luzern, luzern

20
Dez
2014

Meine Strasse


Das Restaurant Libelle an der Maihofstrasse 61 in Luzern

Der pedestrian* und ich standen neulich zusammen vor diesem Restaurant. Er erinnerte mich daran, dass im selben Lokal noch vor einem Jahr ein Matratzenladen war. "Wenn in einem Haus am Stadtrand Matratzen verkauft werden, dann ist der Tiefpunkt erreicht", sagte er. Er meinte den Tiefpunkt des städtischen Lebens. Matratzenläden sind meistens an Ausfallstrassen - und an Ausfallstrassen will kein Mensch verweilen.

Wir bewunderten beide das neue Lokal gebührend - es zeigt doch, dass die Maihofstrasse zu neuem Leben erwacht.

Dann griffen wir zu unseren Kameras und machten uns an die Arbeit. Wir waren hier für unser gemeinsames Spaziergänger-Projekt. Aufgabe: In einer Dreiviertelstunde die Maihofstrasse fotografieren, zwischen der "Libelle" und der Tankstelle an der Stadtgrenze, ungefähr 300 Meter. Danach machen wir auf dem Internet etwas draus - jeder auf seine Art. Was der pedestrian gemacht hat, ist hier zu sehen.

Vom Maihofquartier könnte ich stundenlang erzählen. Ich wohne in der Gegend. Ich habe den Niedergang der Strasse durch tägliche Anschauung erlebt. Noch bis Anfangs der nuller Jahre hatte der Maihof eine Beiz, eine Post, ein Quartierlädeli und sogar eine Drogerie. Dann schloss die Post. Dann die Drogerie, dann das Lädeli. Nur die Beiz, das Maihöfli, blieb.


Seiteneingang des Restaurants Maihöfli, Maihofstrasse 70

Es war bereits in den neunziger Jahren ein Gourmet-Tempel geworden. Seither kann man hier in gemütlichem Ambiente für ein exorbitant gutes Essen exorbitant viel Geld ausgeben. Herr T. und ich essen dort, wenn wir etwas zu feiern haben. Es liegt direkt gegenüber der "Libelle" - wir haben jetzt fast schon eine Ausgehmeile im Quartier.

Weiter stadtauswärts dominieren ältere Wohnhäuser. Aber dicht an der Stadtgrenze steht die Nummer 95, ein erst drei, vier Jahre altes Gebäude. Es steht mit für den Aufbruch an der Maihofstrasse. Als es neu war, schien es mir aussergewöhnlich ambitioniert für diese Gegend.


Maihofstrasse 95

Es beherbergt ein Fitness-Zentrum, eine englischsprachige Schule, einen Hörgeräte- und einen Küchenladen.


Selbstporträt mit Kochtöpfen an der Maihofstrasse 95c

Nach Besichtigung der Nummer 95 wurde ich regelbrüchig. Ich zog von der Strasse weg, hinauf zur Maihofmatte. Hier kann man die Kehrseite der Neubelebung besichtigen. Seit 1948 steht hier eine Wohnsiedlung der Allgemeinen Baugenossenschaft Luzern (ABL) - nie saniert, die Wohnungen spottbillig.


Maihofmatte

Aber jetzt ist hier der Dornröschenschlaf zu Ende: Ab 2016 wird gebaut, meldete die Neue Luzerner Zeitung kürzlich. Danach dürften die Mietzinse in für viele der jetzigen Bewohner exorbitante Höhen steigen.

* Dank an den pedestrian für die Inspiration und die Arbeit an den Bildern!

27
Feb
2014

Pistolenschüsse


Schmutziger Donnerstag in der Luzerner Altstadt

Hier in Luzern ist gerade die Fasnacht ausgebrochen. Da sind Sitte und Moral und anständiges Benehmen immer grosse Themen, wie man auch auf dem Bild oben sieht - es zeigt einen Sittenpolizisten beim Tändeln mit einer Klientin. An der Fasnacht darf man alles, was man sonst nie darf, heisst es.

Wobei das nicht für die Schüler der Stadt Luzern gilt. Die dürfen an die Schulfasnacht keine Spielzeugwaffen mehr mitnehmen - ihr wisst schon: Ritterschwerter und Chäpsli-Pistolen*.

"Die haben das wegen der Sauerei verboten", erklärte mir Gottenbub Tim (8) mit seinem kompetentesten Ton. "Diese Chäpsli geben so eine Sauerei." Man kann Kindern ja nicht erklären, dass Schiessen mit Chäpsli-Pistolen politisch nicht korrekt ist. Deshalb das Kindermärchen von der Sauerei. Immerhin ist wohl die Sauerei die wahre Ursache dafür, dass die Kids auf dem Pausenplatz nur noch auf einem extra dafür bezeichneten Plätzchen mit Konfetti und Luftschlangen um sich werfen dürfen. Die Patentante (49) langte sich an den Kopf, als sie das hörte. Wo kommen wir hin, wenn an der Fasnacht die Chäpsli-Pistolen und die Konfetti verboten werden?! Können dergestalt gezähmte Kinder überhaupt normale Erwachsene werden?!

Nun ist die Patentante seit Jahren aus gesundheitlichen Gründen fasnachtsabstinent. Denn an der Fasnacht trifft sie immer die ätzende Schwester der Schwerhörigkeit: die Hyperakusis, auch Lärmempfindlichkeit (hier mehr hier über sie).

Aber dann packte er mich heute doch, der Fasnachtsvirus. Zum ersten Mal seit Jahren. Mit gut verstöpselten Ohren machte ich mich am Nachmittag für ein Viertelstündchen auf ins Getümmel in der Altstadt. Das erste was ich hörte, war: Die Chäpsli-Pistole ist keineswegs aus dem fasnächtlichen Soundpanorama verschwunden. Im Gegenteil! Was für ein Geknalle! Hinter jeder Ecke Cowboys, Räuber, Polizisten! Gott sei Dank ist noch niemand auf die Idee gekommen, Ohropax zu verbieten.

Später machte ich zu Hause eine Google-Bildersuche nach Chäpsli-Pistolen. Da wurde mir klar, was man heute für Spielzeugwaffenarsenale man heute so kaufen kann. Wahres Kreigsspielzeug! Plötzlich begriff ich das Verbot.

* Das sind diese Spielzeug-Pistolen, mit denen man rosarote Streifen mit Knallerbsen verschiessen kann. Keine Ahnung, wie das auf Hochdeutsch heisst.

27
Nov
2013

Jubel im traurigen Café

Alles hier ist in langen Jahren ins gleiche, undefinierbare Gelblich herübergewelkt: die Wände, die Vorhänge, die Gäste. Es ist ein himmeltrauriges Café. Fast unsichtbar steht es im Verkehrsgebrüll einer Ausfallstrasse. Ich bin überhaupt nur hier, weil ich in der Nähe einen Termin habe und viel zu früh dran war.

Ich bin in eine untergehende Welt geraten. Zwei alte Männer blättern stoisch in der Zeitung. Es ist früher Nachmittag. Der Wirt - selber steinalt - bringt im Zeitlupentempo zwei Teller mit Speck und Bohnen - für sich und seine Frau, die im Lokal serviert. Er hat ein Zwänzgabachtimuul*.

Plötzlich fragt der eine Rentner den Wirt über zwei Tische hinweg: "Hesch de Match gseh?"** "Jojo", sagt der Wirt, "aber die hend jo schlächt gschpelt, die andere, die hättid doch das vel besser chönne!"*** Seine Mundwinkel sinken noch tiefer, so viel Verachtung in einem einzigen Gesicht! Sie zielt wohl auf Chelsea, das gestern Abend an der Champion's League vom FC Basel abgetrocknet wurde. Eine Sensation! Bilder vom jubelnden Basler Torschützen Salah zieren heute sämtliche Frontseiten im Land.


(Quelle: tageswoche.ch)

Der Gast lässt sich nicht beirren. "Momoll", sagt er, "die hend scho guet gschpelt, mer hed das gfalle!"****

Unerwartet mischt sich auch der andere Gast ein, ein neunzigjähriger Geist mit blauen Ringen unter den Augen und einem zeitlosen Buchhalter-Anzug: "Das hat es noch nie gegeben!" ruft er aus, "Auf der linken Flanke war jeder einzelne in Topform, von vorne bis hinten. Das wird es lange, lange nicht mehr geben!"

Nun kommt Begeisterung auf, der gelbliche Raum leuchtet, phosphoresziert gewissermassen. Die Mundwinkel des Wirtes stehen bald auf fünf vor halb sieben, aber er kann nichts gegen die plötzliche Lebendigkeit in seinem Lokal tun. Sie dauert wenige Minuten.

Dann geht der erste Gast. "Emmer vorewäg nä!", sagt der Wirt zum Abschied. "Jojo, nämmers wies chond"*****, sagt der Gast. Es ist der Rentnergruss in unserer Stadt.


*Luzerndeutsch für eine mürrische Miene: Die Mundwinkel sehen aus wie Uhrzeiger, die auf zwanzig nach acht stehen.
** "Hast Du den Match gesehen?"
*** "Die haben doch schlecht gespielt. Die hätten das doch viel besser gekonnt."
**** "Die waren schon in Ordnung. Mir hat das gefallen."
**** Zwei Versionen von: "Wir werden schön eins ums andere tun."

29
Sep
2013

Flucht aus der Fata Morgana

Am Freitag hatte ich eigentlich vor, wieder ins Fitness-Center zu gehen. Aber es war ein Tag wie aus dem Bilderbuch. "Wer an einem solchen Tag in eine düstere Muckibude geht, ist selber schuld", sagte Frau Frogg.

Ich ging spazieren.

Ich startete am Seetalplatz bei den grossen Fabriken. Aber eigentlich suchte ich etwas anderes. Rechts der Kleinen Emme fand ich zwischen Autogaragen und Spenglerbetrieben den Aufstieg durch den Rothenwald. Schliesslich stand ich auf einem Hügel mit Sportplatz und sah, was ich hatte sehen wollen: die Fata Morgana.



Die Siedlung im Vordergrund heisst eigentlich Pilatusblick - auch wenn man auf dem Bild die Rigi sieht. Es ist sowieso ein schwaches Bild, ein Handybild halt. Es erklärt nicht, warum ich die Häuser die Fata Morgana nenne. Ich nenne sie so, weil sie weiss schimmert - bei jedem Wetter. Und weil sie, nur leicht erhaben über Wohnsilos und Fabriken, unerschrocken das Ideal des Lebens im Einfamilienhaus behauptet.

Ich stieg hinunter in die Fata Morgana. Und, Freunde, ich wollte gewiss nicht auffallen und folgte auch nur dem Hauptweg durchs Quartier. Aber schon an der ersten Strassenecke folgten mir die argwöhnischen Blicke dreier Anwohner. Sofort war klar: Hier sind Eindringlinge nicht willkommen.

Ich machte mich vom Acker. Ich wollte nicht, dass man mir die Polizei auf den Hals hetzt. Als ich bei der Hauptstrasse war, grinste der DJ in meinem Kopf pfiffig und warf einen Song aus den achtziger Jahren an: Reussbühl von Hösli.

Ich leb' in einem Örtchen, das
sich aufgegeben hat

Geschichte nicht kennt - nicht will

Mit fünftausend mehr wär's
vielleicht 'ne Stadt

My God - I live in Reussbühl-Hill

Die Polizei, das hört' ich sagen
die hat einen Schlüssel für
meine Wohnung in Reussbühl

Sie lieben keine Blumen und
hegen keine Gärten

Lieben's dunkel und löschen das
Licht dazu

Haben Krach mit vollbehaarten
Hausabwarten

Um acht ist Nacht und dann ist
Ruh

Die Asylanten, das hört' ich
sagen, die binden den Abfall-
sack nicht zu - in Reussbühl

Dort wo der Bus vielleicht
Einfach gar nicht hält

Sitte und Moral zerfällt

Das billigste Bier weit + breit

Für viel mehr bleibt keine Zeit

Buskontrolleute, das hört' ich
sagen, die kontrollieren am
allerliebsten in Reussbühl

Und Reussbühler hört' ich
schon sagen, nirgends auf der
Welt ist es wie in Reussbühl.*


*Zitiert aus Dominik Riedo (Hg.): "Luzern Luzern", Verlag Pro Libro Luzern, 2011

Hier gibts endlich ein YouTube von der Fassung von 1994! Die bessere Fassung mit einem saftigen Bläsersatz klingt hier an - und es gibt dazu eine Menge über Reussbühl. Und hier noch ein YouTube mit Hösli als junger Sänger mit Rockgott-Potenzial.

1
Jun
2013

Aus der Unwetterzone

Mein Freund English versteht sich aufs Wetter, weil er einen Wettersatelliten-Radar gebaut hat. Zum Thema Regen hat er einen Lieblingssatz: "Zu jedem möglichen Zeitpunkt regnet es auf genau einem Prozent der Erdoberfläche." Den wiederholt er gerne, weil er mich damit zum Lachen bringt. Ich wohne in Luzern und damit auf jenem einen Prozent Erdoberfläche - sehr häufig.

Heute habe ich auch darüber gelacht - es war ein sarkastisches Lachen. Denn bei uns regnet es zurzeit so ausdauernd, dass auf allen anderen 99 Prozent der Erdoberfläche eine brutale Trockenzeit ausgebrochen sein muss. Wenn es jetzt noch warm wird und in den Bergen die gewaltigen Schneemassen des vergangenen Winters schmelzen, droht Hochwasser.

Über Nacht soll es deutlich wärmer werden.

Klar, dass es Frau Frogg zu einem Pegelstand-Spaziergang drängte: vom Luzernerhof dem Seeufer entlang bis zum Schwanenplatz, dann der Reuss entlang via Kreuzstutz und Xylophonweg bis zum Seetalplatz. Dort trifft die Reuss auf die Kleine Emme. Wobei die Kleine Emme bei Dauerregen überhaupt nicht mehr klein ist, sondern aggressiv anschwillt und von mitgerissenem Erdreich hellbraun wird. Die Reuss dagegen kommt aus dem See und ist blau oder grün. So kann man man vom Seetalplatz aus den braunen und den grünen Fluss noch kilometerlang nebeneinander im gleichen Bett fliessen sehen. Es dauert jeweils lange, bis sich die beiden Gewässer anfreunden.

Freudig überracht stellte ich fest, dass Veronika ebenfalls einen Pegelstand-Spaziergang vorhatte - Katastrophentourismus nannte sie es. Wir nahmen auch Tim (8) und seine grosse Schwester Anna mit.

Allerdings mussten wir unsere kühnen Pläne schon kurz nach dem Kreuzstutz, auch Teufelskreisel genannt, aufgeben: Der Xylophonweg reussabwärts war mit einem rotweissen Band gesperrt wie der Schauplatz eines Verbrechens. Die Reuss kam dort unten bereits über die Ufer. Wir fuhren mit dem Bus bis zum Seetalplatz und warfen einen kurzen Blick auf die überkochende Emme. Die Spazierwege dort sind auch schon gesperrt. Plötzlich konnte ich mir vorstellen, dass dieser Fluss 2005 eine dicht besiedelte, verkehrsreiche Region in ein Schlammloch verwandelt und einen Bekannten von mir in seinem Keller beinahe in den Tod gerissen hat.

Das kann böse werden.

Bilder gibts hier

16
Mai
2013

Die Fremde vom Friedhof

Neulich um 17.30 Uhr, draussen auf dem grossen Friedhof. Ich warte auf den Bus. Aber wahrscheinlich ist wieder irgendwo der Verkehr zusammengebrochen. Es dauert.

Im Bushäuschen sitzt eine alte Frau. Sie wartet auch.

Man spricht hierzulande keine Fremden an. Man hat sein Leben und keine Zeit für die Möglichkeiten und Gefahren, die sich aus solchen Begegnungen ergeben. Nur bei Überschwemmungen und chaotischen Verkehrssituationen sieht die Sache anders aus. Ich sage etwas zu ihr, sie lacht noch, und dann sagt sie plötzlich: "Sie! Mit meinem Kreislauf stimmt etwas nicht. Mir ist nicht gut. Wissen Sie, ich bin 93. Ich habe schon eine Streifschlag gehabt."

Ich schaue sie genauer an. Tatsächlich. Um die Augen herum ist sie so weiss, als hätte sie für ihren Besuch bei den Toten Kriegsbemalung aufgelegt. Sie zeigt mir die Innenseite ihres Augenlids. "Ist das blutunterlaufen?" fragt sie. Ähm..., es könnte schlimmer sein. Ich versuche sie mit Reden bei Sinnen zu halten und verfluche meine medizinische Ahnungslosigkeit. "Soll ich Sie ins Spital bringen?" frage ich. Das ist hier gleich um die Ecke. Aber das ist ihr zu anstrengend.

Schliesslich kommt der Bus.

Ich helfe ihr hinein. Sie lässt ihre Tasche fallen, ich hebe sie auf. Im Bus bekommt sie wieder ein Mü Farbe, ist aber immer noch unsicher. Bei der Apotheke aussteigen will sie aber nicht. "Nein, nein! Da müsste ich ja aufstehen!" sagt sie. Die Situation ist kompliziert. Braucht sie Hilfe oder nur Gesellschaft? Ist sie froh, dass ich da bin? Oder denkt sie, ich will mich aufdrängen?

Wir steigen unten an der Kreuzung beim See aus. Bei der Ampel sieht sie das Licht auf der anderen Seite nicht und hält leicht meinen Arm. Sie will ein Fläschchen Rivella. Sie sitzt und trinkt. Und redet. Ich mag sie. Sie gibt sich gern vornehm. Ich bin nicht sicher, ob sie nur die Tapfere spielt, oder ob es jetzt wieder besser geht.

Schliesslich gehe ich mit ihr zum Bus Nr. 24. Sie will selber nach Hause und steigt selber ein.

Ich fahre nach Hause und überlege lange, ob ich sie anrufen sollte.

24
Apr
2013

Blüten, Buddha und Maria

Wenn wir Schweizer das Wort "Blueschtfährtli" in den Mund nehmen, denken wir dabei an alte Zeiten. Das Wort "Bluescht" bezeichnet laut Duden Blüte oder das Blühen - und es wirkt auf uns schon archaisch, weil es aus Blüten etwas Wucherndes, Unzählbares macht wie die englische Sprache aus "sheep" oder "fish".

Wenn wir "Blueschtfährtli" sagen, dann grinsen wir und denken an einen fiktiven Grossvater. Wir stellen uns vor, wie er an einem Prachtstag im Mai seinen Wagen aus der Garage holt. Wie er Grossmutter hineinpackt und mit ihr - und Hut - durch frühlingserweckte Landschaften gondelt.

Der fiktive Grossvater hätte für sein Blueschtfährtli das Luzerner Seetal gewählt. Es ist zwar berüchtigt für seine Autoraser, aber eine Augenweide und berühmt für seine Kirschen. So wählten auch wir das Seetal für unseren Blueschtspaziergang. Wir ahnten zwar, dass es noch zu früh ist für die Kirschblüte. Auch wir haben einen rekordverdächtig langen Winter gehabt. Aber dass uns in Ballwil dieser Buddha vor einem Laden noch im Winter-Outfit empfing, fanden wir denn doch übertrieben.



Wir liessen uns nicht entmutigen - auch wenn die Obstbäume tatsächlich noch kahl waren, wie man auf dem Bild unten sieht.



Die Anlage im Hintergrund warf uns vom Buddha auf das reiche katholische Erbe des Seetals zurück. Es ist das Heilpädagogische Zentrum Hohenrain, eine ehemalige Johanniterburg.

Früher lebten und lernten hier vor allem Kinder mit Hörbehinderungen. Meine Mutter, die in den sechziger Jahren eine Weile im Seetal arbeitete, hat auch schon von ihnen erzählt. Sie liess dabei eine charakteristische Mischung aus Angst, Neugier und Mitleid erahnen. Genau diese Mischung verdammte die Bewohner solch früher oft düsterer Gemäuer zu einem fast unüberwindlichen Aussenseitertum.

Heute ist die Schule frisch geweisselt, und auf dem Spielplatz toben fröhliche Kinder, behindert und nichtbehindert. Im Johannitercafé bei der Kirche werden Wanderer freundlich empfangen. An den Nebentischen diskutieren vom Spardruck im Kantons erhitzte Lehrpersonen über Klassengrössen.

Frisch gestärkt stiegen wir den Hang nach Ibenmoos hinauf. Es blühte. Wir sahen Löwenzahn, Ehrenpreis, Taubnesseln, Scharbocks- und Wiesenschaumkraut. Und auch wenn der Kulturflaneur auf einem Parkplatz noch ein schütteres Häufchen Schnee fand: Die Muttergottes in der Kapelle Maria zum Schnee brauchte kein Halstuch.



Auf dem Rückweg sahen wir sogar Obstbäume in Frühlingsweiss. Als wären die Blüten extra für uns aufgegangen.

29
Mrz
2013

Portmonee verloren

Auf einem Spaziergang zum Südpol machte ich gestern einen Stop im Café Arlecchino. Ich trank etwas, las zwei Zeitungen und ging weiter. Es dunkelte. Und es regnete. Eine gewaltige Hand schüttete aus einem gewaltigen Eimer zähes, klebriges Wasser über die Stadt. Es war wie in einem Aquarium. Im Südpol angekommen griff ich in meine feuchte Manteltasche und merkte: MEIN PORTMONEE IST WEG!

Eine Katastrophe! Der Mensch ist ja nichts ohne seine Bankkarten, seine Krankenkassenkarte, seine Identitätskarte und sein Bargeld. Und wie sollte ich bei diesem Wetter meinen schwarzen Geldbeutel auf der Strasse wiederfinden?!

Dann fiel mir ein: Er musste mir im Arlecchino aus der Hosentasche auf die Sitzbank gerutscht sein. Sowas ist mir auch schon passiert. Zum Glück hatte ich wenigstens mein Handy noch. Sofort rief ich ins Arlecchino an, und tatsächlich: Die Frau nach mir hatte das Portmonee prall voll an der Bar abgegeben. Ich schwöre: Ich werde das Arlecchino zu meinem Stammlokal machen!

Ich hätte den Geldbeutel auch heute Morgen holen können. Aber ich ging sofort los. Ich hätte eine unruhige Nacht gehabt ohne all den Plastik in meiner Obhut, der anderen sagt, wer ich bin.

Diesmal wollte ich den Bus nehmen. Aber es passierte, was immer passiert, wenn man im Südpol die Nerven verliert: Die Nummer 31 fährt Dir direkt vor der Nase weg - und die fährt nur alle 15 Minuten. Ich ging also wieder mal zu Fuss los. Nur bis zum Grosshof, schwor ich mir. Dort fährt die Nummer 1 alle vier Minuten stadteinwärts. Es regnete immer noch.

Und: Die Nummer 1 kam nicht. Während drei Einsen stadtauswärts durch die Wasserlachen rauschten, passierte stadteinwärts einfach gar nichts. Irgendwo draussen in Kriens musste eine endlose Schlange aus blauen Bussen warten. Ich stand im Wartehäuschen fluchte.

Bis mir einfiel: Ich kann ja gar nicht mit dem Bus fahren. Das Bus-Abo ist in meinem Portmonee.

20
Mrz
2013

Hinreissende Bilder aus Arabien

Zum Luzerner Frühling gehört das Comix-Festival Fumetto. Dann füllen jeweils Comic-Zeicher aus der halben Welt die Säle und Sälchen der Stadt mit knalligen Bildern, Skurrilitäten, Schalk, Horror und poetischen Geschichten. Jedes Jahr ein Highlight.

Frau Froggs diesjähriger Liebling ist dieser hinreissende Geselle aus der Ausstellung Al-Comix Al Arabi im ehrwürdigen Am-Rhyn-Haus.



Es ist der Samandal, das Emblem des gleichnamigen Comic-Magazins aus Beirut. Und so stellt er sich selber vor:



Zu Deutsch in etwa: "Ähnlich wie in den zwei Lebensräumen von Amphibien gedeiht der Samandal in den Welten des Worts und des Bildes, des Snobistischen und des Tadelnden, des Traditionellen und des Experimentellen..." und so weiter. Keine Sorge: Die meisten Texte sind vor Ort auf Deutsch übersetzt.

Ok, nun reduziere ich eine riesige Ausstellung aufs Schnuckelige und aufs Geistreiche. Dabei ist das grosse Thema der arabische Frühling - und wie die Menschen im Maghreb und im Maschrek (neues Wort, dort gelernt) ihn erleben.

Sie ist informativ und umfassend bis zur Überforderung. Aber sie ist auch tief bewegend, todtraurig, beängstigend und sehr, sehr lustig. Und sie konfrontiert den Gast mit simplen, aber fundamentalen kulturellen Unterschieden: etwa damit, dass arabische Comics meist von rechts nach links gelesen werden.

Gut gewählt ist das Am-Rhyn-Haus als Ausstellungsort. Es war einst Wohnstätte einer adligen Familie und setzt mit Wandgemälden aus den Jahren 1616 bis 1618 ein paar pikante kulturelle Kontrapunkte.


(Quelle: www.stadtluzern.ch)

So reitet über der ersten Säule beim Eingang ein osmanischer Krieger aus der Hand eines Luzerner Malers unter der Halbmond-Flagge dem Besucher entgegen. Leider ist er auf dem Foto oben ebenso wenig sichtbar wie der Luzerner Renaissance-Mann in der Saalmitte. Er trägt Halskrause und einen Tennisschläger und markiert den Platzhirsch. Er bekommt es nicht nur mit dem Samandal zu tun. Sondern dazu noch mit einer gfürchigen Kobra aus Messing made in Beirut.

10
Mrz
2013

Abseits von Disneyland-Luzern

Endlich kam ich heute Nachmittag an diesem geheimnisvollen Plätzchen in Littau an.



Es ist der Anfang des alten Stahlwerk-Kanals zwischen der Emmenweid und Littau. Im Frühjahr spriessen hier neben den Wasserläufen der Bärlauch und die die Veilchen. Ich liebe diesen Ort.

Aber ich musste erfahren: Er und der linksseitige Emmenuferweg nach Littau sind bis Mitte Juni 2013 gesperrt. Und man liest es leider erst, wenn man den ganzen Weg hierher schon zurückgelegt hat. Wenn man nach einem Zvieri* und dem nächsten öffentlichen Verkehrsmittel lechzt - und nun einen ziemlichen Umweg machen muss, um zur nächsten Busstation zu finden.

Wenigstens hatte sich der Spaziergang bis dort gelohnt. Wer beim Kantonsspital Luzern beginnt, durchquert eine Gegend abseits vom Disneyland-Luzern. Ständig stösst man auf Orte, auf denen die Hoffnungen unserer Wachstumsstrategen ruhen.



Hier - wenige Schritte vom Spital - musste ein Erlenwäldchen einem neuen Autobahnzubringer weichen. Zurzeit ist auch er noch gesperrt. Aber eines Tages soll er das eine Ende einer mächtigen Umfahrungsstrasse namens Spange Nord werden (mehr dazu beim kulturflaneur). Das andere Ende wird unweit von unserem Haus entfernt liegen. Wenn sich die Träume unserer liberalen Autofanatiker erfüllen, gehen die Bauarbeiten auf unserer Seite 2015 los. Von mir aus darf es ruhig später sein.

Grosse Pläne gibt es auch für den Seetalplatz, den nächsten Fotohalt auf unserer Route. 2030 soll es dort so aussehen:


(Quelle: www.emmen.ch)

Zurzeit sieht es so aus:



Hinter dem Seetalplatz beginnt dann ein Weg, über die Emmenweid, den man jedem Luzerner Kind zeigen sollte. Mein Gottenbub (ab morgen acht) hat ihn jedenfalls schon vor zwei Jahren gesehen - mitsamt Kläranlage.

Hier wird seit Jahrhunderten Industriegeschichte geschrieben. Es ist nicht das Ruhrgebiet und auch nicht Liverpool. Aber es ist gewiss die spannendste Gegend in unserer Agglomeration.


Hier riecht es gfürchig nach Chemie.


Hier steht die stehen die Überreste einer legendären Textilfabrik.


Hier wird bis zum heutigen Tag Stahl gegossen...


... und verarbeitet.

Wer all das gesehen hat, kommt schliesslich zum Anfang des alten Kanals. Hier biegt man wegen der Sperrung am besten rechts ab und steigt Richtung Wolfisberg. Hier wird es plötzlich grün. Weiter oben gibt es dann Agglo-Häuschen und zwei, drei Bauernhöfe.

Am Strassenrand beim Bauernhof bekam ich sogar mein Zvieri: Vier Kinder verkauften am Strässchen Apfelsaft. Er war zwar von der Migros und nicht vom Bauernhof. Geschmeckt hat er trotzdem. Und beim Neuhof erwischte ich den Bus Nummer 41.

* Zwischenmalzeit nachmittags um vier Uhr
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