auf reisen

21
Jun
2014

1000 Franken

Ich bin wirklich vorsichtig im Bahnhof. Ich weiss, dass dort viel gestohlen wird. Ich achte gut auf mein Portmonee. Aber heute früh hat es mich erwischt: Ich stieg in einen Zug nach Olten und schaute im Waggon schnell in der Tasche nach meinem Geldbeutel. Er war weg. Alles aus- und wieder Einpacken änderte nichts daran. Er war weg.

Da wusste ich: Ich musste raus aus dem Zug, bevor er losfuhr. Meine Freundinnen in Olten konnte ich vergessen. Ich eilte zum Fundbüro, zur Bahnpolizei. Dann nach Hause, zu Fuss, denn ich hatte auch kein Busabo mehr. Ich rief bei der Bank an, um meine Karte zu sperren. Zwischenfrage an meine schwerhörigen Leser: Wie sperrt Ihr im Bedarfsfall Bankkarten, wenn Ihr nicht telefonieren könnt? Ich telefonierte mit dem linken Ohr, das ging gerade noch. Festnetz geht, Handy nicht.

Die Frau von der Bank sagte: "Sie kommen leider zu spät! Jemand hat bereits 1000 Franken von Ihrem Konto abgehoben."

Das hätte mich um den Rest meiner Fassung bringen sollen, statt dessen beruhigte es mich: Ich wusste nun, dass ich es mit Profis zu tun gehabt hatte und nicht einfach Opfer meiner - leider zunehmenden - Zerstreutheit geworden war.

Nach und nach rekonstruierte ich den Vorgang des Desasters: Ich hatte die Bahnhofhalle kurz nach 8.30 Uhr betreten und mich zum nächstbesten Fahrkarten-Automaten begeben. Vor dem Gerät standen - etwas verloren - zwei achtjährige Buben. Ich fragte sie, was sie hier machen würden - verstand aber nicht, was sie antworteten. Naja, einerlei. Sie sahen harmlos aus, liessen mich durch und blieben hinter mir stehen. Ich hielt sogar das Portmonee vor die Tastatur, als in meinen Code eintippte. Aber man muss ja selber sehen, welche Tasten man drückt, also... waren es die beiden Kinder, die mir auf die Finger guckten? Oder war da eine Kamera? Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, dass die Diebe an diesem Automaten zu meinem PIN-Code gekommen sein müssen.

Item. Ich hatte noch etwas Zeit und ging in die Migros, ein Fläschchen Wasser kaufen. Man soll ja viel trinken bei diesen Temperaturen. Ich weiss noch, wie ich zahlte und das Portmonee in meine viel zu volle Tasche zurückschubste und es dort für klettverschlossen und sicher hielt. Und wie ich mit einem beschwingten Gefühl im Herzen und mit einem Fläschchen Wasser in der freien Hand zum Zug spazierte. Kein Mensch kam mir zu nahe - glaubte ich.

Dabei muss mir zwischen Migros-Kasse und Zug jemand leichtfüssig wie ein Schatten den Geldbeutel aus der Tasche gezupft, sich damit von dannen gemacht und mich um den Gegenwert von mehreren Tagen Arbeit erleichtert haben.

Eins werde ich nie mehr vergessen: das coole, sommerliche Gefühl, das ich dabei hatte.

5
Feb
2014

Wellness


Frutt Lodge & Spa (www.wyss-haustechnik.ch)

Im Schweizerdeutschen gibt es das Verb "wellnessen". Wenn ich es höre, denke ich immer an ein Grüppchen Turnerinennen vom Land. Energische Frauen, die einander ständig ihre Tüchtigkeit beweisen müssen. Und dazwischen lassen sie Lachsalven knattern über... ich weiss auch nicht was.

Es liegt wohl daran, dass niemand so genau weiss, was man beim Wellnessen macht. Ok, man planscht ein bisschen im warmem Wasser herum. Man lässt sich von diesem oder jenem Wasserstrahl das Wädli, den Rücken oder die Schulter massieren. Das soll gesund sein. Heisst es. Aber Sport ist es ja nicht. Und dazu kostet es ganz ordentlich. Das macht ratlos.

Dieser Ratlosigkeit begegnen die Thermal- und Wellness-Bäder auf unterschiedliche Weise. Manche geben sich diesen sakralen Touch. Aber wem erweist man Reverenz, wenn man beim Plätschern Ehrfurcht empfindet? Etwa dem Erbauer des Bades? In der Schweiz kommen da öfter Star-Architekten zum Zug - Peter Zumthor in Vals oder Mario Botta auf Rigi Kaltbad. Oder der Natur? Ich weiss es nicht. Ich weiss nur: Wenn ich sakral empfinden will, dann gehe ich lieber in eine Kirche.

Andere sagen: Nach zwei Tagen im Wellness-Bad hat man sich etwas Gutes getan. Da ist man nachher wieder ein paar Monate lang den Dreizehnstundentagen unseres globalisierten Alltags gewachsen. Aber um ehrlich zu sein: Ich muss nur an das Verkehrschaos auf dem Weg zu den meisten Wellness-Oasen denken. Dann ist mir sofort klar: Ich erhole ich mich lieber mit einem guten Buch auf meinem Sofa. Oder bei einem Spaziergang. Ist auch billiger.

Dennoch: Das Frutt Spa mussten wir uns neulich von innen ansehen - zumal es einen bei schlechtem Wetter dort oben doch ein paar Stunden beschäftigt hält. Und ich muss sagen: Ich fands sehr charmant. Die Architekten, Lussi & Partner übertreiben es nicht mit dem heiligen Getue. Das Bad ist klein und gehört am Nachmittag den Hausgästen. Die Aussicht vom Warmwasserbecken auf das Bergpanorama von Melchsee-Frutt ist grossartig. Was will man mehr?

Im Ruheraum der Sauna gibts sogar kleine Erfrischungen. Ganz wie ein einer russischen Sauna - wobei es in Russland natürlich nicht erlesene getrocknete Mango-Scheiben und Tee mit Zitronengras gibt. Sondern Schaschlik und Wodka.

29
Jan
2014

Wachstum im Steuerparadies


In der Nähe von Melchsee-Frutt, unterhalb des Tannensee-Staudamms.

Wenn ich jeweils auf Melchsee-Frutt ankomme, vergesse ich schnell alle Unannehmlichkeiten des Reisens. Ich liebe dieses Fleckchen Erde auf 1920 Metern über Meer! Weil es in einer phantastischen Mondlandschaft liegt. Weil es so still ist - es gibt dort keine Autos - nur ein paar Pistenfahrzeuge. Weil ich mit Herrn T. schon so viele Schneestürme und zärtliche Stunden hier verbracht habe. Und weil es (noch) ein stinkbiederer Familien-Winterferienort ohne mondäne Allüren ist.

Aber seit unseren letzten Skiferien 2009 hat sich hier oben vieles verändert - einiges bereitet mir Unbehagen. Etwa der offensichtliche Hunger nach Wachstum. Oder die Art, wie man sich hier neuerdings um Luxus-Gäste bemüht.

Dass man auf die Fundamente des 2004 abgebrannten Kurhauses ein neues Hotel gebaut hat, kann ich nachvollziehen. Die Architektur finde ich ansprechend - und soll es meinetwegen Frutt Lodge heissen, auch wenn das nicht heimatlich tönt.


(links im Bild)

Soll die Lodge vier Sterne haben. Und soll sie meinetwegen einem chinesischen Investor namens Yunfeng Gao gehören. Dass sich ein Ausländer das Prunkstück des Kurorts unter den Nagel gerissen, hat in der Gegend allerdings in vielen Herzen die Angst vor der Überfremdung wachsen lassen.

Mich jedoch beunruhigen die unauffälligen neuen Häuschen weiter unten viel mehr.


(Die Betonrohbauten im Hintergrund)

Sie stehen da, wo viele Jahre lang die Ruinen eines zerfallenen Hotels romantisch über dem Melchsee thronten. Zurzeit sucht ein Immobilienmakler Käufer für die 43 neuen Wohnungen - und es handelt sich nicht etwa nur um kleine Ferienlogis, sondern auch um geräumige 4,5-Zimmer-Wohnungen, durchaus als Eigentumswohnung gedacht.

Im Prospekt ist eine ganze Seite der Tatsache gewidmet, dass der Kanton Obwalden (in dem Melchsee-Frutt liegt) ein "steuerlich attraktiver Kanton" ist (böse Zugen sagen: eine Steueroase). Obwalden sein ein Kanton, in dem "Wirtschaft, Tourismus, Politik und Verwaltung ... eine Einheit" bildeten (böse Zungen sagen: "Säuhäfeli - Säudeckeli"*). Soll die Frutt ein Zweitwohnsitz für Geldsäcke werden? Und dann? Discos? Mondänes 24-Stunden-Shopping? Läden, in denen die Verkäuferin mit Röntgenblick zuerst mal Dein Tasche mit dem Portmonee durchleuchtet? Edler Food in winzigen und dennoch unerschwinglichen Portionen?

Herr T. und ich runzeln die Stirn. Doch dann stemmen wir uns gegen den eisigen Wind und gehen zurück in unser Zimmerchen im Traditionshotelchen Posthuis.


(Quelle: amazonaws.com)

Wir stellen erleichtert fest: Hier ist alles beim Alten. Dasselbe, freundliche Wirtepaar. Die Küche gutbürgerlich, nahrhaft und reichlich und nicht ohne Raffinesse. Der Bau unverändert - heimelig, praktisch und ohne Luxusgedönse. Und auf dem Bürostuhl in der Réception turnt ein Enkelkind der Hotlelière.


* "Säuhäfeli - Säudeckeli" - Schweizerdeutsch für Mauscheleien zwischen lokalen Geld- und Machteliten.

26
Jan
2014

Tabuthema

Verreisen, Bahnfahren, Umsteigen, Fliegen - das alles ist für Frau Frogg mit der leisen Angst vor Hörverlusten verbunden. Vor jeder Abreise legt sie deshalb Anzeichen der Überforderung an den Tag: Reizbarkeit, leichte Demenz, Momente der Panik.

Als wir am Dienstag ins nahe Skigebiet Melchsee-Frutt aufbrachen, kam ein aussergewöhnliches Symptom dazu: Bauchkrämpfe.

An dieser Stelle eine Warnung an meine männlichen Leser: In diesem Beitrag geht es um das Tabuthema Menstruationsbeschwerden. Eventuell mitlesende Gynäkologen bitte ich ausdrücklich, hier weiterzulesen. Allen anderen nehme ich es nicht übel, wenn sie aufhören.

Ich habe seit vielen Jahren eine Spirale und daher kaum noch Unterleibsschmerzen. Aber am Dienstag im Brünigzug jagte mir jede hastige Bewegung einen Krampf durch den Bauch.

Im Abteil nebenan überschüttete eine dynamische Oma ihre kleine Enkeltochter lautstark mit ihrer Liebe. Normalerweise beobachte ich solche Szenen mit amüsierter Nachsicht. Aber diesmal hätte Frau Frogg gerne die Augen verdreht. Diese dumpfe Irritation... "Eindeutig prämenstruelles Syndrom, kurz PMS", hörte ich im Kopf meine ferne Freundin Helga dozieren. Was haben wir früher über die Unzulänglichkeit der Gynäkologie angesichts von Menstruationschmerzen diskutiert! "Wenn Männer sowas bekämen, gäbe es dagegen längst das perfekte Medikament!" Auch meine Mutter zitierte in meinem Kopf eine ihrer Lebensweisheiten: "S'Züüg"* bekomme man eben immer im ungünstigsten Moment.

Überhaupt fühlte mich unangenehm in eine gnädig vergessene Vergangenheit zurückversetzt. In meiner Jugend hatte ich fast jeden Monat rasende Schmerzen. Plötzlich spürte ich wieder die Kälte unseres gymnasialen WC-Bodens unter mir. Ich legte mich jeweils auf ihn, wenn mich im Unterricht die Krämpfe überwältigten. Er war grau mit schwarzen Sprenkeln.

Die Frauenärzte waren desinteressiert. "Da kann man nichts machen", hiess es. Oder: "Das ist psychosomatisch." Oder: "Sie haben eben Ihre Weiblichkeit nicht akzeptiert." Ich hätte die Frauenärztin ohrfeigen sollen, die das damals sagte.

Und dann das: Am 16. November 2005 rammte mir eine Gynäkologin meine erste Spirale in den Bauch. "Sie haben aber einen stark verkrümmten Gebärmutterhals!" sagte sie, "Kein Wunder, dass Sie so heftige Krämpfe hatten. Sie hätten Mühe gehabt, schwanger zu werden!" Ich war zu benommen, um etwas zu sagen.

Wir sitzen im Postauto Sarnen-Stöckalp. Neben uns ein angeheitertes Rentnerquartett. Warum gibt es eigentlich in jedem zweiten öffentlichen Schweizer Verkehrsmittel ein angeheitertes Rentnerqaurtett?

Ein weiterer Krampf. Ich habe genug. In einer Tasche finde ich ein Algifor. Ich schlucke es, aber ich habe kein Wasser dabei. Die Tablette ist gross.

In der Luftseilbahn Stöckalp-Melchsee-Frutt spüre ich genau, wo sie in der Speiseröhre stecken geblieben ist und sich auflöst: direkt über dem Schlüsselbein. Jetzt tut es da oben weh.

* Zu Deutsch: "Das Zeug", umgangssprachlich für die Menstruation und ihre unangenehmen Begleiterscheinungen.

10
Nov
2013

Die Frau mit dem Schleier

Der Monte San Salvatore im Tessin ist ein toller Aussichtspunkt. Und er hat eine Bergbahn. Klar, dass Touristen aus aller Welt ihn besuchen. Als Herr T. und ich die Bahn bestiegen, beachtete ich die Frau mit dem Schleier zuerst gar nicht. Eine Touristen eben. Sie und ihr Mann sassen direkt neben uns im Bähnli.

Doch plötzlich schoss mir durch den Kopf: Die Bevölkerung des Kantons Tessin hat erst kürzlich ein Burkaverbot beschlossen! Es ist unfassbar, welche Wirkung dieser Gedanke auf mich hatte. Sofort zog es meinen Blick geradezu magnetisch zu der Frau mit dem gelben Schleier. Man sah nur ihre sorgfältig geschminkten Augen. Ich war sicher nicht die einzige, die sich bemühte, sie nicht anzustarren.

Das Verbot ist noch nicht in Kraft. Das Parlament in Bern muss noch das letzte Wort sprechen - und dass die Gerichte damit einverstanden sind, scheint eher unwahrscheinlich. Dennoch muss die arme Frau im Tessin einen unerhörten Spiessroutenlauf absolviert haben.

Herr T. und ich stiegen auf den Berg. Als ich - ein paar Momente allein - herunterkam, begegnete ich dem Paar nochmals. Die beiden hatten zwanzig Minuten neben uns in einer Bahn gesessen. Unsere Blicke trafen sich. Ich überlegte keine Sekunde.

Ich lächelte die Frau an.

Und, Freunde, ich bereue es nicht. Ich finde den Schleier zwar auch keine gemütliche Sache. Aber es empört mich, wenn man auf Minderheiten herumtrampelt - und hierzulande gehören Musliminnen zur Minderheit. Es scheint mir heuchlerisch, wenn sich die Traditionalisten in unserem Land plötzlich über die Rechte von Frauen Sorgen machen. Und schliesslich hatte ich ja keine kriegerische Islamisten-Bande vor mir. Sondern einen Gast aus einem fremden Land. Eine andere Frau.

Ich hatte den Eindruck, dass sie zurücklächelte. Die Konturen ihrer Lippen waren unter dem Stoff zu sehen. Und sie sagte etwas - was ich aber nicht verstand.

8
Nov
2013

Die Schweiz existiert nicht

Der Chauffeur unseres Palm-Express hiess Mischke. Das ist ein ausgesprochen deutscher Name - wie alle Namen mit der Endung "-ke". So vermuteten wir in ihm einen Deutschen.

Herr Mischke aber war kein Deutscher. Er sprach Deutsch mit einem dicken lateinischen Akzent. Er hatte schwarze Haare und eine italienisch gestylte Brille. Und wenn er seinem Verdruss über den täglichen Stau in Lugano Ausdruck gab, machte er dabei eine geradezu mediterrane Grimasse.

"Müssen Sie heute noch zurück nach St. Moritz fahren?" fragte ich ihn am Ende unserer Fahrt. "Nein, wir Chauffeure übernachten hier im Hotel. Wir fahren am nächsten Tag zurück", sagte er.

Ich hätte ihn gern gefragt, wo er eigentlich wohne. Wohl nicht im Tessin. Sonst hätte er ja nicht im Hotel übernacht. Eher doch im Bündnerland. Oder vielleicht im Veltlin? In Italien? Aber ich traute mich nicht. Wir Schweizer sind in solchen Dingen zurückhaltend. Für mich wird er immer der rätselhafte Busfahrer bleiben - oder einfach: ein Schweizer.

Ein typischer Schweizer eigentlich. So viele von uns haben doch eine irgendwie zusammengesetzte Identität.



"La Suisse n'existe pas", hiess das Motto, mit dem die Schweiz 1992 an die Weltausstellung von Sevilla zog. Die Schweiz existiert nicht. Der Slogan stammte vom dadaistischen Künstler Ben Vautier. Er war so leicht und luftig, wie man solche Dinge damals machte - und doch liess er ein paar patriotische Augenbrauen missbilligend in die Höhe schnellen.

Gott, ist das lange her!

Seither scheint man uns die ganze Zeit erklären zu wollen, dass die Schweiz sehr wohl existiert. Seither haben die Touristiker den Begriff Swissness erfunden. Swissness, das sind weisse Gletscher und blauer Himmel in rotweissem Rahmen. Swissness, das ist, wenn es teuer ist.

Seither sind die Rechtsnationalen erstarkt, und, weiss Gott: Sie sie sagen uns, was die Schweiz ist und wer ein Schweizer ist und überhaupt wo der Bartli den Most holt. Sie wollen uns auch sagen, dass nicht wir Schweizer schuld sind an den vollen Trams und den hohen Mieten und jedem anderen Unbehagen, das uns befällt. Sondern die Ausländer.

Von solchem Gerede bekomme ich Platzangst.

Lieber stelle ich mir vor, dass die Schweiz nicht existiert. Oder dass sie ganz von rätselhaften Busfahrern bevölkert ist.

6
Nov
2013

Gletscher und Palmen

Herr Steppenhund hat neulich hier berichtet, er habe einmal eine Schweiz-Reise wegen schlechter Wetterprognosen gestrichen. Ich finde: So etwas sollte man nicht tun. Denn erstens sind Wetterprognosen für Schweizer Alpentäler notorisch unzuverlässig. Zweitens verpasst man bei Nebel vielleicht ein paar Alpenpanoramen. Aber ein weinender Himmel schafft seine eigenen Geschichten. Manchmal hübsche, kleine Dramen - wie an dem Tag, als wir das Bergell verliessen.

Wir fuhren im Palm-Express. Das ist eine legendäre Postauto-Verbindung.


(Quelle: www.swisspasses.com)

Sie führt von St. Moritz über den Maloja und Chiavenna nach Lugano: von den Gletschern zu den Palmen, wie es im Prospekt heisst. Und, oh ja: Palmen wollten wir! Denn das Bergell präsentierte sich nach wie vor abweisend.


Bei Promontogno

Als wir losfuhren, liess wenigstens der Regen nach.

Schon nach wenigen Kilometern überquerten wir die italienische Grenze. In Chiavenna hielt der Bus für eine halbe Stunde. Das Städtchen verlockte durchaus zu einem Spaziergang. Doch niemand wollte bummeln gehen, denn es tröpfelte wieder. Schon bald scharte sich ein Häufchen leicht als Schweizer zu erkennende Reisende um unsere postgelbe Schweizer Exklave auf vier Rädern. Man wartete auf Einlass.

Dann erreichten wir den Comer See. Dort gibt es Palmen. Und es kann grau sein. Regnen tat es aber bis nach Lugano nicht mehr.

Trockenen Fusses gelangten wir ins Hotel Pestalozzi, wo wir zu nächtigen planten. Wir hatten gerade unser Zimmer im obersten Stock erreicht und kurz die Aussicht von unserem Balkon bewundert.


Lugano, die Perle des Tessins, Palmen vorhanden. Im Hintergrund der Monte San Salvatore

Da begann es zu regnen. Es regnete, wie es nur im Tessin regnen kann: unbändig, laut und sehr, sehr lange. Ein frostiger Wind wehte. Als wir fürs Abendessen hinausgingen, drehte er uns beiden sofort den Schirm. Wir flüchteten ins erstbeste Restaurant.

Am nächsten Morgen fiel unser Blick zuerst auf die schneebezuckerten Bergkuppen rundum. Wir hörten, der Malojapass sei wegen Wintereinbruchs gesperrt. Wenn wir einen Tag später gereist wären, hätte der Winter uns kalt erwischt. Wer weiss. Vielleicht wären wir tagelang im Bergell hängen geblieben. Dann wäre ich wahrscheinlich verrückt geworden.

Doch da waren wir. In Lugano. Der Himmel riss auf, und wir bekamen ein absolutes Prachtstägli, unzählige Palmen inklusive.


Monte San Salvatore am 11. Oktober, Blick auf den Luganersee Richtung Porlezza, von wo wir gekommen waren.

3
Nov
2013

Kulturlose Gedanken


Panoramaweg, oberhalb von Soglio, Bergell, Oktober 2013

Ich schlief schlecht in jenen Nächten im Bergell. Grippeviren nagten an mir, aber ich wusste es noch nicht. Um vier Uhr morgens wachte ich auf und meine Gedanken irrlichterten durch finstere Gänge. Ich fühlte mich wie eingesperrt. Immer wieder kehrten meine Gedanken zu Alberto Giacometti zurück. Der berühmte Bildhauer arbeitete in Stampa, in der Tiefe des Tals, in die drei Monate im Jahr kein Sonnenstrahl dringt.

Wie hielt er das aus? Hatte er wenigstens ein Auto? Konnte er sich ans Steuer setzen und in die Ebenen des Südens fliehen, wenn es ihm dort zu düster wurde? Das fragte sich mein erschöpfter Geist. Immer wieder. Es war das einzige, was mich an Giacometti interessierte. Dabei finde ich Autos sonst eher kulturlos.

Am Morgen marschierten wir hinunter nach Stampa - zuerst über den Panoramaweg. Er heisst so, weil er angeblich einen phantastischen Ausblick auf die Bergketten rundum bietet. Aber es war neblig. Sehr neblig. Ich habe weit und breit keinen Berg gesehen.

Der Nebel sass uns in den Knochen, als wir Stampa erreichten. Wir dürsteten nach einem italienischen Käfeli und einem freundlichen Lächeln. Aber das einzige Restaurant im Dorf war geschlossen. Schliesslich fanden wir Wärme an einem unerwarteten Ort: der Tankstelle am oberen Dorfende.

Sie erwies sich als Geheimtipp. Die Tankwartin war die fröhlichste Frau, die ich auf der ganzen Reise gesehen habe. Der Ristretto sehr italienisch. Und auf dem einzigen Tischchen lag eine Ausgabe der Zeitschrift Du über das Bergell vom April 2013:



Darin steht viel über die Begeisterung von Künstlern für die Lichtlosigkeit dieses Tals. Und über die Liebe Giacomettis zum Bergell. Er habe sehr wohl ein Auto gebraucht - aber nicht, um zu flüchten. Sondern, um schneller anzukommen. Er habe sich von jeweils Mailand aus mit dem Taxi nach Stampa fahren lassen.

31
Okt
2013

Ein schreckliches Tal


Soglio im Bergell, Oktober 2013.

Was habe ich Freunde vom Bergell schwärmen hören! "Ich war im Bergell", habe ich sie mit leuchtenden Augen sagen hören - als hätte dieses Tal im Südbünden sie zu besseren, zu glücklicheren Menschen gemacht.

Meine Erwartungen waren deshalb hoch, als wir Mitte Oktober im Postauto dem Malojapass entgegensteuerten, der von oben her ins Bergell führt. Ich stellte mir das Tal wie eine italienischere Fortsetzung des Oberengadins vor - licht, weit, golden.

Doch dann warf sich der Bus von der sonnigen Maloja-Passhöhe in einen wahren Abgrund. Serpentine um Serpentine tauchte er in immer grauere Wälder und immer dichteren Nebel. Mehrere hundert Meter führt die Strasse hinunter in ein enges, menschenleeres Tal mit ärmlichen Häusern. Das war das Bergell. Ich war entsetzt.

Das Tal ist immer ein Anziehungspunkt für Künstler gewesen. Alberto Giacometti wurde hier geboren, in eine Künstlerfamilie, und er kehrte immer wieder hierher zurück. Varlin lebte hier, Giovanni Segantini malte hier. Warum? Ich verstand es nicht.

"Warte nur, bis wir in Soglio sind. In Soglio wird alles besser", versprach Herr T. Soglio ist der Hauptort dieses Chrachens*. Er ist auf einem Hangvorsprung gebaut, wo er angeblich etwas mehr Licht bekommen soll als die Dörfer unten im Loch.

Ich sah nicht mehr Licht, sondern nur noch mehr Nebel und Düsternis. Und eine Verkaufsstelle für Soglio-Körperpflegeprodukte. Das besserte meine Laune auch nicht. Soglio-Seife ist für mich immer ein Synonym gewesen für Öko-Askese, für zu lange gelüftete Badezimmer im Winter.

Erst als wir im Palazzo Salis unsere Zimmer bezogen, begann ich den Ort zu mögen. Wenigstens ein bisschen. Der Palazzo ist ein historisches Hotel, ein einstiges Herrschaftshaus, ein Triumph aristokratischen Gestaltungswillens in dieser unwirtlichen Gegend. Was müssen die Bauern rundum geschuftet haben, um ihren Herren das hier alles bezahlen zu können!

Im Bad lag Soglio-Seife, aber es war anständig geheizt.

Wir bekamen das Zimmer, in dem Rilke gewohnt hat - ein Privileg, und ich mochte das Zimmer.

Doch die Kastanien-Tortellini zum Abendessen schmeckten nach Soglio-Seife, und ich fragte mich: Hatten sich alle meine Bekannten nur vom Abglanz der Bergeller Künstler blenden lassen? Von der Tatsache, dass das Bergell in gewissen Kreisen angesagt ist? Oder würde es auch mich noch bezaubern?

* Ein "Chrachen" ist in meiner Sprache ein tiefes, enges Tal - feucht, oft schattig in oft von weltabgewandten Menschen bewohnt.

P.S.: Ende September 2021 habe ich das Bergell nochmals besucht, diesmal bei schönem Wetter. Und rückblickend finde ich: Der Bericht hier ist unnötig unbarmherzig. Hier revidiere ich meine Meinung unter dem Titel "Das magische Tal".

30
Okt
2013

Ein schönes Tal

Wer meine letzten Beiträge über das Puschlav liest, denkt jetzt vielleicht: "Meine Güte, das ist ja ein schreckliches Tal! Dort gibt es ja nichts als vergessene Religionskriege und Totenschädel." Aber dieser Eindruck ist völlig falsch. Ja, das Poschiavo ist ein abgelegenes Tal. Seine Bewohner führten ein raues Leben, und viele tun das heute noch. Vielleicht gibt ihm gerade das seine herbe Schönheit.


(Irgendwo zwischen Poschiavo und Le Prese)

Für mich war das Tal die Entdeckung dieses Herbstes. Der Hauptort, Poschiavo, wirkt auf den ersten Blick wie irgendein Kaff in den Bergen. Aber der Kern des Städtchens - mit zwei Kirchen, einer katholischen und einer reformierten - prunkt mit einem barocken Sinn für Architektur. Jede Tür ist opulent geschnitzt, jedes Mäuerchen verziert.

Am Südende des Städtchens liegt eine besondere Sehenswürdigkeit: eine etwa 120 Meter lange Strasse mit Villen aus dem 19. Jahrhundert - das Spaniolenviertel, die Via dei Palazzi. Dort stellten heimgekehrte Auswanderer ihren Reichtum zur Schau. Sie hatten ihn in den Grossstädten Europas im Zuckerbäcker-Handwerk erworben.



Auf der anderen Strassenseit liegen die Gärten zu den Villen.

Die meisten Villenbesitzer waren protestantisch - denn es waren die Protestanten, die hier ein Handwerk erlernten und auswanderten. Die Katholiken waren Bauern und klebten an der Scholle.

Vielleicht hat mich das deshalb so fasziniert, weil mir solche Geschichten - Landflucht, Religionsgerangel, Schollenkleberei - auch wenn sie ein bisschen italienisch angehaucht sind irgendwie selber in den Knochen sitzen.
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Freni - 28. Nov, 20:21
Ein schreckliches Tal
Soglio im Bergell, Oktober 2013. Was habe ich Freunde...
diefrogg - 6. Okt, 20:27
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Danke für diesen Kommentar, eine sehr traurige Geschichte....
diefrogg - 11. Jan, 15:20
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