23
Okt
2013

Der Italiener

Im Bahnhof von St. Moritz sprach mich ein Mann auf Italienisch an. Ob das hier neben uns der Zug nach Tirano sei, fragte er.

Ich stellte zuerst einmal fest: Ich bekam keine Panik, und ich verstand ihn tiptop. Das ist nicht selbstverständlich. Eine Zeitlang brach mir sogar der kalte Schweiss aus, wenn jemand mich auf Englisch ansprach - dabei kann ich ziemlich gut Englisch. Aber damals hörte ich sehr schlecht. Zurzeit höre ich merklich besser. Und mittlerweile habe ich gelernt, die Panik als normale Begleiterscheinung der Schwerhörigkeit zu akzeptieren. Andere Schlappohren kennen sie auch.

Ich verstand den Mann sehr gut und legte ihm eine Antwort hin, die er offenbar verstand und strahlte innerlich wie ein Maikäfer. Ich war in der richtigen Verfassung für die Bündner Südtäler.

Nicht-Kenner der Schweiz müssen wissen: In den Bündner Südtälern erreicht die sprachliche Vielfalt der Schweiz ihren fast schon babylonischen Höhepunkt. Man denkt ja: Bündner Berge? Aha: Rätoromanisch! Aber weit gefehlt!

In St. Moritz jedenfalls sprachen im Jahr 2000 nur noch rund 20 Prozent der Einwohner das Latein der Bündner. Die anderen? Wahrscheinlich Schweizerdeutsch. Oder vielleicht auch Portugiesisch, Kosovarisch oder Tamilisch wie die schweizerischen Zimmermädchen, Küchenhilfen und LieferwagenfahrerInnen. Oder Hochdeutsch oder Slowakisch wie die Schweizer KellnerInnen. Oder Italienisch, Deutsch, Russisch oder Japanisch wie die Gäste, die der Region St. Moritz jährlich an die zwei Millionen Logiernächte bescheren.

Nur 25 Kilometer weiter südlich aber - im Poschiavo - sprechen die Einheimischen Italienisch. So kam es, dass wir zwei Tage später innert kurzer Zeit an zwei verschiedenen Orten vorbeifuhren, die auf Deutsch schlicht "Seeblick" heissen würden: Derjenige im Poschiavo hiess Miralago. Derjenige im oberhalb St. Moritz Guardalej. Nun gut: Man sieht nicht denselben See, und zwischen den beiden Seeblicken liegt immerhin ein 2300 Meter hoher Pass, die Bernina.

Um mich doch noch zu verunsichern, behauptete Herr T. steif und fest: "Ja, im Poschiavo sprechen sie zwar Italienisch. Aber sie sagen nicht 'buongiorno', sondern 'bundi'." Was eigentlich rätoromanisch wäre.

Ich hätte gerne nachgeprüft, ob Herr T. recht hatte. Aber das ging dann nicht. Denn die Leute im Poschiavo waren entweder selber Touristen und sagten "grüezi" oder "buongiorno". Oder sie sahen uns an, dass wir Touristen waren und sagten guten Tag" oder "buongiorno".
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