auf reisen

29
Okt
2013

Religionsstreit in der Metzgerei

Mitten im Sommer 2012 verstarb der Tigervater. Damals zogen wir für ein paar Tage bei seiner späten Liebe ein, der Serenissima. Tags gab es viel zu tun, und wir waren gefasst. Abends machten wir uns die Stunden leichter, indem wir einander Geschichten erzählten.

Die Serenissima ist im Puschlav aufgewachsen - und als wir neulich ein paar Tage dort unten waren, habe ich oft an sie gedacht.

Sie erzählte, dass es dort Katholiken und Protestanten gab - und dass die beiden Gruppen strikt getrennt lebten. "Wenn jemand redete, konnte man hören, ob er katholisch oder reformiert war. Die Katholiken sprachen Wörter anders aus als wir", sagte unsere protestantische Serenissima. Reformierte hätten nur bei Reformierten eingekauft und Katholiken nur bei Katholiken.

Aber dann habe ein protestantischer Metzger eine Katholikin geheiratet. Was für eine Unordnung! Viele Reformierte hätten gar nicht mehr bei ihm eingekauft.

Und dann habe er auch noch katholisch zu sprechen begonnen! Das sei das Letzte gewesen! Wie konnte er nur!

Sie könne sich nicht erinnern, was aus dem Paar geworden sei. Heute sei das ja alles Humbug. Aber wahrscheinlich hätten nur noch Katholiken bei ihm eingekauft.

25
Okt
2013

Das Haus der Totenschädel



Ossario von Poschiavo - Beinhaus von Puschlav

Die katholischen Alpentäler der Schweiz haben - oder hatten früher - einen sehr lebendigen Totenkult. An strategischen Stellen in den Dörfern standen so genannte Beinhäuser, auch Ossuarien genannt. Darin waren - dekorativ aufgereiht - die Totenschädel der lokalen Ahnen zu besichtigen.

Noch in den achtziger Jahren fanden wir im Calancatal in einem Studienlager vor jedem Dorf ein Beinhaus. Es lag jeweils am Dorfrand, direkt an der Hauptstrasse. Wir waren fast noch Teenager und völlig fasziniert. Aus unseren Städten und Vororten waren solche Bauten längst verschwunden.

Man hatte früher vielerorts Beinhäuser, weil in den Friedhöfen der Platz nicht für alle reichte. So nach 25 Jahren grub man die Toten aus, reinigte ihre Gebeine und verbrachte sie ins Ossuarium. Dort konnten sie auf engerem Raum ruhen.

Warum man sie so gut sichtbar präsentierte, weiss ich allerdings auch nicht. In jenen abgelegenen Bergtälern sah es so aus, als wolle an den Fremden damit sagen: "Seht her! Schon so viele unserer Vorfahren haben mit ihren Grinden* den Bergen hier getrotzt! Uns könnt ihr nichts anhaben."

Das Puschlav ist zwar keine strikt katholische Gegend (dazu später mehr). Aber der Hauptort Poschiavo besitzt ein solches Beinhaus - oder Italienisch: ossario. Es steht gleich neben der katholischen Kirche, mitten im Dorf - und es ist ein kleines architektonisches Schmuckstück, 1732 erbaut.

Die Bilder zwischen den Schädeln erinnern die Betrachterin mit den barocküblichen Motiven an ihre eigene Sterblichkeit und an die moralische Endabrechnung im Jenseits. Oder - je nachdem: Daran, dass der Tod auch die Reichen holt - und dass es sich gar nicht lohnt, sich ein Stück von ihrem Wohlstand noch hienieden zu holen. Ein Beispiel:



Schliesst Ihr nur Eure Paläste
so fest Ihr wollt
Denn ich werde eintreten wollen
durch Öffnungen, die ihr gar nicht kennt.
**

* "Grind": Saloppes schweizerdeutsches Wort für Kopf, auch für "grimmige Miene". Auch Fasnachtsmasken heissen "Grind".
** Bin nicht ganz sicher, ob der zweite Teil der Übersetzung stimmt und offen für Anregungen und Korrekturen

23
Okt
2013

Der Italiener

Im Bahnhof von St. Moritz sprach mich ein Mann auf Italienisch an. Ob das hier neben uns der Zug nach Tirano sei, fragte er.

Ich stellte zuerst einmal fest: Ich bekam keine Panik, und ich verstand ihn tiptop. Das ist nicht selbstverständlich. Eine Zeitlang brach mir sogar der kalte Schweiss aus, wenn jemand mich auf Englisch ansprach - dabei kann ich ziemlich gut Englisch. Aber damals hörte ich sehr schlecht. Zurzeit höre ich merklich besser. Und mittlerweile habe ich gelernt, die Panik als normale Begleiterscheinung der Schwerhörigkeit zu akzeptieren. Andere Schlappohren kennen sie auch.

Ich verstand den Mann sehr gut und legte ihm eine Antwort hin, die er offenbar verstand und strahlte innerlich wie ein Maikäfer. Ich war in der richtigen Verfassung für die Bündner Südtäler.

Nicht-Kenner der Schweiz müssen wissen: In den Bündner Südtälern erreicht die sprachliche Vielfalt der Schweiz ihren fast schon babylonischen Höhepunkt. Man denkt ja: Bündner Berge? Aha: Rätoromanisch! Aber weit gefehlt!

In St. Moritz jedenfalls sprachen im Jahr 2000 nur noch rund 20 Prozent der Einwohner das Latein der Bündner. Die anderen? Wahrscheinlich Schweizerdeutsch. Oder vielleicht auch Portugiesisch, Kosovarisch oder Tamilisch wie die schweizerischen Zimmermädchen, Küchenhilfen und LieferwagenfahrerInnen. Oder Hochdeutsch oder Slowakisch wie die Schweizer KellnerInnen. Oder Italienisch, Deutsch, Russisch oder Japanisch wie die Gäste, die der Region St. Moritz jährlich an die zwei Millionen Logiernächte bescheren.

Nur 25 Kilometer weiter südlich aber - im Poschiavo - sprechen die Einheimischen Italienisch. So kam es, dass wir zwei Tage später innert kurzer Zeit an zwei verschiedenen Orten vorbeifuhren, die auf Deutsch schlicht "Seeblick" heissen würden: Derjenige im Poschiavo hiess Miralago. Derjenige im oberhalb St. Moritz Guardalej. Nun gut: Man sieht nicht denselben See, und zwischen den beiden Seeblicken liegt immerhin ein 2300 Meter hoher Pass, die Bernina.

Um mich doch noch zu verunsichern, behauptete Herr T. steif und fest: "Ja, im Poschiavo sprechen sie zwar Italienisch. Aber sie sagen nicht 'buongiorno', sondern 'bundi'." Was eigentlich rätoromanisch wäre.

Ich hätte gerne nachgeprüft, ob Herr T. recht hatte. Aber das ging dann nicht. Denn die Leute im Poschiavo waren entweder selber Touristen und sagten "grüezi" oder "buongiorno". Oder sie sahen uns an, dass wir Touristen waren und sagten guten Tag" oder "buongiorno".

20
Okt
2013

Deutsche und Schweizer: der Unterschied

Einen zentralen Unterschied zwischen Schweizern und Deutschen begriff ich, als wir im Sommer in Sachsen waren. Er betrifft die Sprache. Bei ihrem Gebrauch schöpfen die Deutschen ihre Kraft aus der Einheitlichkeit. Hochdeutsch ist eine grosse Kultursprache. Sie bietet einen sicheren, tiefen Halt in den Strömungen der Vielfalt. Sie ist der Fixstern im sprachlichen Kosmos der Deutschen.

Das kann auch merkwürdige Auswirkungen haben. Meine deutsche Freundin Helga ist nur etwa 30 Kilometer von der französischen Grenze entfernt in einem durchaus bildungsnahen Haus aufgewachsen. Einmal hat sie mir erzählt: "Ich habe erst mit zehn Jahren begriffen: Meine Güte, es gibt Menschen, die wirklich eine andere Sprache als Deutsch sprechen!"

Für mich war das total anders: Ich bin in der Deutschschweiz aufgewachsen. Das Wissen, dass die Leute anderswo anders sprechen, habe ich mit der Muttermilch aufgesogen. Meine Eltern waren mässig gebildete Deutschschweizer. Aber sie hatten ihre Zeit "im Welschen" absolviert, und sie konnten Französisch und waren stolz darauf. Und ein paar Takte Italienisch und wenig Englisch.

Mit 16 sassen meine Schweizer Freundin und ich in Italien am Strand und übersetzten in einer Gruppe Teenager-Touristen zwischen Deutsch, Italienisch, Englisch und Französisch hin und her. Natürlich radebrechten wir. Aber das war egal. Es funktionierte.

Das ist für uns Schweizer die Realität: Es gibt keinen sicheren Halt. Es gibt nur die Vielfalt. Das Netz, an dem wir uns durch sie hindurchhangeln, bauen wir uns selber. Es ist unterschiedlich korrekt gebaut und unterschiedlich tragfähig. Aber etwas anderes gibt es nicht. Hochdeutsch ist ein Knoten in diesem Netz - ein wichtiger, weil Hochdeutsch in der Deutschschweiz Schrift- und Amtssprache ist. Und weil Fremdsprachige vernünftigerweise Hochdeutsch vor Züri- oder Walliserdeutsch lernen. Aber es ist ein Knoten. Nicht mehr und nicht weniger.

Wohl deshalb wird um unsere Dialekte ein solcher Kult gemacht: Wenn wir überhaupt eine sprachliche Heimat haben, dann sind es unsere Dialekte. Aber gerade die Dialekte sind ja gelebte Vielfalt. Wir schöpfen unsere Kraft aus der Vielfalt, nicht aus der Einheitlichkeit.

Das soll kein Urteil sein. Ich sage nicht, dass die Schweizer oder die Deutschen besser sind. Es ist lediglich eine Feststellung.

Und jetzt rede ich nur von uns Deutschschweizern. Eine ganz neue Dimension sprachlicher Vielfalt erlebten wir auf unserer Reise in die Schweizer Südtäler - aber dazu später mehr.

16
Okt
2013

Spektakuläre Reise



Das Bild zeigt den Lago di Poschiavo - und im Hintergrund wolkenumflort - wahrscheinlich - den Piz Bernina. Ich machte es am Morgen nach unserer ersten Tagreise durch die südöstliche Schweiz. Die Reise selber war - sagen wir mal - durchzogen gewesen. Ich hatte sie mir als eine Art Landschafts-Kino vorgestellt. Aber sie war dann doch anders.

Luzern - Thalwil - Chur: Das Mittelland ist grau verhangen. Wenig spektakulär. Ich vertiefe mich in eine Reportage in der SonntagsZeitung über den Krieg in Syrien (Ausgabe vom 6. Oktober). Dort würden wahrscheinlich auch Schweizer Dschihadisten kämpfen, hiess es - wobei der Reporter keinen gesehen und mit keinem gesprochen hatte. Alles Hörensagen. Der Text liest sich eher wie "Ali Baba und die 40 Räuber" als wie eine ernst zu nehmende Repo.

In Chur beginnt mir die Reise Spass zu machen. Wir steigen in den Speisewagen der Rhätischen Bahnen, ein nostalgisch anmutendes Modell.


(Quelle: kulturflaneurfoto)

Als erstes fällt mir im Waggon die Kellnerin auf. Sie ist Asiatin und hat eine Haut wie Porzellan und einen zarten, fremdländischen Chic. Erst wenn man genauer hinsieht, ist da etwas Kraftvolles, fast Vulgäres, das mich an meine deutsche Freundin Helga erinnert. Sie spricht Deutsch mit einem dicken Akzent, und ich wüsste gern, woher sie stammt.

Im Domleschg serviert sie - wie in der Werbung angekündigt - den Salat. Und: Draussen verschwinden die Wolken.


(Quelle: http://bergfex.at)

Sonne und blauer Himmer über alten Burgen und grünen Tälern - ich bin begeistert.

Dann wird es wieder grau, und bei Bergün fallen mich düstere Erinnerungen an: Die Skiferien, die wir 2006 hier verbrachten, waren nicht meine besten. Ich musste mich damals auch mit dem Gedanken abfinden, dass ich auf dem linken Ohr stark schwerhörig würde - das Schlimmste daran war die Erkenntnis, dass alles Hörenwollen, überhaupt alles Wollen, nichts nützte. Über die Erkrankung meines rechten Ohrs wusste ich damals noch nichts.

Ich verdränge die Erinnerung, indem ich esse und mich dem Komfort des Fahrens hingebe - diesem Gefühl der Sicherheit und des Aufgehobenseins. Als wäre ich in Watte verpackt. Allein dafür hätte sich die Reise gelohnt.

Kurz nach den Kehrtunnels am Alubulapass traue ich mich endlich, die Serviererin zu fragen, woher sie komme. "Aus Tibet", sagt sie. Das wirft so viele neue Fragen auf, dass es Herrn T. und mir die Sprache verschlägt.

In St. Moritz haben wir fast eine Stunde Aufenthalt. Ich gehe kurz spazieren. An diesem Tag ist der mondäne Bergkurort nichts als ein Haufen düsterer Steine und Finanzberater-Plakate. Doch halt: Da, hinter mir, hoppelt sorglos ein dunkles Eichhörnchen über die Hauptstrasse zum Dorf!

Gebührend begeistert bin ich dann doch noch: von der Bernina-Strecke.

Pontresina: ein landschaftliches Bijou in Engadinger Herbstfarben!
Der Berninapass: eine einzigartige Mondlandschaft!

Zwei stille Italiener in unserem Waggon fotografieren wie verrückt. Auch der Kulturflaneur fotografiert.



Doch auch ihm gelingt es nur annähernd, das Spektakel auf ein gelungenes Bild zu bannen.

Die Abfahrt nach Poschiavo: Schwindelerregend!

Zum Schwindelgefühl trugen auch die sechs gut situierten Schweizer Rentner bei, die kurz nach der Passhöhe zustiegen. Sie füllen den Waggon mit Schnapsgeruch und reden so laut, dass sie wahrscheinlich gegen helvetische Lärmschutzgesetze verstossen. Sicher aber müssen wir uns für sie bei unseren italienischen Mitfahrern schämen.

Der Lago di Poschiavo: eine Entdeckung!

Am unteren Ende des Sees, in Miralago, lassen wir unsere Mitfahrer zurück und steigen aus. Die Frau aus Italien blinzelte mir zum Abschied verschwörerisch zu.

12
Okt
2013

Die Schweiz im Zug


Der Morteratsch-Gletscher, den ich am 8. Oktober von der Berninabahn aus fotografierte.

Herr T. und ich hatten nochmals Gelegenheit, kurz zu verreisen - und ich wollte meinen labilen Ohren nicht die Strapazen einer Flugreise zumuten. Deshalb entschlossen wir uns zu einer Tour de Suisse. Es gibt zurzeit bei den Schweizerischen Bundesbahnen Viertages-Ferienpässe durch die ganze Schweiz für sagenhafte 149 Franken.

Wir bauten auch Ruhetage ein und logierten komfortabel. Ich nahm sogar mehr Kleider als sonst und etwas diskreten Schmuck mit. Ich wollte auf einer solchen Reise nicht wie ein Freak aussehen. Und essen muss man ja auch noch - es war also nicht in jeder Hinsicht eine Schnäppchenreise. Ich fürchte, wir haben in diesen sechs Tagen mehr ausgegeben als in zweieinhalb Wochen Ostdeutschland im Sommer. Wer daraus schliesst, dass meine krankheitsbedingten Geldsorgen ausgestanden sind, irrt sich leider. Die Aussichten sind wieder einmal unsicher.

Aber noch kann ich mir ein solches Reisli leisten. Und es sind ja ohnehin unsichere Zeiten. Die Amerikaner wollen die Weltwirtschaft in den Abgrund stürzen. In Syrien sterben die Menschen. Es droht eine Klimakatastrophe, und andere Leute haben auch Sorgen und leben trotzdem.

Also gönnten wir uns den Luxus und machten eine den Geist bereichernde, manchmal auch befremdliche Exkursion auf den Touristenpfaden unseres eigenen Landes.

Die Route:

6. Oktober: Luzern - Thalwil - Chur - St. Moritz - Berninapass - Poschiavo / Puschlav - Miralago

8. Oktober: Miralago - Berninapass - St. Moritz - Maloja - Soglio (Bergell)

10. Oktober: Soglio - Chiavenna - Comersee - Porlezza - Lugano

12. Oktober: Lugano - Bellinzona - Arth Goldau - Luzern



Reportagen folgen!

25
Sep
2013

Im Fitness-Center

Neulich habe ich mir ein Schnupperabo fürs Fitness-Center gekauft. Ich weiss: Das passt nicht zu mir. Ich bin ja eher von der Sport-ist-Mord-Fraktion. Aber ich habe etwas Gewicht zugelegt. Und man wird nicht jünger: Wegen ein paar Zipperlein in den Beinen bringe ich es mit Marschieren nicht mehr so leicht weg.

Also liess ich mich in die Geheimnisse der Beinpresse und anderer Folterinstrumente einweihen.


(www.cardiofitness.de)

Der Coach erklärte mir, weshalb man bei fleissigem Gebrauch der Beinpresse abnimmt: "Man strengt damit die grössten Muskeln im Körper an, vorne, in den Beinen. Die füllen sich nachher wieder auf." Womit? Ich war von der Komplexität des Apparats überfordert und vergass zu fragen.

Erst beim Ausdauertraining am Rudergerät schaute ich mich um. Ich sah Menschen, die ihre Übungen absolvierten. Sie erinnerten mich an Muslime in der Moschee, die sich in regelmässigen Zeitabständen gen Mekka zu Boden werfen. Die Menschen auf ihren Sportgeräten verrichten Rituale ohne Gott. Ohne Sinn? Ich weiss es nicht.

Ich weiss nur: Ich langweilte mich. Auf einem Bildschirm lief EuroSport. Gäääähn! Da erinnerte ich mich an einen Trick, den der Europa-Wanderer Patrick Leigh Fermor auf seinen ödesten Wanderstrecken anwandte: Er sagte sich alles auf, was er auswendig konnte. Das machte ich auch. Das heisst: Das Vaterunser liess ich aus, dafür kann ich einen Psalm und einen halben Hamlet-Monolog. Am besten passte eine lyrische Studie über die Sinnlosigkeit des Amerikaners James Tate namens The Blue Booby.

Die kann ich auch nur bis zur Hälfte. Leigh kam mit dem Aufsagen von Versen durch die ganze Oberrheinische Tiefebene. Ich kam nur bis zur Minute 11.

Ich machte dann doch noch ohne Gedichte weiter bis Minute 15. Auf dem Nachhauseweg sah ich ständig dieses Bild vor meinem geistigen Auge:



Jetzt ahne ich, womit sich die Muskeln in meinen Beinen auffüllen wollten: mit Streuselkuchen.

16
Aug
2013

Adieu sächsische Schweiz!



Das Bild hier habe ich Mitte Juni auf der Bastei in der sächsischen Schweiz gemacht. Die merkwürdige Stange auf dem Felsen ist eine Wetterfahne in Gestalt eines Mönchs - vom Wind zum magersüchtigen Sportsfreund verdünnt.

Ich könnte noch wochenlang von der sächsischen Schweiz erzählen. Ich könnte von der Bastei und Pirna und den Dampfschiffen erzählen. Ich könnte berichten, wie ich im unwetterversehrten Bad Schandau vergeblich ein Eis zu kaufen versuchte. Touristische Frivolitäten haben in solchen Zeiten ihre Grenzen, musste ich lernen. Disziplin aber muss auch in solchen Zeiten sein: In Pirna verlängerten die Angestellten der Stadtbibliothek noch 5000 Leihfristen, bevor das grosse Wasser kam. Das lasen wir in der Sächsischen Zeitung.

Überhaupt: die Sächsische Zeitung. Sie wurde zu unserem Leib- und Magenblatt. Die Kioskfrau an der Ecke rollte sie jeweils für Herrn T. zusammen, noch ehe er "Guten Morgen" gesagt hatte. Die Sächsische Zeitung erklärte uns auch, dass ein harmloser Fluss namens Potatschke jene Wohnung in Königstein verschlammt hatte, die wir dann nie sahen. Als die Elbe in den Städtchen stand, blieb die Potatschke klein und harmlos. Aber das Hagelgewitter danach brachte ihr so viel Dreck, dass sie ihren eigenen Kanal zuschlammte. Eine weitere Katastrophe für Königstein.

Überhaupt: das Grosse Wasser. Wir bemühten uns ja, ihm nicht zu grosse Aufmerksamkeit zu schenken. Aber als wir am 26. Juni wieder in die Schweiz kamen, ertappte ich meine Augen bei einer merkwürdigen Aktivität: Auf der Zugfahrt nach Luzern suchten sie die Landschaft draussen automatisch nach den Spuren eines Hochwassers ab. Ich musste mich wieder daran gewöhnen, einfach ins Land zu blicken und zu sehen: Es ist alles heil und ganz. Gott sei Dank.

Und so weiter.

Aber draussen reifen die Brombeeren an den Büschen - ein untrügliches Zeichen, dass der Sommer bald vorbei ist. Zeit für einen Themenwechsel.

Deshalb adieu, sächsische Schweiz! Möge die Wetterfahne auf dem Mönchstein dem Wind zuflüstern, dass er uns ein andermal wieder herbringen soll!

10
Aug
2013

Das Schloss im Osten

In Ostdeutschland hauen einem die Touristiker ja nicht gleich die unappetitlichen Details aus der Zeit der sowjetischen Herrschaft um die Ohren. In Tschechien ist das anders - oder wenigstens im Schloss Děčín .



Das noble Haus ist das touristische Bijou der Stadt. Man kann es mit Audioguides besichtigen - und die sagen es Deutsch und deutlich: Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Schloss ein Stützpunkt für sowjetische Soldaten. Und die sollen sich barbarisch benommen haben. Die edel gearbeiteten Holztüren etwa hätten sie gerne als Zielscheiben beim Messerwerfen benutzt - und zum Zigarettenausdrücken. Aber die Tschechen haben das Schloss seither schön herausgeputzt.



Es gehörte einst den Herren von Thun aus Österreich, über die im Schloss niemand etwas Schlechtes sagt. Auf den westlichen Betrachter wirkt der mächtige Bau ohnehin nicht westlich - sondern ausgesprochen slawisch. Es beginnt schon bei der Auffahrt.



Noch bei keinem westeuropäischen Schloss habe ich eine Zufahrt ohne Aussicht auf die Umgebung gesehen. "Was soll denn das?!" fragte sich Frau Frogg. Die Auffahrt ist tatsächlich etwas Besonderes. Sie hat sogar einen Namen: Sie heisst "die lange Fahrt" - oder "dlouha jizda". Erst später habe ich gelesen: Die Architekten wandten einen Trick an, um sie länger scheinen zu lassen als sie wirklich war. Die Bögen auf der Seite werden immer niedriger. Man sieht es auf dem Bild zuoberst.

Architektonisch ist die "Lange Fahrt" also mit der potemkinschen Treppe in Odessa verwandt.


(Quelle: Wikimedia)

Die Treppe ist unten viel breiter als oben. So lässt sie die Stadt oben viel mächtiger aussehen als sie wirklich ist. Im Schloss Děčín dagegen diente der Trick zur Vergrösserung des Ruhms derer von Thun.

Vor der Führung besichtigten wir auch die Waffen- und die Gemäldesammlung des Hauses. Dabei folgt uns eine Aufseherin auf Schritt und Tritt. Sie achtete freundlich, aber sehr bestimmt darauf, dass wir die Filzpantoffeln anbehielten, die den Holzboden schützen sollen. Wir waren dort die einzigen Besucher - und die Szene entbehrte nicht einer gewissen Beklemmung und Komik. Ich muss gestehen: Ich fühlte mich wie Roman Polanski im Schloss des Grafen Dracula in Tanz der Vampire.

Dafür war ich restlos hingerissen vom Rosengarten.

4
Aug
2013

Der eiserne Vorhang

Schon kurz nach Ende der Flut donnerten wieder endlose Güterzüge durch die sächsische Schweiz. Sie brachten Autos aus den Fabriken Tschechiens in die Länder Westeuropas.



Autos, soweit das Auge reicht. Tschechien ist einer der grössten Autohersteller Europas. Wenn ich solche Bilder sehe, dann bekomme ich Fernweh. "Komm, wir gehen nach Tschechien", sagte ich zu Herrn T.

Es sah ganz leicht aus: Die S1 fuhr von unserem Bahnhof in Bad Schandau in 40 Minuten über die Grenze und bis in die Kleinstadt Děčín. Alle Durchsagen im Zug waren zweisprachig - Deutsch und Tschechisch. "Und Geld wechseln können wir, wenn wir dort sind", sagte ich. Am 21. Juni fuhren wir.

Wir erwarteten ein dynamisches Städtchen an der Grenze zu Westeuropa. Wir fanden eine Stadt in stiller Verzweiflung. Nirgendwo habe ich mich je deplatzierter gefühlt als an jenem Tag im Bahnhof von Děčín.

Herr T. suchte einen Stadtplan, aber niemand half ihm weiter. Hier, am Ende der S1 aus Dresden, konnte schlicht niemand Deutsch. Ich suchte dringendst ein stilles Örtchen und fand es schliesslich auch. Eine Wärterin wachte am Eingang. Sie wies resolut auf ein Schildchen: Darauf stand "60 Kronen". Das sind etwa 2.50 Euro. Ich hätte ihr 3 Euro gegeben, aber das wollte sie nicht. Sie machte ein Gesicht, als betrachte sie es als Geringschätzung ihrer Währung und ihrer Person, dass ich nicht mit 60 Kronen in der Hand zu ihr hinunterstieg. Aber Geringschätzung war es nicht, nur schiere Dringlichkeit.

Wir erwarben schnellstens einen hübschen Stoss tschechische Kronen.

Ich bin in den neunziger Jahren ein paarmal in Osteuropa gewesen - im Baltikum und in Russland. Ich fühlte mich damals nie unwillkommen. Es herrschten Aufbruchstimmung und Neugier. Die Menschen im Děčíner Bahnhof aber begegneten uns mit einer Art aktiver Gleichgültigkeit. "Auf die beiden haben wir gerade noch gewartet!" schienen sie zu denken. Ich fühlte mich, als wäre hinter uns an der deutschen Grenze der eiserne Vorhang niedergerasselt. Das Geräusch schnitt mir die Luft ab.

Was war hier bloss los? Gut, in Děčín hatte eben die zweite Jahrhundertflut in zehn Jahren alle Erdgeschosse am Elbufer bis unter die Decke verschlammt. Aber das war in Sachsen ja auch so.

Vielleicht lag es daran, dass in Prag eben die Regierung gestürzt war. Der sparwütige neoliberale tschechische Ministerpräsident war über eine Korruptionsaffäre gestolpert. Ich bin noch nie in einem Land gewesen, in dem die Regierung gerade gestürzt ist. Ich weiss nicht, wie sich das anfühlt. Vielleicht so wie in Děčín.

Endlich fanden wir eine Brücke hinüber die Altstadt. Wir sahen ein Café mit phantastischen Torten. Wir stürzten hinein und bestellten Kaffee. Die Serviererin war freundlich. Ich überlegte, ob ich den ganzen Tag hier sitzen und Torten anstarren - und unter Gebrauch unserer neu erworbenen Tschechischen Kronen - auch ein paar Stücke essen sollte.

Erst später habe ich der Malaise von Děčín mit einer Internet-Recherche auf den Grund zu gehen versucht. Ich lernte, dass die Wirtschaftskrise in der EU Tschechien hart getroffen hat. Im Westen hat haben ja alle die Euro-Sorgenkinder Griechenland und Co. angestarrt und Osteuropa ganz vergessen. Aber in Tschechien schauen viele Menschen der blanken Not ins Gesicht. Die Politik ist durchdrungen von Korruption.

In der Gegend von Děčín hatten die Wähler schon letztes Jahr genug von dieser unappetitlichen Mischung aus Sparwut und Korruption. Im Bezirk Ústecký kraj, in dem das Städtchen liegt, amtiert mit Oldřich Bubeníček erstmals seit der Wende wieder ein Kommunist als Landeshauptmann. Die Kommunisten sind der Korruption unverdächtig, weil nach der Wende zunächst niemand mit ihnen politisiseren wollte.

Schliesslich gingen wir doch wieder in die Stadt hinaus. Wir fühlten uns ja nicht gefährdet. Nur fehl am Platz. Wir hielten uns an die touristischen Trampelpfade und fanden ein irrwitziges Schloss. Aber dazu später mehr.
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