luzern, luzern

20
Jan
2013

Hippies im Schnee


(Bank bei Uffikon LU, Bild vom pedestrian)

Die fünfte Etappe meines Wegs nach Norden enttäuschte aussichtsmässig. Ebensogut hätte ich in eine kaputte Bildröhre starren können, so heftig schneite es. Dafür hatte ich diesmal einen Begleiter: den pedestrian. Mit ihm könnte ich auch in einer Dunkelkammer heitere Runden drehen. Wir haben ja immer so viel zu berichten! Immerhin hatte er die Geistesgegenwart, die Flowerpower-Bank oben zu fotografieren.

Meines Wissens ist sie die einzige Sehenswürdigkeit auf der Strecke Knutwil - Eriswil - Uffikon - Dagmersellen. Uffikon war in den nuller Jahren für kurze Zeit berümt: als Hauptsitz des Künstlers Wetz. Er schuf dort mit überboderndem Witz und gigantischer Schaffenskraft ein Museum und nannte es stinkfrech das grösste KKL. Das hiess angeblich "Kunst und Kultur auf dem Land", war aber auch eine Anspielung auf das gleichnamige Konzerthaus mit internationaler Ausstrahlung in Luzern. Später stellte er auch noch einen Tempelhof in die Gegend.


(Quelle: www.sf.tv)

Damit überforderte er die Nachbarn. "Ein Tempel inmitten von Bauernhöfen? Sinnlos!" befanden sie. Wetz musste gehen - von schweizweitem Mediengetöse begleitet. Er waltet heute in Beromünster.

Ich wählte die Route aber nicht wegen Wetz, sondern wegen der Autobahn, die hier durch ein - im Sommer - unglaublich grünes Tal führt. Ich habe sie früher oft befahren und wollte sie einmal von oben sehen. Doch wir sahen sie nicht. Wir hörten sie nur. Statt dessen sahen wir - als sich das Schneegestöber für einen Moment lichtete - unter uns einen Strassenkreisel.

"Das", sagte der pedestrian fast aufgeregt, "war früher die Kreuzung von Buchs!" Buchs ist ein an sich unbedeutendes Dorf auf der anderen Talseite. Der pedestrian ist aber ortskundig und berichtete, dass die leere Strasse unter uns vor der Eröffnung der Autobahn 1980 die Hauptlinie gewesen sei, auf der man vom Nordkap nach Sizilien fuhr. "Im Sommer gab es hier oft lange Staus."

An jenem Tag im Dezember aber schien der Kreisel nur die linke These zu widerlegen, dass es keinen Sinn macht, neue Strassen zu bauen - weil sich alte und neue Strassen schnell wieder mit noch mehr Verkehr füllen. Der Kulturflaneur hat das alles hier einmal anschaulich erklärt. Der Kreisel von Buchs aber war an jenem Tag geradezu gespenstisch leer - derweil sich die nahe Autobahn geschäftig anhörte.

Vielleicht inspiriert von der Bank oben kamen wir später auf das legendäre Festival Woodstock zu sprechen, genauer: Auf den Film Taking Woodstock von Ang Lee.


(Quelle: outnow.ch)

Auch dem pedestrian hatte er gefallen. Etwa, weil er zeige, was passiert, wenn solch ungeheure Menschenmassen in ein Gebiet mit dünner Infrastruktur einfallen. Ich musste lachen. "Als würden sie sich alle auf die Kreuzung von Buchs zubewegen!" sagte ich.

Durch das Schneetreiben konnten wir die Geister einer Hippiekarawane schemenhaft sehen.

16
Jan
2013

Achtung Trickbetrug!

Es war heute um 10.15 Uhr. Ich war auf einem wenig begangenen Strässchen* in Luzern unterwegs. Ein Mann kam mir entgegen. Genau vor mir bückte er sich - da lag ein Ring im frisch gefallenen Schnee. Er hob ihn auf. Ich dachte: "Hübsch! Hoffentlich bringt er ihn aufs Fundbüro!" Ich hielt gar nicht an.

Der Mann rief mir nach: "Goldring gefunden! Sehen Sie!" Er eilte mir nach und hielt mir aufgeregt den Klunker unter die Nase. Er hatte eine kleine Alkoholfahne und sprach gebrochen Deutsch. "Ist Gold, sehen Sie! Stempel!" Er zeigte mir die zwei kleinen Gravuren auf der Innenseite des Schmuckstücks.


(Quelle: www.ksta.de)

Erst jetzt leuchtete irgendwo in meinem Hirn ein Alarmlämpchen auf. Da war doch etwas mit Trickbetrügern und gefälschten Goldringen und Stempeln... "Vous parlez français?" fragte der Mann. Ich sagte: "Un peu." Ich höre heute gut. Ich traute mir Französisch zu. Gleichzeitig arbeitete mein Hirn fieberhaft, aber langsam wie ein überlasteter Arbeitsspeicher.

Ich solle den Ring nehmen, sagte er. Er könne ihn nicht tragen - er zeigte mir seine Finger, die zu dick für den Ring waren. "Non, non, gardez-le!" sagte ich. Ich wollte nichts mit der Sache zu tun haben. Aber er war unnachgiebig. "La police..." sagte er und zeigte mit Gesten, dass er öfter gefilzt werde. Da nahm ich den Ring, bedankte mich und ging weiter. Immer noch drehte es in meinem Kopf leer.

Wieder eilte der Mann mir nach. Ob ich ihm nicht etwas Geld geben könne, er habe Hunger, sagte er. Inzwischen hatte mein Hirn das richtige File zu diesem Vorfall heruntergeladen. Jetzt musste ich es nur noch öffnen. Ich kramte in meinem Portmonee und gab dem Mann einen Fünfliber**.

Das sei nicht genug, bedeutete er mir. Er wolle mehr, schliesslich... Er wollte gerade ziemlich laut werden, als mein Erinnerungsvermögen endlich glasklare Daten lieferte: Natürlich! Genau eine solche Story hatte ich kürzlich in der Lokalzeitung gelesen. Die Goldringe seien gefälscht - man erkenne es am Doppelstempel. Mehrere ältere Leute seien auf den Trick hereingefallen und hätten den Klunker beim Goldschmied gegen Bares eintauschen wollen.

"ça suffit, Monsieur!" sagte ich bestimmt, legte den Ring wieder in den Schnee und ging weiter.

Seid gewarnt, Leser! Ähnliche Geschichten sollen sich auch anderswo zugetragen haben, etwa in Köln, Paris, Bochum und Mönchengladbach.


* Für Ortskundige: an der Ahornstrasse im Neustadtquartier
** Ein Fünffrankenstück

6
Jan
2013

Im Märchenwald

Der Surseer Wald ist ein stiller, ein tiefer Wald. Ein märchenhafter Wald. Hier irgendwo könnte der Prinz sich in sein Schneewittchen verliebt haben.


(Quelle: http://einestages.spiegel.de)

Hier irgendwo könnten Hänsel und Gretel sich verirrt und ein Hexenhäuschen gefunden haben. Auf meinem Weg nach Norden durchstreifte ich den Surseer Wald an einem Novembertag. Ich war mutterseelenallein, nur ein Radsportler mit einem teuflischen, rotschwarzen Trikot pfiff mir mehrmals um die Ohren.

Ich verliess den Wald am nordwestlichen Ende und blickte über eine riesige Ebene - das Surental. Es scheint immer noch in jenem Dornröschenschlaf zu liegen, aus dem das nahe Städtchen Sursee eben erwacht: Die Strassen sind hier einspurig, die Häuser spärlich und allesamt uralt.

Ich stand und staunte und holte tief Luft. In so weitem Land lässt es sich gut atmen.

Dann stieg ich den nordwestwärts Hang Richtung Knutwil hinauf. Erst hier sah ich, dass auch in dieser Gegend das 21. Jahrhundert nie weit weg ist. Bei Knutwil spielt es sich gut versteckt hinter der Krete des Hügels ab: Dort keuchen die 40-Tönner auf der A2 die Knutwiler Höhe hinauf. Die Stelle ist berüchtigt - weil es hier öfter und matschiger schneit als anderswo. Und weil die Laster hier warten müssen, wenn am Gotthard zu viel Verkehr ist.

Aber welch märchenhafte Aussicht von diesem Hang auf die Alpenkette!



Knutwil selber - ein kleines Dorf - erreichte ich zur Mittagszeit. Es war ebenfalls menschenleer und könnte einer Illustration in einem Grimm'schen Märchenbuch nachempfunden sein.



Bei so viel Märchenhaftigkeit muss man von Glück reden, dass in dieser Gegend immer wieder solche Schilder zu sehen sind:



Sie zeigen im Luzernischen die Geburt eines Kindes an - oft sind es Gotten oder Götti, die der jungen Familie ein solches Standbildchen mit Namen und Geburtsdatum des Kindes vors Haus stellen. Die vielen Tafeln zeigen: Der Luzerner Landschaft werden die kleinen Märchen-Konsumenten nicht so schnell ausgehen.

19
Dez
2012

Enttäuschung im Tunnel

An manchen Tagen höre ich ziemlich gut. Dann amüsiere ich mich oft königlich über die Gespräche von Fremden im öffentlichen Verkehr. Zum Beispiel heute, als ich durch Luzerns neuen Eisenbahntunnel fuhr, den Hubelmatt- und Allmendtunnel.

Er ist im November eröffnet worden und erleichtert den Pendlern aus Ob- und Nidwalden die Zugreise in die Stadt. Zudem beendet er die Epoche der immer chaotischeren Staus vor den Bahnschranken in Luzern Süd. Hier und hier mehr darüber.

Unterwegs in den Kanton Obwalden hatte ich heute bei der Einfahrt ins 1300 Meter lange Loch natürlich hohe Erwartungen. Aber so ein Tunnel ist im Grunde etwas Enttäuschendes. Man sieht ja nichts als Wände. Im neuen Tunnel sind sie zwar diskret beleuchtet - aber dennoch einfach Wände. Und die unterirdische S-Bahn-Haltestelle Allmend/Messe ist zwar funkelnagelneu, aber auch sehr, sehr leer. Da wollte sich partout kein grossstädtisches U-Bahn-Feeling einstellen.

Amüsant wurde es auf dem Rückweg. Im Abteil schräg gegenüber sass ein Obwaldner Paar mit drei Kindern. Der älteste Bub, etwa acht, langweilte sich. "Däddy, wann kommt der neue Tunnel?" klönte er so ab Hergiswil im Zehnsekundentakt. Dann, kurz vor Horw setzte der Refrain ein: "Der neue Tunnel kommt gleich! Der neue Tunnel kommt gleich!"

Dann kam der neue Tunnel.

Stille. Dann der Bub: "Däddy, das ist ja gar nicht so dunkel!" Offenbar hatte er sich etwas viel Gruseligeres gewünscht.

17
Dez
2012

Verloren im Wald

Vor einem Monat habe ich meine Leser an einem äusserst unwirtlichen Ort hängen lassen. Ihr erinnert Euch: Meine Spazier-Exkursion nach Norden brach Mitte November an einem wohl mit ironischer Absicht "im Venedig" genannten Weg am Rand von Sursee abrupt ab. Mitten im Autobahnlärm.

So etwas ist schäbig und sonst nicht meiner Art. Aber ich habe eine halbwegs plausible Entschuldigung: Ich wusste schlicht nicht, wie ich die Geschichte meines Weitermarsches erzählen sollte. Real sah die Lage so aus: Vor mir lag der Surseer Wald. Ich hatte die Wahl zwischen drei Routen nach Norden, und am Wegrand standen auch zwei gelbe Wegweiser. Aber keiner zeigte exakt nach einem der möglichen Ziele. Es war wie verhext. Ich sah vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr.



Narrativ spielte ich an dieser stelle auf Zeit. Ich schrieb die viel beachtete Kolumne Geheimnisse aus der Luzerner Provinz über Kuriositäten unter den Luzerner Flurnamen. Das machte Sinn, denn vor mir lagen zwei mögliche Ziele, deren Namen unbedingt zu den Kuriositäten zählen: "Chnutu" (Knutwil) und, preisverdächtig, "Teret" (St. Erhard) - soll mich keiner fragen, welches Lautgesetz so etwas hervorgebracht hat!

Aber dann brachte ich Teret und Chnutu in meiner Kolumne nicht einmal unter. So schwierig ist es manchmal, in einer Geschichte von A nach B zu kommen!

In der Realität folgte ich nach einigem Zögern zunächst der Sure. In meinem letzten Beitrag habe ich sie noch Suhre genannt. Unterdessen hat mich aber ein Bewohner der Gegend unwirsch darauf aufmerksam gemacht, dass sich das Fliessgewässer erst im Kanton Aargau ein "h" aneignet. So viel zu den hauchfeinen Unterschieden, die der Kantönligeist bei uns erzwingt.

Überhaupt gehört die Sure zu den Gewässern, die viele Leute mit einem heimatseligen Leuchten in den Augen erwähnen. Weshalb, ist mir immer noch schleierhaft. Für mich ist und bleibt sie ein unscheinbares Flüsschen mit einer undefinierbaren Farbe.



Vielleicht eignet sie sich im Kanton Aargau mit dem "h" eine herbe Schönheit an - wer weiss? Ich nicht. Nach einigen hundert Schritten hatte ich genug von ihr gesehen. Ich bog ab und folgte meinem Instinkt und einem Wegweiser Richtung Knutwil. Erst jetzt geht die Geschichte weiter - und wird richtig märchenhaft! Aber davon später.

8
Dez
2012

Flucht vor dem Weihnachtsrummel

Heute ist in der katholischen Schweiz ein Feiertag: Mariä Empfängnis. Er ist ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit, das wie ein Findling in unserem stromlinienförmigen Büro- und Shopping-Alltag liegt - keiner weiss, warum. Wer nicht aufpasst und am Abend vor einem solchen Feiertag nach 16 Uhr noch schnell ein Brot fürs Abendessen einkaufen will, donnert mit Vollgas in den erratischen Block: Er steht vor verschlossenen Ladentüren. Und am Feiertag selber war früher total tote Hose.

Jahrzehntelang waren an Mariä Empfängnis in der Innerschweiz nicht nur die Einkaufsstrassen leer, sondern auch die Kirchen. Voll waren dagegen die Züge nach dem reformierten Zürich: Die Innerschweizer trugen im grossen Stil Weihnachts-Umsätze nach Downtown Switzerland, die Luzerner Ladenbesitzer machten lange Gesichter. Bis der Kantonsrat durchgriff und den 8. Dezember offiziell zum Tag der offenen Läden erklärte. "Mary Shopping Day", nennt ihn der Kulturflaneur. Und genau das ist er geworden. Wer vorweihnachtlichen Einkaufsrummel meiden will und kann, meidet an diesem Tag am besten die Luzerner Altstadt.

"Ich gehe spazieren, irgendwo aufs Land", sagte ich am Morgen denn auch zum Kulturflaneur. "Da wirst Du die Moon Boots anziehen müssen", sagte er. Und wirklich: So sahen draussen die Strassen aus.



Moon Boots brauchte ich keine, auch wenn die Trottoirs nicht überall so gut geräumt waren wie hier auf dem Bild. Ich stapfte durch den Schnee, umkreiste die Altstadt und machte den einen oder anderen Fotohalt - etwa unter dem berühmten Männliturm.



Ich sah Menschen mit gehetzten Mienen stadteinwärts streben und war selber viel langsamer als erwartet. Noch am Stadtrand musste ich Mittagsrast machen. Ich begab mich ins Restaurant mit dem weihnachtlichen Namen Drei Könige. Dort ass ich gut und währschaft und stellte amüsiert fest, dass eine bekannte Schweizer Biermarke den Winter im Kleinen zelebriert.



Gegen den Grossen draussen kommt sie so nie an, dachte ich.

Dazu blätterte ich in der aktuellen Annabelle. Sie ist opulent mit goldener und silberner und duftender Werbung verziert und überhaupt einfach opulent - ein Magazin für Frauen, die über Ohrringe für 9000 Franken nachdenken können. Ich stellte erstaunt fest, wie oft solche Frauen sich etwas Gutes tun müssen. "Rundum abschalten und sich verwöhnen lassen", lautete ein Titel, und ich lernte beim Lesen: Um rundum abschalten zu können, müssen privilegierte Frauen unglaublich viel aufwenden, an Geld, an Zeit, an Reisebereitschaft. Die Ärmsten!

Ich trank ein Käfeli, legte die Annabelle weg, zahlte und bestieg den Sonnenberg. Dort oben verfiel ich meinem ganz eigenen Weihnachtszauber - dem lichten Momenten und den harten Kontrasten eines Wintertags.

17
Nov
2012

Geheimnisse aus der Luzerner Provinz

Der Kulturflaneur, mein Liebster, ist ja eine Zörischnorre, wie man bei uns im Kanton Luzern sagt. Das heisst: Er stammt aus Zürich und spricht auch Zürcher Dialekt. Allerdings hat er anders als viele Zürcher keinen Zürcher Komplex*. Das heisst: Man kann ihn in die Geheimnisse der Provinz einweihen und er freut sich darüber - während andere Zürcher sofort Angst bekommen, sie seien jetzt auch Provinzler.

Deshalb erzähle ich ihm gerne im breitesten Luzerner Dialekt von meinen Spazier-Routen: "Vo Eibu uf Baubu, uf Ursmu und de uf Hofdere." Achtung: Alles auf der ersten Silbe betonen! Klingt chinesisch, nicht wahr? Ihr werdet diese Orte auch nicht auf Google Maps finden. Wohl aber Inwil (Eibu), Ballwil (Baubu), Urswil (Ursmu) und Hochdorf (Hofdere).



Das alles hat ohnehin mehr Ähnlichkeiten mit Polnisch als mit Chinesisch. Auch im Polnischen gibt es ja Fälle, in denen das "L" durchgestrichen und dann ungefähr als "wu" ausgesprochen wird. So heisst łódź eben "wuodsch" und nicht "lotsch". Und damit wir im Luzernischen genau zu diesem hübschen "wu"-Laut am Schluss des Wortes kommen, bauen wir halt die Wörter ein bisschen um. So wird auch Ruswil zu "Rusmu" - und ein Mann aus Ruswil ist ein "Rusmeler". aber Achtung: Der Nachbarort von Rusmu, Ettiswil heisst nicht etwa Ettismu, sondern "Ettiswiu" mit einem langen "i". - weil das Wort vorher zwei Silben hat. Eben: Zürcher kann man damit endlos verwirren.

Die schönste Geschichte aber will mir der Kulturflaneur immer noch nicht glauben: Weit, weit hinten im Luzerner Hinterland gibt es ein Dorf namens Gettnau - oder "Gättnou", wie es dort heisst. Die Überlieferung will es, dass einmal in den frühen sechziger Jahren so ein ausgeflippter junger Engländer dort war:



Ein gewisser Mick Jagger. Was er so tief im ländlichen Napfgebiet verloren hatte? Niemand weiss es. Aber er habe sich dort zu einem unsterblichen Hit inspirieren lassen, etwas wie: gätt nou satisfaction.


* Der Zürcher Komplex bezeichnet die Angst, in einer Metropole zu leben, die nicht wirklich eine Grossstadt ist - und deshalb eben auch ein Provinzler zu sein. Sie ist unter Zürchern sehr verbreitet.

15
Nov
2012

Venedig des Nordens

Sursee ist eine zauberhafte, kleine Stadt.


(Quelle: www.da.lu.ch)

Gerade scheint sie aus einem hundert Jahre langen Dornröschenschlaf zu erwachen - und richtet ihren Blick architektonisch stilsicher in die Zukunft. (Hier noch ein paar Bilder). Landstreicherin Frogg hatte im Städtchen aber ein Problem: Sie wusste nicht, wie sie es nordwärts verlassen sollte. Sie sah auf der Landkarte: Die Autobahn A2 umschliesst die Kleinstadt oben wie ein zu enger Stehkragen. Kein Weg scheint hinauszuführen. Es sah so aus, als würde mein Projekt nach Norden hier in einen Dornröschenschlaf fallen.

Aber dann küsste mich ein Novembertag im Nadelstreifenanzug - viel Grau, aber gestochen scharfes Licht. Er rief zur Erfüllung guter Vorsätze. Ich fuhr mit der S-Bahn nach Sursee und machte mich auf den Weg.

Ich liess mich von meinem Instinkt und den gelben Wegweisern beim Bahnhof lenken. Sie führten mich zur Suhre, dem grünlichen Fluss im Bild oben. Er verliert am Stadtrand zwar seine Magie - und er fliesst ein bisschen zu direkt nach Norden. Mir wäre hier ein leichter Dreh nach Nordwesten lieber gewesen. Ich folgte ihm dennoch und erreichte eine Bogenbrücke - und siehe da: Sie führte über die Autobahn. Architektonisch macht sie weniger her als andere Bauten in Sursee, das bei den Einheimischen "Soorsi" heisst. Aber für sie, die Soorser, scheint sie die Rialto-Brücke selber zu sein. Jedenfalls fand ich gleich danach dieses Strassenschild.

31
Aug
2012

Ich war ein Mauerblümchen

Wissen meine jüngeren Leser überhaupt noch, was ein Mauerblümchen ist? Falls nicht: Macht nichts! Der Begriff ist im Abfalleimer der Geschichte bestens aufgehoben. Er bezeichnete Mitte des letzten Jahrhunderts despektierlich ein unscheinbares Mädchen. Präziser noch: ein Mädchen, das nie zum Tanzen aufgefordert wird.

Ich kam in die Pubertät, als anderswo gerade der Punk erfunden wurde. Aber für meine Eltern galt der Paartanz immer noch als erstrebenswerte Art, einen jungen Mann kennen zu lernen. Nur: Dafür durfte man natürlich kein Mauerblümchen sein. Und ich stand schon vor dem ersten Tanzfest unter Mauerblümchen-Verdacht. Wegen meines breiten Hinterteils und meiner Gefrässigkeit beim Lesen.

Eines Samstagabends spielte in unserem Quartier dann die Tanzmusik auf. Argwöhnisch harrte ich der Dinge, die da kommen sollten. Ich sass auch noch neben der Prinzessin - ausgerechnet. Etwa beim zweiten Takt - schwups - entschwebte sie am Arm eines gut aussehenden Fremden. Ich sass da und wartete. Und wartete. Da war erwiesen: Ich war ein Mauerblümchen. Und alle Nachbarn sahen es.

Wie ich dem Mauerblümchen-Terror die Stirn geboten habe, habe ich anderswo beschrieben. Erzählen wollte ich hier eigentlich von diesen winzigen Blümchen.



Ich fand sie neulich mitten in der Stadt. Sie wachsen reichlich an der Quaimauer beim Flohmarkt.


(Quelle: www.familienstadtführer.ch)

Ich kannte es nicht und hatte es nie zuvor beachtet. Aber ich empfand eine instinktive Sympathie für das Pflänzchen, das da unbeirrt im Schatten einer wöchentlichen Grossveranstaltung gedeiht. Recherchen ergaben: Es war ein Mauerblümchen, auch Zimbelkraut genannt. Ich lachte.

Dann las ich mich ein und lernte: Mauerblümchen fallen nicht auf. Aber sie sind schlau. Wenn ihre Fruchtstiele reifen, wenden sie sich vom Licht ab. Ihre Samen fallen dann direkt wieder in die Mauerspalten. Dort treiben sie aus - und so vermehren Mauerblümchen sich bestens.

12
Aug
2012

Psychedelische Pflanze

Früher bin ich gerne gereist. Meine treuen Leser wissen, mit welchem Enthusiasmus ich hier noch vor wenigen Jahren meine Eindrücke aus fernen Ländern hier ausgebreitet habe. Ich gestehe es mir ungern ein, aber heute ist das anders: Am besten geht es mir heute, wenn ich zu Hause bin. Reisen ist nicht mehr so mein Ding. Reisen ist ein Rezept für Hörstürze, Erschöpfung und schlechte Laune.

"Wie langweilig! Nun bin ich dazu verdammt, jeden Tag dieselben Strassen auf- und abzuspazieren", klagte Frau Frogg. Sie war gerade auf dem Weg ins Büro. Und der schien ungeheuer monoton - rundum das ewiggleiche, sommermüde aussehende Grün von Hecken, Gärtchen und sich selbst überlassenen Halden. Bis zu viermal am Tag! Gähn!

Ich brauchte Hilfe und besorgte mir dieses Buch:



Ich stöberte ein bisschen darin. Dann trat ich vors Haus - und schon nach drei oder vier Schritten beachtete ich zum ersten Mal überhaupt dieses zarte Pflänzchen:

DSCN0502

Es ist nichts weiter als ein Schachtelhalm - ein an sich harmloses Gewächs. Aber der Anblick hatte eine geradezu psychedelische Wirkung. Plötzlich hörte ich die Stimme meines aus dem Solothurnischen stammenden Grossvaters: "Das si Chatzeschwänz!" - das sind Katzenschwäze, sagte er zu uns, wenn wir auf unseren Sonntagsspaziergängen die viel robusteren Verwandten unseres schütteren Kiesplatz-Gewächses sahen:


(Waldschachtelhalme -Bildquelle: Wikipedia)

Im Geiste ging ich wie damals als Vierjährige vor der Pflanze in die Hocke. Ich bestaunte fasziniert ihren geometrisch so simplen und schönen Bauplan und nahm wie damals im Geiste einen Halm an den Sollbruchstellen auseinander. Etwas Schaum klebte an meinen Fingern.

Später googelte ich Schachtelhalme. Ich lernte: Die Gattung der Schachtelhalme ist 375 Millionen Jahre alt - und meine Phantasie wucherte weiter. In Luzern müssen schon Schachtelhalme gewachsen sein, als homo sapiens noch nicht einmal in Afrika herumhuschte. Ich sah Schachtelhalm-Urwälder über unserem Haus wuchern, sah einen Dinosaurier fasziniert durchs Dachfenster linsen und die winzigen Gestalten in der Wohnstube beäugen.

Ich lernte auch: Schachtelhalme sind hartnäckige Unkräuter. Da nahm mein Sinn fürs Praktische wieder überhand. Nicht, dass ich zu jäten begonnen hätte, bewahre! Aber ich nahm ein kleines Inventar der Schachtelhalme rund um unser Haus auf - und ich lernte eine Menge über Humanbiologie seiner Bewohner. Man muss wissen: Es handelt sich um ein Haus mit zwei Treppenhäusern und ergo zwei Hausgemeinschaften. Die Parteien im Erdgeschoss müssen den Kiesplatz vor dem Haus jäten. Auf unserer Seite ist das unsere tamilische Nachbarin - den Jätmeister von nebenan kenne ich nicht mal. Ich stellte nur fest: Auf unserer Seite gibt es nicht einen einzigen Schachtelhalm. Alle fünf oder sechs Pflänzchen wachsen jenseits der Regenröhre, die die beiden Hausteile genau in zwei Hälften teilt.

Das heisst: Unsere tamilische Nachbarin jätet also viel gewissenhafter als die von drüben.

Weshalb das so ist - nun, darüber könnte man einen halben Roman schreiben.
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