31
Aug
2012

Ich war ein Mauerblümchen

Wissen meine jüngeren Leser überhaupt noch, was ein Mauerblümchen ist? Falls nicht: Macht nichts! Der Begriff ist im Abfalleimer der Geschichte bestens aufgehoben. Er bezeichnete Mitte des letzten Jahrhunderts despektierlich ein unscheinbares Mädchen. Präziser noch: ein Mädchen, das nie zum Tanzen aufgefordert wird.

Ich kam in die Pubertät, als anderswo gerade der Punk erfunden wurde. Aber für meine Eltern galt der Paartanz immer noch als erstrebenswerte Art, einen jungen Mann kennen zu lernen. Nur: Dafür durfte man natürlich kein Mauerblümchen sein. Und ich stand schon vor dem ersten Tanzfest unter Mauerblümchen-Verdacht. Wegen meines breiten Hinterteils und meiner Gefrässigkeit beim Lesen.

Eines Samstagabends spielte in unserem Quartier dann die Tanzmusik auf. Argwöhnisch harrte ich der Dinge, die da kommen sollten. Ich sass auch noch neben der Prinzessin - ausgerechnet. Etwa beim zweiten Takt - schwups - entschwebte sie am Arm eines gut aussehenden Fremden. Ich sass da und wartete. Und wartete. Da war erwiesen: Ich war ein Mauerblümchen. Und alle Nachbarn sahen es.

Wie ich dem Mauerblümchen-Terror die Stirn geboten habe, habe ich anderswo beschrieben. Erzählen wollte ich hier eigentlich von diesen winzigen Blümchen.



Ich fand sie neulich mitten in der Stadt. Sie wachsen reichlich an der Quaimauer beim Flohmarkt.


(Quelle: www.familienstadtführer.ch)

Ich kannte es nicht und hatte es nie zuvor beachtet. Aber ich empfand eine instinktive Sympathie für das Pflänzchen, das da unbeirrt im Schatten einer wöchentlichen Grossveranstaltung gedeiht. Recherchen ergaben: Es war ein Mauerblümchen, auch Zimbelkraut genannt. Ich lachte.

Dann las ich mich ein und lernte: Mauerblümchen fallen nicht auf. Aber sie sind schlau. Wenn ihre Fruchtstiele reifen, wenden sie sich vom Licht ab. Ihre Samen fallen dann direkt wieder in die Mauerspalten. Dort treiben sie aus - und so vermehren Mauerblümchen sich bestens.

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walküre - 1. Sep, 13:38

Frau Frogg, ich wollte diese Anmerkung damals nicht zum Beitrag mit dem Bild schreiben, aber dieser - eindeutig aufgezwungene, denn niemand hat sich damals in solcher Kleidung und mit solcher Haartracht wohlgefühlt - Mädchentypus gedeiht/gedieh (oder sollte ich besser schreiben: kümmerte vor sich hin ?) vorwiegend in ländlichen, stark katholische geprägten Regionen. Weiblichkeit stellt nämlich im Katholizismus eine Bedrohung dar und muss insofern mit allen Mitteln (dazu gehört auch "züchtige" Kleidung) rigoros unterdrückt werden, und jeder Anflug von Eitelkeit, uiuiui, Eitelkeit erst recht ! Das wär ja noch schöner, wenn eine Frau anfinge, sich in ihrer Haut wohlzufühlen ! Da könnt es ja dann sein, dass so eine Weibsperson gar noch meint, sie könne mitreden, und das geht schon überhaupt nicht ! Diese Reglementierung funktioniert via Gruppendruck übrigens auch dann, wenn die eigentliche Familie gar nicht sonderlich religiös ist.

Wohlgemerkt: Ich habe kein Problem mit Menschen, die aus freien Stücken unscheinbar auftreten - aufgezwungen darf solches jedoch keinesfalls sein.

PS: Da ich bereits die Freude hatte, Sie persönlich kennenzulernen, kann ich Ihnen guten Gewissens versichern, dass Sie heute, als erwachsene Frau, eine aparte Erscheinung sind.

diefrogg - 1. Sep, 14:35

Meine Rede,

Frau Walküre, meine Rede! Ich kann nur sagen: Gott sei Dank, dass ich in einer Zeit aufwuchs, als diese Mischung aus katholischem Mief und kleinbürgerliche Enge aufzubrechen begann: Ich gehörte zur höchstens zweiten Mädchengeneration in unserer Stadt, die das Gymnasium besuchen durfte - und Gott sei Dank gab es die Rockmusik! Und Discos, in denen man auch tanzen durfte, ohne einen Partner zu haben.

Danke für das Kompliment, übrigens! Schön, das zu lesen. Ich fühle mich in meinen Reisekleidern immer definitiv unhip ;) Aber sie sind halt einfach so bequem.

Und verbotene Eitelkeit? Oh ja! Verbotetenes Selbstbewusstsein? Oh, ja! Ich arbeite heute noch dran.
steppenhund - 1. Sep, 13:43

Es gibt auch das männliche Gegenstück. Obwohl ich kein Mauerblümchen war, (wie ich später noch schreiben werde) fühlte ich mich wie eines. Deswegen war ich dann dauernd auf Aufriss aus und freute mich, wenn ich ein Mädchen dazu bringen konnte, sich mit mir zu beschäftigen.
Heute glaubt mir das ja keiner, aber ich hatte ziemliche Minderwertigkeitskomplexe. Weil ich anders war. Wie anders? Habe ich schon einmal anderswo angedeutet.
Aber den größten Schock erlebte ich, als ich fast 40 Jahre später eine gute Freundin, die aber nie mehr war als eine Freundin, obwohl ich wahnsinnig in sie verliebt war, einmal scherzhaft fragte, warum es nichts mit uns beiden geworden wäre. Ich wäre ihr "zu schön" gewesen! Was für ein Hammer. Tatsächlich hat sie sich dann aber selbst mit einem Schönling zusammen getan, der sie später für eine blonde Sekretärin verlassen hat.
Die Frage der Mauerblümchen ist nicht so sehr das Aussehen, sondern die innere Haltung, die sich einstellt. Manche gar nicht so hübschen Mädchen hatten die Burschen scharenweise um sich, weil sie eine so gute Laune versprühten.
-
Was die Pflanzen aber angeht, bin ich ein Fan von Flechten. Erstmals habe ich die im Museum am Großglockner kennen gelernt. Und die sind faszinierend, überstehen größte Temperaturunterschiede und sind in meinen Augen wunderschön. Und ebenso leicht zu übersehen...

diefrogg - 1. Sep, 14:42

Naja, ich denke...

viele von uns hatten in den Teenager-Jahren echte Minderwertigkeitskomplexe. Die Jugend ist eigentlich ein unglaubliches Abenteuer! Und vielerorts bekommen die Jugendlichen vom Umfeld nicht zwangsläufig die beste Vorbereitung darauf.

Was die Mädchen betrifft, die die Burschen scharenweise um sich hatten, weil sie so gute Laune versprühten: Wenns nicht gerade ein Tanzanlass war, konnte ich mich eigentlich selten über ein Fehlen männlicher Gesellschaft beklagen. Ich war wohl eher so der Kumpel-Typ.
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