vorm buechergestell

28
Jan
2011

Horror-Buch

Als wir im Sommer in London waren, sah ich in der U-Bahn einen Mann mit einem Turban, der in diesem Buch las:

Ich musste ein schmunzeln, denn ich hatte den Roman in meinem Reisegepäck. Es lag seit Monaten bei mir herum. Jetzt wollte ich ihn endlich lesen. Ich wollte etwas mit dem Fremden in der U-Bahn teilen.

Als ich in Deutschland war, las ich es dann wirklich. Falls Ihr es mir nachtun wollt, seid gewarnt: Es ist wahrscheinlich die entsetzlichste Road Novel, die je geschrieben worden ist. Die Story ist schnell erzählt: Ein Mann und sein siebenjähriges Bub sind unterwegs nach Süden. Sie bewegen sich durch eine post-apokalyptische Landschaft. Alles verbrannt. Kein Fisch mehr im Wasser, kein Vogel auf den verkohlten Bäumen. Nichts. Auch kaum noch Menschen. Nur noch ein paar aus nacktem Hunger zu Kannibalen gewordene Menschen-Rudel, vor denen Vater und Sohn ständig auf der Hut sein müssen.

Doch die Sprache des Buchs hat einen unheimlichen, poetischen Sog. Ich las und las. Alles um mich wurde grau wie Asche, Staub biss mich in der Lunge. Ich war froh, wenn meine Freundin Helga mich ab und zu ablenkte.

Ich las das Buch in zwei Tagen.

Als ich die letzten Sätze las, begann ich zu weinen*. Ich muss dazu anmerken, dass ich selten weine beim Lesen. Aber diese paar Sätze zeichneten das berührendste Bild über die Grösse und Schönheit der Natur, das ich je gesehen habe. Über ihre Schönheit, ihre Zerbrechlichkeit und unsere Verantwortung.

Vor ein paar Tagen erwachte ich mitten in der Nacht aus einem furchtbaren Traum: Ich war in die Welt des Buches zurückgekehrt. Ich fragte mich, ob der Mann mit dem Turban auch solche Träume hat.


* Er lautet: "Once there were brook trout in the streams in the mountains. You could see them standing in the amber current where the white edges of their fins wimpled softly in the flow. They smelled of moss in your hand. Polished an muscular and torsional. On their backs were vermiculate patterns that were maps of the world in its becoming. Maps and mazes. Of a thing which could not be put back. Not be made right again. In the deep glens where they lived all things were older than man and they hummed of mystery." (Sorry, das kann ich nicht übersetzen)

3
Dez
2010

Nadj Abonji

Dieses Buch habe ich aus dem selben Grund gekauft wie viele, viele andere Leser: Weil es die Antwort der Literatur auf rechtsnationale Parolen über Migration ist. Weil es für preiswürdig befunden wurde. Weil die Autorin weiss, wovon sie schreibt. Melinda Nadj Abonji hat selber einen so genannten Migrations-Hintergrund. Ihr Buch zu lesen ist gleichsam ein politischer Akt.

Viele kaufen es. Das Buch ist seit einem Wochen auf Platz 1 der Bestseller-Listen. Es gibt einer so genannten Seconda namens Ildi Kocsis eine Stimme. Es schafft Verständnis für Scharen von Leuten, die in unserem Land aufgewachsen sind und bislang keine laute literarische Stimme hatten. Jeder sollte es lesen.

Auch wenn ich selber erst auf den letzten Seiten mit dem Buch wirklich warm geworden bin. Die Sprache finde ich weit gehend in Ordnung. Die Umstandskrämerei, die mich oft an deutschsprachiger Literatur stört, lasse ich ihr durch. Denn da und dort findet sie wirklich starke Bilder.

"Aber warum", dachte ich, "warum erzählt uns diese Frau auf den ersten Seiten ihres Buches pausenlos von einer Allee, einer Ebene, von der Luft zwischen Bäumen?" Ich meine: Bäume, Luft, eine Ebene, das ist schön und poetisch. Aber es entwickelt nicht gerade die Spannung, die mich gierig in einen Roman hineinbeissen lässt.

Erst nach ganz passablen 240 Seiten bekomme ich eine Antwort. Endlich. Denn auf Seite 241 serviert Ildi im Café ihrer Eltern am Zürichsee. Dabei hört sie sich das unbedarfte Geschwätz von ein paar Rentnern über den Jugoslawien-Krieg an - den Krieg, der gerade in der Heimat ihrer Eltern stattfindet. Sie soll über diese Heimat berichten, sagen die Rentner. Doch Ildi sagt, sie habe keine Zeit. Denn die Rentner wollten wohl nichts "über die Luft zwischen den majestätischen Pappeln und Akazien, die winzigen Blumen, die zwischen den Pflastersteinen wachsen, den Staub, den Dreck, über Béla" hören. Aha. Die ersten Seiten bringen also auf den Punkt, was Heimat für Ildi ist: Bilder, Stimmungen, die Luft zwischen den Bäumen eben.

Die Erklärung kommt spät, aber ich kann beipflichten. Die Frage "was ist Heimat" ist relevant. Und Ildis Antwort öffnet Raum für Interpretationen. Ist diese Allee, diese Ebene nur eine Erinnerung? Oder steht die grosse Weite der Vojvodina im Gegensatz zur jener Enge, die ja in der Literatur typischer Charakterzug der Schweiz ist?

Überhaupt, die Schweiz. Das Buch ist am stärksten dort, wo die junge Ildi ihrer Wut über die Schweiz und die Schweizer freien Lauf lässt. Ildi hat noch mehr Anlässe wütend zu sein als die Schweizer Jugendlichen jeder heranwachsenden Generation. Ihre Familie lässt das Prozedere einer Einbürgerung über sich ergehen, und Ildi empfindet es als Demütigung. Irgendjemand schmiert Scheisse an die Toilettenwände im Café ihrer Eltern. Ildi interpretiert es als Geste der Fremdenfeindlichkeit.

Aber sie wird erwachsen in diesem Land. Und sie wird nicht erwachsen wie die Vojvodina-Ungarin als die sie geboren ist. Sondern ausdrücklich wie eine Schweizerin.

8
Sep
2010

Karriereknick mit 40

Dieser Eintrag ist als Trost für alle gedacht, die sich in Ihren Vierzigern unversehens im Karriere-Abseits wiederfinden. Er ist über Winston Churchill.

Der Zufall hat mir in dieses Buch in die Hand gespielt. Es dokumentiert (unter sehr vielem anderem), wie der später so grosse Brite mit 41 als Marine-Minister kläglich scheiterte. Man machte ihn für das Seeschlacht-Debakel von 1915 im türkischen Gallipoli verantwortlich. (Hier habe ich berichtet, wie wir im türkischen Bus die historische Stätte passierten). Für den türkischen General Kemal Mustafa war der Sieg im Blutbad an den Dardanellen der erste Tritt auf einer Karriereleiter, die ihn später zu Atatürk machte. Dem Atatürk.

Für Churchill war es ein vorläufiger Untergang. Er fühlte sich unschuldig. Hätte man nur besser auf ihn gehört! Er sah sich als Sündenbock. Als er zurücktreten musste, ging er als Offizier in die französischen Schützengräben.

Er war nicht nahe genug an der Front, um wie so viele andere abgeschlachtet zu werden.

Die nächsten Jahrzehnte lässt er sich nicht unterkriegen. Die ganzen dreissiger Jahre lang wettert er, man dürfe sich einem gewissen Herrn Hitler gegenüber nicht so schüchtern gebärden, wie es der amtierende britische Premier Chamberlain tut. 1939 zahlt sich das aus: Hitler wird auch den Briten zu gefrässig und Churchill wieder Marineminister. 1940 schlägt dann seine grosse Stunde. Er wird Premierminister und soll Grossbritannien vor nichts geringerem als dem Untergang retten. Er ist 66.

Die Moral von der Geschicht' lautet natürlich: Karriereknick? Nicht so schlimm. Nicht locker lassen. Manchmal gibts eine richtig gute zweite Chance. Nur zeigt sie auch: Bei manchen Leuten kann der Rest der Menschheit froh sein, wenn die Geschichte ihnen ihre zweite Chance nicht gibt. Auch wenn sie führungsstark sind und gute Absichten haben.

Dazu das alternative Tondokument:

4
Sep
2010

Süsses Wiener Mädchen-Souvenir

Meine Nichten waren in Wien in den Sommerferien. Stolz zeigen sie mir den Sissi-Bildband, den sie als Souvenir nach Hause gebracht haben. Carina (5) blättert und beginnt mir laut das Inhaltsverzeichnis vorzulesen. Sie kann jetzt lesen, und sie will es mir zeigen. Wie wissensdurstig sie und Marie-Christiane (9) geworden sind! Sie hören alles, saugen alles auf, wollen alles genau wissen! Was für eine Gier mich packt, ihnen alles weiter zu geben, was ich selber weiss! Sie werden es einmal brauchen! Ich bin ganz sicher!

Carina liest fliessend alle Kapitel-Überschriften bis zur letzten. Hier stockt sie. Schliesslich kommt es zögerlich: "Mater... dolorosa!" Ähem. Jetzt zögert die Tante. "Mater dolorosa ist Lateinisch und heisst so etwas wie 'die schmerzensreiche Mutter'" rücke ich schliesslich heraus. Müssen kleine Mädchen wissen, was 'mater dolorosa' heisst? Überhaupt habe ich keine Ahnung, wieso Sissi eine mater dolorosa gewesen sein soll. Die beiden schauen mich fragend an und ich beginne einen etwas unbeholfenen Exkurs: "Wisst Ihr, die Muttergottes hat man die Schmerzensreiche genannt, weil ihr Sohn gestorben..."

"Aha!" fällt Marie-Christiane kompetent ein. "Der Sohn von Sissi hat sich das Leben genommen. Er hiess Rudolf und er litt unter der strengen Erziehung am Hof. Und seine Freundin starb mit ihm, weil sie nicht ohne ihn sein wollte." Auch Carina plappert jetzt wild vom Sohn Rudolf drauflos, der sich erschossen hat.

Müssen kleine Mädchen wirklich alles wissen?

20
Aug
2010

Wildes Kind

So. Hier also endlich eines der Bücher, die ich aus London mitgebracht habe. Ich habe es auf Grund eines Irrtums gekauft: Ich glaubte, es gehe darin um ein gehörloses Kind. Dabei ist alles etwas anders.

Doch der Reihe nach: T. C. Boyle erzählt in dieser Kurzgeschichtensammlung auch die Geschichte eines ausgesprochen unzivilisierten Geschöpfs. Es ist ein Kind, das Bauern irgendwo in Frankreich aus einem Wald zerren. Wir schreiben das Jahr 1797. Der Bub ist splitternackt und frisst lebende Frösche und Mäuse. Er klettert behände auf Bäume, beisst, kratzt, kackt in gute Stuben und büchst bei jeder Gelegenheit wieder aus. Er muss jahrelang allein im Wald überlebt haben. Wahrscheinlich hatte seine Familie ihn ausgesetzt.

Der Fall ist tatsächlich passiert und erregte im revolutionären und romantisch bewegten Frankreich viel Aufsehen.

Das Kind reagiert nicht auf Geräusche. Deshalb nimmt man zunächst an, er sei taub und schickt ihn in eine Taubstummen-Schule in Paris. Dort verzeichnet man gerade sensationelle Erfolge bei der Förderung hörbehinderter Kinder. Der Bub bekommt den Namen Victor und Ersatzeltern wie man sie sich damals vorgestellt haben dürfte: eine gütige Mutter und einen strengen, fordernden Vater.

Doch bald wird klar: Victor ist therapieresistent. Er lässt sich zwar halbwegs zähmen und verwöhnen. Aber er lernt so gut wie gar nicht. Vielleicht ist er gar nicht schwerhörig, sondern geistig behindert. Und vielleicht haben die Jahre im Wald ihn einfach für das menschliche Zusammenleben untauglich gemacht. Aber sicher ist nicht einmal sein Lehrer und Ersatzvater, Monsieur Itard.

Der arbeitet sich an seinem Schüler ab. Victor ist ein Prestige-Projekt. Aber schliesslich sieht Itard ein, dass er nichts erreichen wird und gibt ihn auf. Victor, seiner Wildheit beraubt, führt fortan die Existenz eines Menschen, den seine Behinderung ganz an den Rand der Gesellschaft gedrängt hat.

Die Geschichte hat übrigens eine fiktive Erzählerin. Boyle-Fans werden sie kennen. Es ist die Heldin dieses Romans:
Die gehörlose Lehrerin Dana Halter. Im Roman arbeitete sie an einer Geschichte über Victor. Die liegt nun vor - ohne dass Boyle den Bezug noch einmal herstellen würde.

Dana und Victor haben ein paar faszinierende Eigenschaften gemeinsam: Sie sind beide unglaublich zäh, unglaublich eigenständig und unglaublich stur. Es ist Victors Wildheit, die an dieser Geschichte in Erinnerung bleibt. Und Boyle wirft Fragen auf - über die menschliche Natur und die Zivilisation (oder Zivilisiertheit?) Und darüber, was eine gelungene Existenz ausmacht. Boyle verwirft die Romantik und bejaht sie doch - indem es Victors ungezähmten Zustand mit seinen langen, poetischen Sätzen eine solche Präsenz gibt. Eine Viersterne-Geschichte.

Hier noch etwas mehr dazu.

Am liebsten möchte ich jetzt als Kontrastprogramm Emile von Jean-Jacques Rousseau lesen.

6
Mai
2010

Gänsehaut beim Lesen

Neulich war ich in meiner heiss geliebten Leihbibliothek mit Englischen Büchern. Dort entdeckte ich diesen Titel:

'Scuse Me While I Kiss The Sky

Das Buch musste ich haben! Die Musik von Jimi Hendrix finde ich so befreiend, beglückend und beklemmend wie kaum etwas anderes. Klar, dass ich mehr über den Mann wissen wollte. Ich freute mich richtig, den Wälzer gefunden zu haben. Und den Titel fand ich hinreissend poetisch für eine Biografie. Ein Zitat aus dem Song "Purple Haze".

Im Zug nach Hause knöpfte ich es mir sofort vor. Doch war ziemlich schnell ziemlich irritiert. Denn glaubt mir: das Buch ist grottenschlecht geschrieben. Es strotzt vor unglücklich gebauten Abschnitten, holprigen Sätzen und hinkenden Metaphern. Nur ein Beispiel: "Jimi was at the center of a number of dilemmas at the time of his death, and most of those dilemmas were chronic situations that had been going on consistently for a good while in his life as a star." (S. 12) Ist das ein schöner englischer Satz? Oder wenigstens einer, der halbwegs funktioniert? Ich bekomme Gänsehaut, wenn ich einen solchen Satz lese. Als würde jemand mit einer harten Kreide auf einer Schiefertafel herumkratzen. Und die kleine Redaktorin Frogg in meinem Hirn beginnt sofort an ihm herumzureparieren. Das Buch ist voll von solchen Sätzen.

Ich hätte es weglegen können. Ich habe noch andere. Zu Hause las ich trotzdem weiter. Ich konnte nicht aufhören. Auch wenn ich oft nicht begriff, was der Autor mir erklären wollte. Aber er versteht das Milieu, in dem Hendrix aufwuchs. Das schwarze, grauenhaft arme Amerika der fünfziger und frühen sechziger Jahre. Das hat gelegentlich komische Seiten: Etwa, wenn Henderson den "chitlin circuit" beschreibt, die "Kutteltour", die Hendrix als Anfänger machte: Die Tingelei durch billigste Provinzlokale für Schwarze. Die hiessen so, weil die Schwarzen sich auch beim Feiern nur Kutteln leisten konnten.

Hin und wieder aber bekommt man beim Lesen Gänsehaut vor Entsetzen. Mittlerweile bin ich sicher: Wenn es eine Hölle gibt, dann war Hendrix schon zu Lebzeiten ein paarmal da.



Übrigens: Wer etwas wirklich verstörendes sehen will, schaut sich das YouTube -Video am besten bis zum Schluss an. Und vergisst dabei nicht, dass Hendrix in jungen Jahren gelegentlich seine einzige Gitarre verpfänden musste, um überhaupt essen zu können.

1
Mai
2010

Weinen Männer nicht?

Er sei "sexuell komplett übersteuert" gewesen, berichtet Georges im "Tagesanzeiger" vom letzten Samstag. Plötzlich habe er nur noch Geschlechtsteile gesehen. Und: "Auf einmal explodierte ich fast vor Energie, wurde schneller aggressiv und konnte nicht mehr weinen." Georges war 33 und bis dato eine Frau gewesen. Nun hatte er begonnen, sich mit Testosteron zu behandeln. Er ist ein Transsexueller.

Nicht weinen ist also eine Begleiterscheinung des Mannseins?! Frau Frogg staunte nicht schlecht. Sie hatte immer geglaubt, das mit dem Weinen sei Erziehungssache. "Männer weinen nicht!" und all das Zeug. Doch offenbar haben Männer ihrer Hormone wegen weiter vom Wasser weg gebaut als Frauen.

Das würde mich mit meinem neuen Vorbild Seneca versöhnen. Der hat es nämlich gar nicht mit dem Weinen. "Auch im Hinblick auf das All der Dinge zeigt derjenige doch einen höheren Geistesschwung, der mit dem Lachen als der mit dem Weinen nicht an sich halten kann", schrieb er in "von der Seelenruhe". Dazu sagt Frau Frogg: "Pardon, aber wer lacht und nie weint, ist ein Zyniker." Nichts gegen das Lachen. Nichts gegen eine gesunde Portion Zynismus im richtigen Moment! Aber nur wer weint, lernt die tiefsten Tiefen seiner Seele kennen. Glaubt mir. Ich habe eine Zeit lang viel geweint, und es ist noch nicht lange her. Ich weiss es.

Überhaupt: Mir scheint, Gemütsruhe im Sinne von Seneca eher wie Gefühlsunterdrückung von der übelsten Sorte. Ich bin froh, dass ich mich nicht mit so viel Gelassenheit durch die Welt zwingen muss wie er empfiehlt. Ich käme mir vor, als hätte ich einen Mühlstein in der Brust.

Vielleicht liegt es einfach daran, dass er hormonell ein bisschen übersteuert war?

Der Soundtrack dazu:

12
Feb
2010

Buch für erwachsene Mädchen

Als ich dieses Buch in der Buchhandlung sah, wollte ich sofort danach greifen. Ich hatte in meinen Dreissigern ein paar Bücher von Marian Keyes gelesen. Ich erinnerte mich vage an ihren hohen Unterhaltungswert. Und daran, und dass auch meine beste Freundin Helga auf sie schwor. Doch dann zögerte ich.

Denn Keyes gilt als chick lit-Autorin. Nun wird das Genre "ckick lit" oft unterschätzt. Billige Unterhaltung für Frauen, so lautet das Vorurteil. Aber es greift zu kurz. Figuren wie Bridget Jones und Carrie Bradshaw waren Identifikationsfiguren für eine historisch einmalige Generation von Frauen. Sie zeigten uns karrierebesessenen und spätgebärenden Mittdreissigerinnen, wo wir im Leben stehen: in einem leicht unbequemen aber letztlich meist doch komischen Dilemma zwischen Dienstleistungs-Sklaverei, Coiffeur, freiem Sex und traditionellem Rollenbewusstsein.

"Und dennoch: Jetzt bin ich zu alt für chick lit", dachte ich. Ich habe Probleme, von denen die Bridget Jones nicht einmal ahnte, dass man sie haben kann. Sogar meine Coiffeur-Geschichten scheinen im Moment eine tragische Note zu haben. Und Helga geht es genauso.

Aber dann kaufte ich das Buch doch. Ich wollte einfach wieder einmal gut unterhalten sein.

Erst schienen sich meine schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen. Lola, die Erzählerin und Heldin Nummer 1, ist eine Karikatur von Bridget Jones (die ja selber schon eine Karikatur ist): oberflächlich, dämlich und nochmal dämlich. Leider füllt Lola die ersten 100 Seiten des Romans. Wenn Keyes sich nicht so gut auf die Kniffs verstünde, die ein Buch "unputdownable" machen, hätte ich zu lesen aufgehört.

Doch Erzählerin 2 liess mich sofort vorwärts preschen: Grace schildert ihren Alltag als Journalistin bei einer grossen Tageszeitung so authentisch und mit so viel Humor, dass ich begeistert war. Sie ist ausserdem eine gute Identifikationsfigur: intelligent, reif und taff. Und sie hat einen klugen Mann. So hat man seine Heldinnen gern.

Der Teil über Marnie, die Heldin Nummer 3, ist der stärkste des Romans. Er hat literarische Qualität. Die Zwillingsschwester von Grace ist dem Alkohol verfallen. Und Keyes schildert das Säuferinnen-Elend mindestens so mitreissend wie dies A. L. Kennedy in ihrem Alkoholikerinnen-Roman Paradies tut. Das sorgt für so verstörende Lektüre, dass ich froh war, zwischendurch ab und zu wieder eine Lola-Passage zu bekommen. Als Kontrastfigur zu Marnie wirkt Lola mit der Zeit richtig süss. Die schusslige Stylistin baut an der irischen Westküste wider Willen einen Treffpunkt für Cross-Dressers auf, was für knifflige Liebes-Konstellationen sorgt. Und zwischendurch schaltet sich auch mal wieder Grace mit ihrem unbesiegbaren Realitätssinn ein.

Für Action sorgt der Mann, der die ganze Handlung zusammenhält und alles andere als ein Märchenprinz im Stil von Mister Darcy ist.

Und doch bekam ich das Happy End, das ich brauchte. Ich gestehe, ich habe sogar ein paar Tränen vergossen. Wegen Grace. Und ihrem Mann.

20
Okt
2009

Grauenhaft komischer Roman

In Londoner Buchläden muss man ja immer drei Bücher für den Preis von zwei kaufen. So kam ich letztes Jahr zu diesem Titel. Er war das nachlässig ausgewählte Anhängsel zu einem Duo, das ich unbedingt wollte.

width=80% Auf deutsch heisst es "Caravan". Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich das Ding noch lesen würde. Aber letzte Woche wurde der Lesestoff in Frogg Hall krankheitsbedingt etwas knapp, und so machte ich mich schliesslich doch an des Werk der ukrainisch-stämmigen Engländerin Marina Lewycka. Ich war angenehm überrascht.

Lewycka macht eine romantische Komödie aus einem Thema, das wir eher in einem dokumentarisch gehaltenen Problemfilm erwarten: dem Schicksal von papierlosen Wanderarbeitern in Westeuropa. Die jungen Ukrainer Irina und Andryi lernen sich beim Erdbeerpflücken auf einem Feld in Kent, Südengland, kennen. Von dort aus setzen sie mit einem zugelaufenen Hund zu einer Reise gen Norden an.

In diesem Buch herrschen blanker Hunger und gezielte Fehlernährung. Da lauern an jeder Ecke Gauner, die nur darauf gewartet haben, mit ahnungslosen Immigranten ein profitables Geschäft zu machen. Da liest man von grauenhaften Zuständen auf einer Hühnerfarm. Der widerliche Mädchenhändler Vulk ist Irina auf den Fersen. Und die Erinnerungen der Protagonisten an die ukrainische Heimat sind alles andere als rosig. Und doch ist der Roman ungeheuer komisch.

Irina und Andryi treffen jede Menge Figuren - Migranten wie sie oder Einheimische. Alle haben keinen Schimmer darüber, wie es um die Welt rundum wirklich bestellt ist (Irina und Andryi zunächst auch nicht). Die Beschränktheiten jeder einzelnen Figur stellt Lewycka sprachlich brillant dar - bis hin zum Hund. So entsteht ein auf immer wieder verblüffende Weise ironisiertes Bild dieser schonungslos brutalen Welt.

Deutschsprachigen Kritikern gefiel das im allgemeinen. Die britische Kritik, schwarzem Humor gegenüber sonst ziemlich tolerant, gab sich zart besaitet. Man dürfe nicht in diesem leichten Ton über so schwere Themen schreiben, findet etwa der Guardian. Da mache sich jemand über die Schwächsten lustig, findet eine Kommentatorin auf amazon.com.

Ich sehe das anders: Man darf. Denn über Andryi und Irina lacht man bald nicht mehr. Sie beweisen Stehvermögen in widrigsten Umständen. Sie sind tapfer. Sie lernen. Die bleiben nicht als Figuren in Erinnerung, über die man lacht, weil sie naiv sind. Sie sind Figuren der Hoffnung.

Und übrigens: Eine ultrarealistische Abhandlung über die Zustände auf Hühnerfarmen hätte ich wahrscheinlich in meinem Zustand gar nie gelesen. Nach diesem Buch aber werde ich mir gut überlegen, welches Poulet ich nächstes Mal im Cööpli kaufe.

5
Sep
2009

Buch für die Prinzessin

Gestern betrat ich voller Tatendrang eine grosse Buchhandlung in meiner Stadt. Ich wollte ein Buch für die Prinzessin kaufen. Sie hatte mir geschrieben, ich solle ihr nichts anderes als ein Buch nach Paris mitbringen. Ein Buch, das ich gemocht habe.

Nun, mir fällt auf Anhieb ein halbes Dutzend Bücher ein, die ich gerne einer Freundin schenken würde. Als erstes dieses hier:

Das ist ein deftiger Roman. Ein Buch, das in einer unverblümten Sprache alles abhandelt, was Frauen so beschäftigt: schwache Männer, Sex oder wie man ihn vermeidet, ungezogene Kinder, resolute Mütter, das Älterwerden, Deutschland während der Judenverfolgung, Amerika und vieles mehr. Es ist ein Buch, das viele Frauen einander schenken, glaube ich. Ich habe meines von meiner Schwägerin Stella bekommen. Und in der Buchhandlung stehen gleich drei Stück davon auf dem Gestell.

Aber für die Prinzessin... naja... ich habe sie seit mindestens 25 Jahren nicht gesehen. Unsere erste Freundschaft endete vor bald 30 Jahren. Und im Moment kann ich höchstens freudig hoffen, dass aus unserem Wiedersehen eine zweite wächst. Man stelle sich eine solche Situation vor! Ich meine: Gemessen an der Bedeutung des kommenden Treffens ist "Grossmutter packt aus" vielleicht doch zu wenig gewichtig. Vielleicht doch nur "just another novel". Also etwas anderes. Vielleicht das hier:

Das habe ich vor vielleicht sieben oder acht Jahren mit Begeisterung gelesen. Die Anlage der Geschichte ist unkonventionell, poetisch: Ein grünes Akkordeon kommt mit einem italienischen Einwanderer nach Amerika und wandert dann von Einwandererhand zu Einwandererhand. Ein wunderbares Buch, fand ich damals. Und unkonventionell, poetisch... ja, das ist gut. Die Prinzessin war immer die Poetischere von uns beiden. Sie singt. Sie tanzt. Ich bin anders. Ich bin prosaisch. Ich mag lange Geschichten. "Ds grüne Akkordeon hätte also etwas Verbindendes. Aber... Das grüne Akkordeon ist kein ganz neues Buch und vielleicht doch schon ein wenig vergessen. Vielleicht sollte es etwas Moderneres sein. Modern und poetisch... modern und poetisch... da sehe ich diesen Band:

Der könnte der Richtige sein! Denn jeder, dem ich von Pamuk erzähle, will dieses eine Buch lesen und kein anderes. Auch die Prinzessin könnte sich dafür interessieren. Denn die Prinzessin kennt den Orient, wenn auch nicht Istanbul, glaube ich. Das Problem ist nur: Ich habe genau dieses eine Buch selber nicht gelesen. Wie könnte ich also ernsthaft beurteilen, ob es der Prinzessin gefallen wird. Seufz! Also gut: Dann vielleicht das hier:

Das ist auch ein Buch über den Orient. In einem gewissen Sinne jedenfalls. Ein bewegendes Buch. Ein Nobelpreis-Buch. Aber es hat einen Haken: Man muss es mit einem langen Atem lesen. Man muss Zeit haben, sich vom ruhigen, mächtigen Strom dieser Geschichte wegtragen zu lassen. Man liest es am besten in den Ferien. Und Ferien... nein, ich glaube, Ferien habe demnächst nur ich. Nicht die Prinzessin. Tja... dann schenke ich ihr ein sprachlich virtuoses, aber kurzweiliges Buch. Eins, das mich vor 13 Jahren gelehrt hat, mich selber zu verstehen. Da steht es, mitten im Gestell:

Aber nein! 13 Jahre! Wie kann ich wissen, ob dieses Buch den Test von 13 Jahren Geschichte überstanden hat? Ob man es heute noch lesen kann, ohne es zu belächeln? Ob es auch eine Frühvierzigerinmit Gewinn lesen kann? Nein, das kann es nicht sein!

Ich bin am Ende meines Lateins!

Deshalb verlasse ich die Buchhandlung. Ohne Buch für die Prinzessin. Dafür habe ich für mich zwei neue Titel gekauft: Pamuks "Istanbul" und das hier:



Zum Glück fahre ich erst am Dienstag. Ich gehe am Montag noch einmal in die Buchhandlung!
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