23
Okt
2009

Hendrix in der Südostbahn

Für Nicht-Kenner der schweizerischer Eisenbahnen: Die Südostbahn ist ein Zug, der von Luzern ostwärts durch nicht enden wollende Berg- und Hügellandschaften kriecht. Idyllisch bei schönem Wetter. Am Arsch der Welt bei Hochnebel. Gestern lag dicker Hochnebel. Die Frogg betrachtete aus dem Fenster des Zuges Bauernhöfe und zubetonierte Landstädtchen, stichfest konserviert in grauem Gelee.

In Wattwil setzt sich eine 16-Jährige zu mir ins Abteil und greift zum Handy. Sie ruft zu Hause an. Aber ihr Ton legt nahe: Sie besucht irgendwo eine Managerschule, und jetzt gerade übt sie Personalführung nach Lehrbuch mit den Leuten zu Hause.

"Und irgendöpper mue no go Schtocki chaufe", gebietet sie ihrer Schwester, ihrem Bruder oder ihrem Papi.
"Jo i waiss, mier chönted au Nüdeli mache, aber waisch, i finde..." hier schraubt sich ihr Ton auf die süsslichen Höhen der Motivier-Stufe 10 für unzuverlässiges, aber leicht manipulierbares Personal, ...i finde aifach, Schtocki isch so öppis Guets!"*

An diesem Punkt greife ich zu meinem MP3-Player. Inzwischen habe ich Fortschritte gemacht und ihm ein paar Alben einverleibt. Dabei habe ich geradezu gierig Werke aus meiner Vinylphase ins virtuelle Einkaufwägeli gepackt. Solche, die bei Frau Frogg nicht zuletzt aus technischen Gründen lange Jahre dem Vergessen anheim gefallen waren.

Ich beginne gerade zu denken, wie schade es sei, wenn so junge Leute schon so strebern müssen wie mein Gegenüber. Da gewittern mir die ersten Akkorde von "All Along The Watchtower" ans Trommelfell.



Jetzt denke ich vorerst gar nichts mehr. Der Song ist noch besser als ich ihn in Erinnerung hatte. Er ist eine Offenbarung. Seit Jahren habe ich mich nicht mehr so genau richtig, so genau wie ich selber gefühlt.

Ich habe viele Jahre lang wenig Musik gehört - weil ich viel gearbeitet habe. Und wegen meines Ohrenleidens. Weil ich immer dachte: Je weniger ich weiss, desto weniger werde ich vermissen, falls ich einmal taub werde. Vielleicht liegt es auch daran, dass mich der Song vor Glück fast durch die Zugdecke katapultiert. Nach so vielen Jahren Musik-Entzug... Ich werde meinen Approach ändern müssen.

Später denke ich dann wieder über die Jungmanagerin in meinem Abteil nach. Ich denke, dass es eigentlich genau umgekehrt sein sollte. Die 16-Jährige sollte sich in die bessere Welt des Sounds donnern lassen. Ich, die 44-Jährige, sollte die Dinge im Griff haben und ihre Brut zu Hause herumorganisiern.

Aber es ist nun mal so rum. Und es ist gut so. Ja, es ist gut.

* Zu Deutsch: "Irgendjemand muss noch Stocki (Kartoffelpüree zum Anrühren), einkaufen."
"Ja, ich weiss: Wir könnten auch Nudeln kochen. Aber ich finde einfach, Stocki ist so etwas Gutes."

Trackback URL:
https://froggblog.twoday.net/stories/6008000/modTrackback

punctum - 23. Okt, 23:44

Das ist ja lustig - ich hatte den Song ewig nicht gehört, dann aber vor einer Woche etwa sehr intensiv und in mehreren Versionen. Und insgeheim gefällt mir das Original von Bob Dylan besser, obwohl er selbst meinte, Hendrix hätte es besser gemacht. Aber der Text ist sowieso sehr nachdenkenswert.

diefrogg - 23. Okt, 23:54

Die Version...

von Bob Dylan habe ich mir noch nie wirklich zu Gemüte geführt. Aber ich werde es unverzüglich nachholen! Ich muss nur sehen, dass ich die richtige Version erwische. Scheints gibts ja eine Version vor Hendrix und eine, wo er dann Hendrix aufnimmt.
diefrogg - 24. Okt, 00:04

Später:

Nun ja, Hendrix oder Dylan... meine Güte, DAS wäre wieder ein Gelehrtenstreit, der eine Nacht füllen könnte! Aber ich schlafe mal lieber drüber und sage einstweilen: Dylan gefällt mir auch.
diefrogg - 24. Okt, 15:12

Was den Text betrifft, da...

ähem... muss ich ehrlich sagen: Ich persönlich finde Wortbildungen, die das Verb "denken" enthalten, nie so ganz adäquat, wenn es um Songtexte geht. Der Text von All Along The Watchtower kann zweifelsohne auch für Literaturwissenschaftler von Interesse sein. Aber er ist wie alle Songtexte: Er tippt an, er legt nahe, er löst Gefühle aus, kurz, er ist suggestiv, er ist fragmentarisch. Nicht rational.

Oder was glauben Sie, was Dylan sagen wollte? Eine mögliche These: Wir werden eine halbe Apokalypse (zwei statt vier Reiter) bekommen, weil der Mensch so schlecht ist. Naja, interessant. Aber eine Analyse ist das nicht, höchstens eine in gleichnishaften Bildern ausgedrückte Ahnung. Und ein politisches Programm erst recht nicht.

Ein starker Text aber zweifelsohne. Dieses mittelalterliche Vokabular, das so archaisch wirkt. Diese Heraufbeschwörung von Verderben am Schluss. Brillant gemacht.
acqua - 23. Okt, 23:46

Schön gell, diese Strecke. Aber manchmal hat die Bahn Adhäsionsprobleme.

diefrogg - 23. Okt, 23:55

Adhäsionsprobleme?

Mir schien es gestern, die hätten eher ihre Passagiere! Mühe, auf dem Boden zu bleiben, meine ich.
acqua - 24. Okt, 00:07

Sie kommt manchmal nicht den Berg hinauf, weil die Steigung zu gross ist, Schienen zu glatt und der Zug zu schwer.
diefrogg - 24. Okt, 15:22

Ui!

Gut wusste ich das vor der Fahrt noch nicht! Man stelle sich vor, man müsste in Rothenturm oder Mogelsberg aussteigen und dort die Nacht verbringen, weil der Zug nicht weiter kann!
katiza - 24. Okt, 09:59

Schön, die Geschichte und Hendrix sowieso! Es freut mich, dass es gut ist!

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