wehmut über ein Verhältnis zur Weiblichkeit wie ich es nie gekannt habe.

* Die Frau rechts im Bild ist übrigens nicht meine Mutter, sondern meine Firmgotte: eine wirklich nette Frau, die überhaupt nichts für all das kann.

10
Aug
2010

London für Bücherwürmer

Ich weiss schon: Wer etwas auf sich hält, kauft seine Bücher in London bei Foyle's. Das ist jedem freigestellt. Soll auch jeder gerne stundenlang die Charing Cross Road hinauf und hinunter durch Dutzende Buchläden stolpern. Das hat bestimmt noch niemandem geschadet. In den Seitenstrassen der Charing Cross Road gibts übrigens hübsche Antiquariate. Jedem das Seine.

Frau Frogg macht's anders. Sie kauft ihre Bücher in London bei Waterstone's. Und zwar nicht bei irgendeinem Waterstone's. Sondern in jenem riesigen Laden an der Ecke Gower Street und Torrington Place.



Waterstone's ist ja sonst keine besonders gute Adresse. Von der Buchladen-Kette gibts in jedem Bahnhof eine Filiale. Überall sind die Läden cool und gepflegt. Doch mancherorts kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, Waterstone's würde statt Bücher lieber Fleisch verkaufen: mit einem Kilopreis und möglichst ohne über etwas so Umständliches wie Titel und Autoren nachzudenken.

Aber der Laden an der Gower Street ist anders. Er ist nicht nur ein Buchladen. Er ist eine Sehenswürdigkeit. Hier kommt die Londoner Manie, alles auf der Welt zu sammeln, zu katalogisieren, auszustellen und zu verkaufen zu einem fiebrigen Höhepunkt. Ein ganzes Gestell über iberische Geschichte, "radical politics" oder eine Wand über "gender studies" gefällig? Gibts im zweiten Stock. Die "Business"-Abteilung füllt einen ganzen Flügel, die Architektur auch. Und natürlich gibts drei Gestelle voller Titel über Rockmusik, eine ganze Wand voller Reiseliteratur und ein zwei Zimmer voller Krimis. Ein Schlaraffenland für Bücherwürmer.

Und für all jene, die sich nicht so für die Details iberischer Geschichte oder radikaler Politik interessieren, gibt's dann doch noch die Fleischtische im Erdgeschoss: die drei-für-den-Preis-von-zweien-Stapel mit der gerade gängigen Ware in Fiction und Non-Fiction.

Tja. Und nun wüsstet Ihr natürlich gern, wo ich mich eingedeckt habe. Aber das erzähle ich ein andermal.

4
Aug
2010

So traf ich eine Rock-Legende

Er sah genau so aus, wie für mich der Archetyp eines alten Herrn aus dem Norden Englands aussieht: Aussergewöhnlich gross und hager, einem Kleiderständer nicht unähnlich. Zuoberst eine Nase als Haken, an einem kantigen Schädel mit einer kantigen Frisur. Natürlich trug er einen schwarzen Anzug.

Ich sah ihn an einer Sonderausstellung im Victoria & Albert-Museum* in London. Wir waren mit unseren Freunden, den Hooligans hingegangen. Das Museum zeigte einen Raum voller Bilder, die der Fotograf Harry Goodwin als Promo-Material für die Sendung "Top of the Pops" gemacht hatte. In den Sechzigern und Siebzigern. Zum Beispiel das hier:


(Jimi Hendrix in Hochform)

Der alte Herr horchte an einer Tonspur und witzelte mit einem jungen Begleiter. Ich dachte noch: "Was der wohl hier macht?"

Zehn Minuten später lieferte mir Kumpel Eagle Nose die Antwort: Der alte Herr im schwarzen Anzug war Harry Goodwin selber. Eagle Nose hatte ihn auf einem der Bilder erkannt, die irgendwo in einer Ecke hingen.

"Du musst hingehen und ihm sagen, dass Du extra wegen dieser Ausstellung aus der Schweiz hierhergekommen bist!" drängte Eagle Nose. Aber für sowas ist Frau Frogg zu schüchtern. Ausserdem stimmte es nicht. Frau Frogg war nach London gekommen, weil sie London hören wollte. Hören und riechen vor allem. Und auch sehen, klar. Das mit den Fotos von Harry Goodwin war eher eine interessante Zugabe, wenn man schon mal ins Victoria & Albert ging.

Aber anyway: Eagle Nose ging dann hin und erzählte Goodwin, wir wären extra dieser Ausstellung wegen aus der Schweiz gekommen. So kam es, dass ich Herrn Goodwin die Hand schüttelte. Das war schon ein merkwürdiger Moment. An den Wänden konnte man sehen, dass Herr Goodwin seinerzeit die Hände einer Menge berühmter Leute geschüttelt haben muss. Jene von...

Mick Jagger und seinen Kollegen
John Lennon, Paul McCartney und ihren Kollegen

Jeff Beck und Jimmy Page, als sie noch Yardbirds waren
David Bowie
Brian Eno, als er bei Roxy Music spielte
Ike und Tina Turner

... nur so zum Beispiel.

Der alte Herr freute sich mächtig über den Rummel um seine Person. Er war 86 und gut im Schuss.

Später überlegte ich noch einen Moment lang, ob ich jetzt mir jetzt meine rechte Hand wirklich waschen solle. Ich habe es dann doch getan.

* Die schönste Grümpelkammer Europas, aber dazu vielleicht ein andermal
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