vorm buechergestell

1
Nov
2012

Tipps für die Bücher-Entsorgung

Viele Leute sagen: "Ich kann keine Bücher wegwerfen." Seit dem Nationalsozialismus haftet der Bücher-Beseitigung der Ruch des Frevels an. Wer Bücher zerstört, zerstört hehre geistige Werte. Glaubt man. Man vergisst: Seit jener Zeit hat sich der Buchmarkt radikal verändert. Heute ist das Buch ein Konsumgut, Kleidern nicht unähnlich. Wer mehr Bücher als Platz hat, sollte sich nichts darauf einbilden. Nein. Er sollte Platz schaffen. Hier ein paar Tipps:
  • Wer Bücher nicht ins Altpapier schmeissen will, bringe sie ins Brockenhaus. In der Schweiz gibt es das Bücher-Brocky - eine grossartige Erfindung gegen das schlechte Gewissen. Einzige Gefahr: Man kommt wahrscheinlich mit vielen neu gekauften Büchern wieder heraus.
  • Beginnen Sie dort, wo am meisten Platzbedarf besteht. Je länger der Tag dauert, desto schwieriger wird es, sich von Dingen zu trennen.
  • Schauen Sie jedes Buch an und fragen Sie sich: Habe ich es gelesen oder kürzlich etwas darin nachgeschlagen? Lautet die Antwort "Nein"? Dann weg damit!
  • Sind Sie immer noch unsicher? Dann fragen Sie sich: Werde ich es jemals lesen? Geben Sie sich zu dieser Frage eine schonungslose Antwort. Je länger ein Buch im Gestell steht, desto eher werden Sie es nicht lesen. Blättern Sie notfalls ein bisschen. Sind Sie dann nicht von einem Satz sofort fasziniert: Weg damit!
  • Falls Sie sich an die Lektüre erinnern, stellen Sie sich die Fragen: Ist es ein gutes Buch? Edit: Enthält es Stellen, über die ich hin und wieder nachdenke? Empfinde ich ein starkes Gefühl bei der Erinnerung an die Lektüre oder beim Anblick des Buches? Erinnert es mich an ein gutes Erlebnis oder eine geschätzte Person? Falls die Antwort auf alle drei Fragen "nein" lautet: Weg damit!
  • Vielleicht halten Sie ein Buch in der Hand und fragen sich: Hat es antiquarischen Wert? Recherchieren Sie im Zentralen Verzeichnis antiquarischer Bücher. Sie werden sehr wahrscheinlich enttäuscht werden. Bei den meisten Büchern stehen die Anbieter Schlange - nicht aber die Kunden.
  • Sie halten ein Buch in der Hand, das Sie an der Uni oder in der Schule gelesen haben. Es ist ein Klassiker aus den fünfziger, sechziger oder siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Sie erinnern sich kaum an die Lektüre. Doch Sie glauben, dass es ein gutes Buch ist. Blättern Sie ein bisschen darin. Googeln Sie es. Sie werden schnell herausfinden, ob es in der öffentlichen Wahrnehmung Bestand gehabt hat.
  • Darf man Nachschlagewerke entsorgen? (Motto: Es gibt ja alles auf dem Internet) Antwort: Ich weiss es nicht. Mein Tipp: Blättern Sie ein bisschen. Wenn Sie ohnehin nicht verstehen, was in den Buch steht: Weg damit!
Ist das radikal? Mag sein. Aber Sie sollten nicht vergessen: Selbst wenn Sie oder die öffentliche Hand verarmen; selbst wenn sämtliche öffentlichen Bibliotheken weggespart werden: Brockenhäuser wird es noch lange geben. Und von E-Books haben wir hier noch gar nicht gesprochen.

22
Aug
2012

Was Eltern können müssen

Dieses Buch liest sich wie ein sarkastischer Ratgeber für werdende Mütter und Väter.

width=50% Der Titel müsste eigentlich heissen: So werden wir furchtbare Eltern. Es liest sich, als hätte die Autorin in behördlichen Akten über gescheiterte Familien recherchiert. Als hätte sie dann einer grausamen Phantasie ein paar üble Geschichten elterlicher Boshaftigkeit entlockt. Gut gemischt. Und fertig war ein packendes Horror-Märchen.

Das geht dann so: Schon mit drei kocht die Ich-Erzählerin alleine Würstchen auf einem offenen Gasherd. Die Kleine hat Hunger, und Mama ist beschäftigt. Sie sitzt nebenan und widmet sich ihren Künstlerallüren. Erst als das Kind in Flammen steht, wird sie aufmerksam. Sie erstickt das Feuer und bringt das Mädchen ins Spital. Dort brechen goldene Zeiten für die Kleine aus: Sie bekommt regelmässige Mahlzeiten, Leute kümmern sich um sie. Aber dem Mädchen bleibt nicht viel Zeit, gesund zu werden: Der Vater verkracht sich mit den Ärzten und entführt die Kleine kurzerhand. Wenig später flüchtet die Familie bei Nacht und Nebel in einen anderen Bundesstaat - nicht das letzte Mal, wie sich bald herausstellt. Die Familie ist vollkommen verwahrlost. Die Eltern sind mit ihren vier Kindern ständig auf der Flucht. Weil der Vater etwas ausgefressen hat. Weil kein Geld mehr da ist. Einmal darf die Kleine ihre Katze nicht mitnehmen und wehrt sich. Doch die Mutter ist Weltmeisterin im Fach "Rhetorik für kleine Kinder": "Katzen reisen nicht gern", erklärt sie der Dreijährigen. Mama ist übrigens auch Meisterin im Fach "positives Denken". Den Blick für die Bedürfnisse ihrer Kinder hat sie erst gar nicht entwickelt. Sie sollen sich früh selber durchschlagen lernen, lautet die Losung.

"Reichlich übetrieben", dachte ich, "Effekthascherei." Dann las ich irgendwo auf dem Buchrücken der englischen Ausgabe das Wörtchen "Memoir". Und tatsächlich: Die Erzählerin heisst Jeannette Walls.

Ich holte erst mal Luft. Dann dachte ich: "Naja, wenn es nicht wahr ist, ist es wenigstens kühn erfunden." Dann las ich weiter, gespannt. Die Geschichte hat herzzerreissende Stellen. Oft drehen sie sich um Vater Rex und seinen raubeinigem Charme. Er beschenkt seine Kinder mit der reichen Gabe seiner unendlichen Phantasie. Aber er ist auch ein Alkoholiker und lässt sie auf unendlich viele Arten im Stich. Wir lieben und hassen ihn mit der Hilflosigkeit seiner Tochter.

Trotz allem: Jeannette wird schliesslich erwachsen und eine tüchtige Journalistin. Sie kommt zu Geld. Sie nimmt von irgendwo die Fähigkeit, diese kraftvollen "Memoiren" zu schreiben. Sie wirft schwierige Fragen auf und gibt unbequeme Antworten. Zum Beispiel: Was müssen Eltern ihren Kindern mitgeben, damit Erziehung gelingt? Mütter mit Künstler-Allüren kommen jedenfalls schlecht weg.

Und, eine andere Frage: Darf man seine Eltern in einem Buch auf diese Art schlecht zu machen?

14
Jul
2012

Die schwarzen Brüder

Wer ins Tessin - besonders ins Verzascatal - reist, sollte Die Schwarzen Brüder von Kurt Held und Lisa Tetzner lesen. Der Roman ist ein Jugendklassiker. Wir lasen ihn schon in der Primarschule. In der Erinnerung scheint mir, meinem Lehrer sei der Roman der wichtigste Lernstoff überhaupt gewesen. Warum das so war, hatte ich allerdings vergessen. Deshalb besorgte mir das Buch in der Leihbbibliothek, bevor wir ins Tessin reisten. Ich erwischte die von Hannes Binder passend düster illustrierte Ausgabe.



Bei der Lektüre begriff ich die Begeisterung unseres Lehrers schnell: Das Buch hat eine starke Message. Es geht darin um das Schicksal armer Kinder - und zwar armer Schweizer Kinder im 19. Jahrhundert. Die Eltern von Giorgio im Verzascatal sind sogar so elend dran, dass sie etwas für unsere Begriffe Unglaubliches tun: Sie verkaufen ihren Sohn an einen Kinderschlepper. Der bringt Giorgio in die reiche Stadt Mailand, wo dieser harte Kinderarbeit als Kaminfeger verrichtet. Solche Geschichten trugen sich anno dazumal im Tessin offenbar tatsächlich zu, Lisa Tetzner hatte recherchiert. Heutzutage gibts sowas ja nur noch in jenen fernen Ländern, aus denen bei uns die Asylbewerber kommen. Das Buch geht direkt ans Herz, und ich lernte seine Lektionen schnell nochmals:

1) Die meisten Menschen hierzulande werden heute mit einem goldenen Löffel im Mund geboren - aber nicht darum, weil unsere Vorfahren besonders ehrenwerte Menschen waren.
2) Die Tatsache, dass wir Schweizer sind, bedeutet nicht automatisch, dass wir uns in einer schwierigen Lage besonders anständig verhalten würden.
3) Wir haben kein Recht, auf Menschen aus ärmeren Ländern hinunterzublicken, solange unsere eigene Rechtschaffenheit keiner Prüfung von der Art unterzogen worden ist, wie es sie in ärmeren Ländern gibt.

Pikantes Detail: Co-Autor Kurt Held hiess eigentlich Kurt Kläber, war Deutscher und Kommunist und lebte nach 1933 als Flüchtling in der Schweiz - er musste nach dem Reichstagsbrand um Leib und Leben bangen. Weil Asylbewerber in der Schweiz aber Schreibverbot hatten, erschien das Buch unter dem Namen seiner Frau, Lisa Tetzner. Er hatte es gemeinsam mit ihr verfasst.

6
Apr
2012

Hat die Frau eine Seele?

Dieses Buch las ich wegen seines Titels:


(Hier eine Besprechung aus der FAZ).

Das Alleinsein, manchmal auch die Einsamkeit, ist ein riesiges, aber im Grunde nie richtig erforschtes Land auf meinem geistigen Globus. In letzter Zeit vermute ich: Mit zunehmender Schwerhörigkeit und zunehmenden Alter werde ich es kartieren müssen. Also lohnt es sich, darüber zu lesen. Dachte ich. Ich kannte den Autor, Stewart O'Nan, seit der Lektüre seines Romans A Prayer For The Dying als Autor, der den Horror der Einsamkeit sehr eindrücklich heraufzubeschwören weiss.

Und, ja, "Emily, Alone" ist ein Buch über eine alte Frau, die allein lebt. Aber wie so oft fand ich darin nicht das, wonach ich eigentlich gesucht hatte - eine Antwort auf die Frage, wie ein alter Mensch die Katastrophen der Vereinsamung überwindet. Emily ist zwar oft ein wenig einsam. Aber die Katastrophen hat sie längst hinter sich. Der Roman ist vielmehr - und darin ist es unglaublich stark - ein Abgesang auf die Generation unserer Eltern und das perfekte Räderwerk ihres Lebens.

Die Tochter von Emily - sie ist in meinem Alter - scheint ja nie etwas richtig auf die Reihe zu kriegen. Sie kämpft gegen Geldsorgen und den grossen Durst. Emily dagegen ist wohl situiert und wohl organisiert. Ihr Testament hat sie vollständig bis zum letzten Schmuckstück sauber aufgeschrieben und abgelegt. Emily ist ein Mensch, der ganz im Alltag aufzugehen scheint. Sie macht den Haushalt. Sie führt ihren Hund spazieren. Sie geht mit ihrer Schwägerin Arlene essen - die beiden Frauen pflegen weniger eine Freundschaft als eine Zweckgemeinschaft. Man braucht einander im Alter. Dass Emily einmal eine Freundin sehr geliebt hat, wird - sehr diskrekt - angedeutet. Emily arbeitet ein bisschen im Garten. Sie hört abends Musik. Sie lässt sich nie gehen - auch nicht innerlich. Sie scheint keine Leidenschaften zu kennen. Es ist genau dieser merkwürdigen Gegensatz, der mich an der Generation meiner Eltern erstaunt und gelegentlich befremdet.

Ich möchte so tüchtig sein wie sie. So zu jeder Tageszeit und durch und durch präsentabel. Mit so viel Pragmatismus ausgestattet. Aber nicht so oberflächlich.

Bei so viel properer Alltäglichkeit hat das Buch seine unvermeidlichen Längen im ersten Teil. Aber dann gerät Emily doch aus dem Gleichgewicht - es ist prekärer als man zuerst angenommen hat. Als Hund Rufus erkrankt, ahnt man die destabilisierende Nähe des Todes. Wird der Hund überleben? Wird Emily - so zählebig sie ist - doch sterben? Wir lesen atemlos. Und ganz allmählich stellt sich etwas Unerwartetes heraus: Emily hat doch eine Seele.

26
Dez
2011

Glücklich verarmt

Angesichts meiner unsicheren beruflichen Perspektiven kam ich neulich nicht umhin, dieses Buch zu kaufen (bei amazon, für sagenhafte 4.99 Euro - aber erzählt das bitte nicht meinen Buchhändler-Bekannten...):



Und ich muss sagen: Die Lektüre war ein Vergnügen. Von Schönburg schildert uns die die Widrigkeiten eines Lebens in Reichtum mit so viel Esprit, dass er mich für den wahrscheinlichen Kaufkraftverlust des kommenden Jahres geradezu begeistern konnte.

Auch wenn uns Herr von Schönburg eine Menge verschweigt. So schildert er zwar ausführlich das Einsamkeits-Risiko reicher Menschen. Etwa am Beispiel eines Fussballers aus einfachen Verhältnissen, der zu einem gut bezahlten Profi wurde. Zunächst sei der Mann noch oft mit seinen alten Kumpels ausgegangen. Doch dann tauchten unter ihnen immer öfter auch Leute auf, die ihn ausnützen wollten. Deshalb halte der Fussball-Star sich fast nur noch in Gesellschaft von Menschen auf, die "einer ähnlichen Gehaltsklasse angehören" (S. 188). "Sein Freundeskreis ist jetzt sehr homogen. Und sehr langweilig." Dass auch Arme ein hohes Einsamkeits-Risiko haben, lässt er unerwähnt. Nehmen wir zum Beispiel an, besagter Fussballer wäre nicht zum bejubelten Star aufgestiegen, sondern hätte sich mit 18 im Training schwer verletzt und müsste von einer Rente leben - derweil seine alten Freunde alle halbwegs einträgliche Berufe ergriffen und eine Familie gegründet hätten. Glaubt mir: Er würde sie auch nicht mehr oft sehen.

Aber man liest von Schönburg nicht, um sich solche Dinge zu überlegen. Man liest ihn, um sich aufrichten zu lassen. Sein Buch ist ein Triumph der eleganten Schreibe über die schlaflose Nacht. Man liest ihn, um seine Schwierigkeiten in einem rosigeren Licht zu sehen - nicht, um sich dem Pessimismus hinzugeben.

Dass Herr von Schönburg uns ohnehin nichts über richtige Armut erzählt, wurde mir klar, als ich vorhin schnell bei meiner tamilischen Nachbarin war. Ich hatte seinen Lob des Müssiggangs bei reduziertem Arbeitspensum (und Lohn) noch im Kopf. Da erzählte sie mir von ihrem jungen Neffen in London. Er arbeite bei McDonald's, sagte sie: für vier Pfund die Stunde, manchmal 14 Stunden am Tag.

29
Nov
2011

Ein Held meiner Jugend

Für mich scheint es im Moment nur noch zwei Optionen zu geben: verarmen oder ertauben – möglicherweise beides. An der Reihenfolge schräubeln wir gerade. In dieser Lebenslage suche ich Trost bei einem Lieblings-Romanhelden meiner Jugend: Candide von Voltaire.

Im Vergleich zu ihm geht es mir ja noch richtig gut. Auch wenn er es ist, der sich in der besten allen Welten wähnt. Dabei wird er im Leben herumgeworfen und immer wieder windelweich geprügelt. Als uneheliches Kind wächst er im 18. Jahrhundert an einem deutschen Fürstenhof auf. Als er sich mit 17 verliebt, vertreibt ihn der Fürst bei der erstbesten Gelegenheit mit einem Tritt in den Hintern. Das passiert am Ende des ersten Kapitels.

Trost finde ich bei der Lektüre nicht. Dafür eine Erkenntnis: Candide würde als moderner Romanheld nicht mehr funktionieren. In einem heutigen Roman hätte er ein unendlich komplexes Bewusstsein. Vier Kapitel lang würde das Buch über seine Kindheit und seine unsichere soziale Stellung am Hof sinnieren. Candide hätte seine Vertreibung antizipiert und vorher jemanden kennen gelernt, der ihm ausserhalb des Fürstenhauses ein Auskommen bietet. Er hätte geschuftet, wäre herumgekommen und hätte schliesslich irgendwo ein - vielleicht prekäres - Glück gemacht.

Aber Candide ist eine Romanfigur aus uralter Zeit. Dass er rührend naiv ist, gehört zum Konzept. Er muss auf die harte Tour lernen: Seine Welt ist kein guter Ort: Die Armut lauert an jeder Ecke, herrschaftliche Willkür und Kriege gibts á discretion. Wer nichts ist, wird nichts. Wer nichts wird, wird Kanonenfutter.



Im Vergleich zu Candides Welt ist unsere Welt - jedenfalls jene im Westen - immer noch eine heile Welt unglaublich vieler Möglichkeiten.

Und doch ist Candide einer der Urgrossväter der meisten modernen Romanhelden. Als einer der ersten setzt sich das Buch mit der Frage nach der Freiheit auseinander. Wobei mit "Freiheit" im Roman meist gemeint ist: Wie schafft es der Held, das zu tun, was ihm liegt - und dabei nicht zu verhungern.

Plötzlich fällt mir diese Buch ein:

Dieser 2010 erschienene, hoch gelobte Roman des amerikanischen Roman-Giganten Johnathan Franzen macht sich das Ur-Thema des Romans gleich zum Titel. Er ist ein wuchtiges, hervorragend erzähltes Buch. Die Figuren wirken geradezu hyper-realistisch komplex. Der Stil ist elegant, zuweilen ist da dieser satirische Unterton. Das Milieu - die USA der liberalen Mittelschicht im frühen 21. Jahrhundert - ist klar gezeichnet. Der Titel scheint nahe zu legen, dass wir neu über die Freiheit - und damit neu über den Roman - nachdenken müssen. Der Klimawandel und die Bevölkerungs-Explosion scheinen im Text den traditionellen Freiheits-Begriff in Frage stellen. Doch Franzen scheint sich in der Komplexität seiner Figuren zu verlieren. Ihre Ängste sind Ängste des 20. Jahrhunderts, und schliesslich rettet er sie alle. "Freedom" ist ein mit den Mitteln des 20. Jahrhunderts geschriebener Roman für Leser des 20. Jahrhunderts.

Der Roman des 21. Jahrhunderts muss erst noch geschrieben werden. Und es ist nicht klar, ob seine Helden gerettet werden.

30
Okt
2011

Feministische Selbstzerfleischung



Eins muss ich diesem Buch zugestehen: Es hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ich habe es im Juni gelesen. Dieser Tage sah ich, dass auch frau chamäleon es liest. Sofort befiel mich der Frust von damals. Mein letzter Gedanke über das Werk war gewesen: "Egal, was eine Frau tut - Frau Mika wird sie es nicht recht machen können. Zum Glück müssen wir es Frau Mika nicht recht machen." Diese Reaktion kann nicht Ziel einer so genannten feministischen Streitschrift sein.

Hier noch eine Vorbemerkung: Ich habe nichts gegen Feministinnen. Ich bin selber eine - oder einmal eine gewesen. Leider ändert Mika nichts an der Zwiespältigkeit meiner Haltung. Im Gegenteil: Sie übt die weibliche Selbstzerfleischung. Und ich bezweifle, dass uns das weiter bringt.

Frau Mika bezichtigt die Frauen pauschal der Feigheit und der Komplizenschaft mit dem Patriarchat. Sie erzählt von gut ausgebildeten, müssig gehenden "Latte-Macchiato-Frauen", die ihre Männer Karriere machen und Kohle anschleppen lassen. Von heiratswütigen 25-Jährigen. Von einer jungen Forscherin, die ein Stipendium in Oxford ausschlägt, um bei ihrem Partner bleiben zu können. Sie scheint nur strohdumme Frauen zu kennen.

Ich kenne keine solchen Frauen. Ich kenne nur eine einzige Frau unter 65, die nicht einer Erwerbsarbeit nachgeht. Natürlich, fast ausnahmslos bringen ihre Männer mehr Geld nach Hause. Aber so ist das nun mal im Patriarchat. Ich habe noch diesen Kadermann im Ohr, der zu mir sagte: "Wieso sollen wir einer jungen Frau den gleichen Lohn zahlen wie einem jungen Mann? Oft sieht man ja schon beim Vorstellungsgespräch, dass eine bald schwanger wird." Und das war nicht 1956. Das war im April 2011.

Ich kenne ausschliesslich Frauen, die versuchen, mit ihren Talenten etwas anzufangen. Oder wenigstens in Würde Geld zu verdienen. Die einen als Putzfrauen, die anderen als Journalistinnen; die einen im Schulwesen, die anderen als Coiffeusen oder Kantinenfrauen. Einige wenige im Kader, die meisten als ganz gewöhnliche Arbeitsbienen. Frau Mika glaubt vielleicht, dass jede von uns zur Chefredaktorin oder zur Betriebsrätin geboren ist. Aber sie irrt sich.

Natürlich: Die meisten von uns sind irgendwann in die eine oder andere Falle des Patriarchats gestolpert: die Erwartung, dass man unbedingt einen Partner haben muss. Dass man für ihn Dinge aufgeben sollte. Und dann die ganze Sache mit den Kindern... Aber jede Frau, die ich kenne, versucht redlich, diese Fallen zu umgehen. Oder wieder aus ihnen hinaus zu kriechen. Wir alle wursteln uns durch – mal besser, mal weniger gut.

Leider sieht Frau Mika genau, was wir schlecht machen. Wie wir es besser machen könnten, darauf weiss nur wenige Antworten.

21
Sep
2011

Traumreise

Als er sich auf seine erste grosse Reise machte, gab es noch keine Laptops, keine Digitalkameras, kein Internet, geschweige denn iPhones. Patrick Leigh Fermor träumte auch nicht von der Erfindung solcher Gadgets. Er war mehr der Poet. Er schrieb von Feen, vom Mittelalter, von Kathedralen.



Als er sich am 8. Dezember 1933 auf seine grosse Reise machte, stammte der grösste Teil seiner Ausrüstung aus "Millets Laden für Militär-Überbestände: ein alter Armeemantel, Unterwäsche in mehreren Schichten, graue Flanellhemden, ein paar weisse für Feiertage, eine weiche lederne Windjacke, Gamaschen, Nagelsteiefel, ein Schlafsack ..., Notizbücher und Skizzenblocks, Radiergummis, eine zylindrische Aluminiumdose mit Bleistiften Marke Venus und Golden Sovereign, ein altes Oxford Book of English Verse."*

Fermor bestieg am 8. Dezember bei der London Bridge ein Schiffe nach Hoek van Holland. Zu Fuss ging er von dort bis Istanbul. Ich habe mir neulich seinen zweibändigen Reisebericht bestellt. Als die Bücher gestern ankamen, blätterte ich schnell ein bisschen - und war gleich darauf geradezu fiebrig am Lesen. Fermor's Sprache ist poetisch und doch präzise. Sie lässt glasklar und gleichzeitig Bilder aus der Vergangenheit und Gegenwart aufleuchten. "Schon zu Elizabeths** Zeiten luden Boote aus der Zuiderzee hier zwischen London Bridge und Tower ihre Kisten mit Aalen aus", schreibt er, und ich spüre den Schauer der Jahrhunderte. Auf meiner ersten Reise nach London, 1985, besuchte ich die Tower Bridge - wie alle London-Erstbesucher. Die russigen, abgewirtschaftet Hafengebäude am südlichen Brückenkopf machten mir damals viel mehr Eindruck als die Brücke selber. 2008 war ich wieder dort - und aus den Hafengebäuden war eine trendige, urbane Freizeitlandschaft mit Fitness-Centern, Spazierwegen und Museen geworden. Aal gibts - wenn überhaupt - im Restaurant.

Wer heute noch mit dem Schiff reist, setzt von Harwich nach Hoek van Holland über.

Oh ja, ich möchte Fermor nachreisen!

Einstweilen tue ich es wenigstens auf meinem Laptop: mit Google und Google Maps.

*Patrick Leigh Fermor:"Die Zeit der Gaben", Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Mein, 3. Auflage, 2010, S. 30.

** Gemeint ist Elizabeth I., Königin von 1558 bis 1603.

14
Sep
2011

Erschütterndes Buch

Dieses Buch hat mir Wanda empfohlen. Eine Bekannte, deren Urteil ich nicht restlos traue.
Der Klappentext verzichtet leider auf eine Inhaltsangabe. Und Wanda hielt sich auch noch an die Empfehlung des Verlags: "Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, werden Sie Ihren Freunden davon erzählen wollen. Wenn Sie es tun, erzählen Sie Ihnen bitte nicht, was darin geschieht. Die Magie des Buches liegt darin, wie sich die Geschichte entfaltet." Deshalb war ich ein Jahr lang unschlüssig, ob ich es überhaupt lesen sollte. Das Buch kam daher, als enthalte ein gut erzähltes Geschichtchen mit dem intellektuellen Gewicht eines Tropfens Patschuli-Öl.

Aber jetzt habe ich es gelesen. In drei Tagen. Und ich stellte fest: "The Other Hand" ist eine brilliant und höchst unterhaltsam erzählte Geschichte. Aber eine Geschichte wie eine Faust in die Magengrube. Da schreckte wohl der Verlag vor zu viel Offenheit zurück. Man will die unterhaltungssüchtige Leserin ja nicht vom Kauf eines Buches abhalten, das unbequeme Fragen aufwirft.

Deshalb empfehle ich das Buch jetzt ausdrücklich zur Lektüre. Und ich sage die ungemütliche Wahrheit: "The Other Hand" ist ein Flüchtlingsdrama. Eine der beiden Heldinnen ist die junge Nigerianerin Little Bee. Sie ist eine Asylbewerberin in Grossbritannien. Ja, sie ist traumatisiert. Aber sie ist auch süss, gewitzt, sprachgewandt und kann gut mit kleinen Kindern - und, weiss Gott, sie hat selber kein blütenreines Gewissen.

Die andere Hauptfigur ist die Journalistin und Vororts-Mami Sarah. Vor ihrer Tür steht Little Bee eines Tages ohne gültige Papiere. Und hinfort müssen beide Frauen ständig existenzielle Entscheidungen treffen.

Das Buch tut genau das, was gute Literatur soll: Es führt uns in die Welt von Figuren, die wir im wirklichen Leben gar nie kennen lernen würden. Auch wenn sie viel für uns bedeuten. Und es wirft wichtige Fragen auf. Dieses hier lässt uns fragen: Was tun wir mit all diesen Menschen, die Hilfe suchend in unser Land kommen? Wie viel von dem, was wir haben, würden wir für sie hergeben?

Und: Es gibt keine pfannenfertigen Antworten.

1
Apr
2011

Der Inspektor und die Karrierefrau

Wahrscheinlich habt Ihr Euch über mein Schweigen in den letzten Tagen gewundert. Nun, ich war Inspektor Lynley beschäftigt. Und wer Inspektor Lynley kennt, weiss: Sich mit ihm zu beschäftigen, ist eine zeitraubende Sache.

Für alle, die ihn nicht kennen: Ich lese gerade dieses Buch.

Zu Deutsch heisst es Wer dem Tod geweiht und ist der neueste Krimi von Elizabeth George. Ihre Bücher sind nicht nur als Krimis unputdownable. Sie sind epische Soap Operas um Scotland Yard-Detektiv Thomas Lynley und seine störrische Kollegin Barbara Havers.

Das heisst, Lynley ist zu Beginn dieses Bandes immer noch auf Urlaub. Er trauert um seine Ehefrau Helen, die hoch schwanger in einer Schiesserei getötet wurde. Sein Chef hat sich nach Ersatz umsehen müssen und eine beinhaarte Karrierefrau gefunden. Sie heisst Isabelle Ardery, ist stets perfekt gekleidet, gibt sich hart wie Granit und fest entschlossen, ihren Weg in einer Männerdomäne zu machen.

Gleich zu Beginn erfahren wir, dass an Ardery nur die Fassade perfekt ist: Innen sieht es weniger gut aus. Im Damenklo greift sie nach dem Anstellungsgespräch zum Wodkafläschchen in ihrer Handtasche. Die Szene kommt völlig unerwartet und hat mich ziemlich schockiert.

Als dann ein Mord passiert, tut sie gleich noch etwas Unerwartetes: Anrdery holt Lynley aus dem Urlaub und als ihren Partner zurück ins Team.

Sehr zum Missvergüngen von Spürnase Havers, die lieber selber mit Lynley ermitteln würde. Und sie wittert erst noch eine erotische Spannung zwischen ihm und der Neuen. Ob sie recht hat?

Ich bin sonst ein grosser Fan von Havers. Aber diesmal gilt meine Neugier Ardery. Ich habe ihr richtiggehend nachrecherchiert. Sie hat in diesem Roman nicht ihren ersten Auftritt. George erfand sie 1994 für "Playing for the Ashes". Damals war sie noch eine perfektionistische Ermittlerin aus der Provinz. Sie liess sich auf einen Machtkampf mit Lynley ein. Natürlich verwies Lynley sie - sanft wie immer, aber nachdrücklich - auf ihren Platz.

Ob sie ihren diesmal Job auf die Reihe kriegt? Ich weiss es noch nicht. Bin noch nicht fertig. Ich denke bloss darüber nach, warum mir dieser Typ Frau so vertraut vorkommt. Ist dieses Karriereweib jetzt schon um ein Klischee aus der Unterhaltungsliteratur? Oder habe ich einfach im realen Leben schon zu viele solche Frauen scheitern sehen?
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Danke für diesen Kommentar, eine sehr traurige Geschichte....
diefrogg - 11. Jan, 15:20
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diefrogg - 9. Jan, 18:14
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ein bisschen versuch ich es ja, mir alles widrige mit...
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