29
Nov
2011

Ein Held meiner Jugend

Für mich scheint es im Moment nur noch zwei Optionen zu geben: verarmen oder ertauben – möglicherweise beides. An der Reihenfolge schräubeln wir gerade. In dieser Lebenslage suche ich Trost bei einem Lieblings-Romanhelden meiner Jugend: Candide von Voltaire.

Im Vergleich zu ihm geht es mir ja noch richtig gut. Auch wenn er es ist, der sich in der besten allen Welten wähnt. Dabei wird er im Leben herumgeworfen und immer wieder windelweich geprügelt. Als uneheliches Kind wächst er im 18. Jahrhundert an einem deutschen Fürstenhof auf. Als er sich mit 17 verliebt, vertreibt ihn der Fürst bei der erstbesten Gelegenheit mit einem Tritt in den Hintern. Das passiert am Ende des ersten Kapitels.

Trost finde ich bei der Lektüre nicht. Dafür eine Erkenntnis: Candide würde als moderner Romanheld nicht mehr funktionieren. In einem heutigen Roman hätte er ein unendlich komplexes Bewusstsein. Vier Kapitel lang würde das Buch über seine Kindheit und seine unsichere soziale Stellung am Hof sinnieren. Candide hätte seine Vertreibung antizipiert und vorher jemanden kennen gelernt, der ihm ausserhalb des Fürstenhauses ein Auskommen bietet. Er hätte geschuftet, wäre herumgekommen und hätte schliesslich irgendwo ein - vielleicht prekäres - Glück gemacht.

Aber Candide ist eine Romanfigur aus uralter Zeit. Dass er rührend naiv ist, gehört zum Konzept. Er muss auf die harte Tour lernen: Seine Welt ist kein guter Ort: Die Armut lauert an jeder Ecke, herrschaftliche Willkür und Kriege gibts á discretion. Wer nichts ist, wird nichts. Wer nichts wird, wird Kanonenfutter.



Im Vergleich zu Candides Welt ist unsere Welt - jedenfalls jene im Westen - immer noch eine heile Welt unglaublich vieler Möglichkeiten.

Und doch ist Candide einer der Urgrossväter der meisten modernen Romanhelden. Als einer der ersten setzt sich das Buch mit der Frage nach der Freiheit auseinander. Wobei mit "Freiheit" im Roman meist gemeint ist: Wie schafft es der Held, das zu tun, was ihm liegt - und dabei nicht zu verhungern.

Plötzlich fällt mir diese Buch ein:

Dieser 2010 erschienene, hoch gelobte Roman des amerikanischen Roman-Giganten Johnathan Franzen macht sich das Ur-Thema des Romans gleich zum Titel. Er ist ein wuchtiges, hervorragend erzähltes Buch. Die Figuren wirken geradezu hyper-realistisch komplex. Der Stil ist elegant, zuweilen ist da dieser satirische Unterton. Das Milieu - die USA der liberalen Mittelschicht im frühen 21. Jahrhundert - ist klar gezeichnet. Der Titel scheint nahe zu legen, dass wir neu über die Freiheit - und damit neu über den Roman - nachdenken müssen. Der Klimawandel und die Bevölkerungs-Explosion scheinen im Text den traditionellen Freiheits-Begriff in Frage stellen. Doch Franzen scheint sich in der Komplexität seiner Figuren zu verlieren. Ihre Ängste sind Ängste des 20. Jahrhunderts, und schliesslich rettet er sie alle. "Freedom" ist ein mit den Mitteln des 20. Jahrhunderts geschriebener Roman für Leser des 20. Jahrhunderts.

Der Roman des 21. Jahrhunderts muss erst noch geschrieben werden. Und es ist nicht klar, ob seine Helden gerettet werden.
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Journal einer Kussbereiten

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