18
Aug
2012

Sie machen Lärm

Sie haben es auf mich abgesehen. Sie, das sind die Typen von der Weltverschwörung der Krachbrüder. Sie sind mir ihren Waffen hinter mir her: mit einem ganzen Arsenal von Mofas und Vespas, mit Presslufthämmern, Laubbläsern, motorisierten Baumscheren, Schleifmaschinen. Sie sind bestens organisiert. Sie lauern mir auf, wo immer sie können. Sie warten mit ihren Motorrädern, bis ich vorbeigehe. Erst wenn ich ganz nahe bin, werfen sie den Motor an. "Brrrmmm! Brrrorrrmmm!! BROARRRMMMM!!!" Wahrscheinlich macht jemand mit versteckter Kamera Filmchen von meinem schmerzverzerrten Gesicht - und die ganze Brüderschaft verlustiert sich abends daran. Am liebsten wäre ihnen wohl, ich würde mich wimmernd auf der Strasse winden.

Oder so fühlt es sich jedenfalls an im Moment.

Denn ich bin wieder mal schwerhörig - und die paradoxe, die ausgesprochen fiese Nebenwirkung einer gewissen Art von Schwerhörigkeit ist die Lärm-Empflindlichkeit. Oder auf Fach-Chinesisch: die Hyperakusis.

Wenn ich die Hyperakusis habe, dann passieren mir Geschichten wie diese: Ich gehe am Mittag schnell aus dem Büro nach Hause - die Ohropax vergesse ich. Ich wohne ja an einer stillen Nebenstrasse. Und die Baustelle gleich nach der Kurve ist seit Tagen verwaist. Glaubte ich - auf dem Rückweg ins Büro stelle ich jedoch fest: Die Krachbrüder haben sie eingenommen - und sie haben einen Presslufthammer. Ich schalte mein Hörgerät links ab, halte mir rechts das Ohr zu und biege hastig in eine noch stillere Seitenstrasse. Das hier ist mein Terrain. Hier kenne ich jeden Winkel, hier kriegen sie mich nicht. Am Eingang des Strässchens steht ein Motorrad - eine Frau kommt, greift zum Schlüssel und.... Es gibt also auch Krachschwestern!

Aber ich boote auch sie aus. Bevor der Motor aufbraust, biege ich in das stillste aller Seitensträsschen ein. Die Krachschwester scheint das Interesse an ihrem Töff* verloren zu haben. Und der Presslufthammer ist jetzt weit weg.

Da kreischt im dritten Haus links eine Schleifmaschine auf. Ein heimwerkender Krachbruder geniesst seine Sommerferien. "WWWIIIIAAAAUUUU!!!!! WIIIIIIAAAAUUUUUUUUUUUUIIIII!!!!"

1 : 0 für die Krachbrüder. Ich werde gleich wahnsinnig. Ich eile in mein Büro und mache die Tür hinter mir zu. Hier habe ich meine Ruhe, oder vielmehr: nur noch meinen Tinnitus.

Aber keine Sorge: Ich lerne schnell. Mein Ohropax habe ich seither wieder konsequent im Ohr. Ich habe die wächsernen Freunde mittlerweile gut im Griff. Wenn ein mir freundlich gesinnter Mensch mit mir sprechen will, reicht ein Griff mit dem Zeigefinger - und ich habe sie so zusammengedrückt, dass der Schall problemlos durch den Gehörgang kommt.

Was mein Innenohr dann damit macht - naja, das ist eine andere Geschichte.

* Schweizerdeutsch für Motorrad

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turntable - 20. Aug, 00:01

ein wahrer spießrutenlauf sozusagen!
alles gute & grüße!!

diefrogg - 20. Aug, 12:07

Ja, so kann man das...

nennen - leider. Aber oft gewinne ich!
Falkin - 20. Aug, 09:25

....vor vier Jahren entglitten mir die Gesichtszüge, verlor ich das Gesicht. Parese. Eingeläutet wurde dieser sechs Wochen anhaltende Zustand durch grelle Lichtblitze, auf die ein durchdringendes Grau folgte. Ich konnte fünf Tage nicht sehen. Gelegen im verdunkelten Raum, da jeder Lichtfunken zu einem Feuerwerk implodierte. Für mich ein ungemein erschreckender Zustand, der sich glücklicherweise in gewohnt-kurzsichtiges Wohlgefallen auflöste. Vergessen werde ich sie nicht die Angst, nie wieder sehen zu können, die Freude über die winzigen Lichtblitze, sowie das Entsetzen darüber, dass das einzig Gesichtete die ertragbare Wahrnehmungsfähigkeit überstieg.

Meinen Respekt kann ich nur wiederholen. Woher Sie die Nervenstärke nehmen, den Sie herausfordernden HörSinn so gelassen an-zu-nehmen. Und ich finde es immanent wichtig, dass Sie Ihr EmpFinden kommunizieren. Man desensiblisiert sich leider auf dem Alltags-Tellerrand seiner Egozentriertheiten und vergisst, welches Ausmaß so manches unbedachte Handeln haben kann.

Habe ich das jetzt richtig verstanden.... wenn die Hyperakusis nicht auftritt, dann der Tinnitus? IMMER eines von beiden??

diefrogg - 20. Aug, 12:14

Den Tinnitus...

habe ich sowieso immer - mal stärker, mal weniger stark. Aber wenns sehr lärmig ist, höre ich ihn gar nicht oder weniger gut. Ich möchte hiermit die Gelegenheit nicht auslassen, wieder mal zu erwähnen: Man kann mit einem Tinnitus leben. Manchmal braucht es etwas Zeit, sich dran zu gewöhnen. Aber, weiss Gott, es gibt Schlimmeres als einen Tinnitus - zum Beispiel ständige, starke Schmerzen. Ich ziehe den Tinnitus dem Lärm auf jeden Fall vor.

Diese Parese mit Blitz-Geschehen, die Sie schildern, scheint mir sehr unheimlich, mamma mia!

Was die Nervenstärke betrifft: Es überrascht mich, dass Sie mich als relativ nervenstark wahrnehmen. Ich fühle mich oft genug wie ein verängstigtes Nervenbündel. Aber annehmen muss ich diese Sache, das ist mir seit längerer Zeit klar. Wie ich damit überhaupt leben kann, finde ich jetzt gerade allmählich heraus.

Es ist mal schlimmer als ich befürchtet habe. Und mal nicht so schlimm.

Danke Ihnen auf jeden Fall für die Kommunikation ermutigenden Worte. Sie machen es mir auf jeden Fall leichter und zeigen mir den Weg in die richtige Richtung!
Rockhound - 21. Aug, 08:17

Der Lärm von Motorrädern und Presslufthämmern ist auch für jemanden mit gesundem Gehör einfach zuviel. Und ich verstehe auch nicht, warum alles so laut sein muss. Ich meine Presslufthammerlärm, kann ich noch nachvollziehen. Aber als der Gärtner bei uns im Haus kam, um zu jäten, zuerst das ganze Unkraut ausgerissen hat, es dann mit dem Dieselbläser zusammengeblasen hat, um es dann in einen Korb zu tun und diesen auf den Lastwagen zu stellen, da hat er mir die Nerven endgültig rausgerissen. Nicht zuletzt, weil er dank des Bläsers nicht besonders effizient gearbeitet hat und die Samen des Unkrauts so auch schön gleichmässig verteilt hat. Die meisten glauben wohl, dass eine Arbeit nur ordentlich erledigt werden kann, wenn ein Motor zu Hilfe genommen wird. Gottseidank ist es im Moment so heiss, da sparen sich unsere Nachbarn nämlich ausnahmsweise mal das Rasenmähen nach Feierabend und am Samstag nach 16 Uhr. Ich kann dir jedenfalls sehr gut nachfühlen, wie es sein muss, wenn einem der Lärm nicht nur furchtbar auf die Nerven geht, sondern auch noch Schmerzen und andere Reaktionen auslöst.

diefrogg - 22. Aug, 09:32

"Die meisten glauben,

dass eine Arbeit nur ordentlich erledigt werden kann, wenn ein Motor zu Hilfe genommen wird." Das bringt es wohl auf den Punkt. Das Geräusch von Motoren muss eine ungeheuer starke psychologische Wirkung haben. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass das Auto wohl seinen Siegeszug nicht angetreten hätte, wenn es beim Start nicht dieses tiefe Motorenbrummen von sich gegeben hätte. Der Autor desselben Textes glaubte, der geringe Erfolg des Elektro-Autos vor zehn Jahren rühre von seinem finöggeligen Motorensirren her.

Auch ich habe in meinen letzten hörenden Jahren eine grosse Zuneigung zum tiefen, sasftigen Gehuste alter Lastwagen entwickelt. Tiefe Töne nehmen wir schon im Mutterleib war. Tiefe Töne bringen unseren ganzen Körper zum Vibrieren. Sie bedeuten Leben, ja, sie haben etwas Erotisches (was man vom Geröhre eines Laubbläsers allerdings nicht sagen kann).
Kadett - 23. Aug, 14:21

Stöhn

Ich weiss genau wovon du redest, und dabei bin ich schon Gehörgeschädigt, kriege also einen Teil vom Lärm nicht mehr mit. Aber selbst als Fan von ballernden Rockkonzerten weiss ich, dass der Lärm die Ruhe erdrückt, welche die Seele braucht wie der Körper den Schlaf, um sich zu regenerieren.
Der einzige Trost ist wohl, dass es in anderen Ländern wohl noch schlimmer ist. Mexiko soll da eine regelrechte Rüstungsspirale des Lärms haben.

diefrogg - 25. Aug, 11:12

Ach, Sie sind also...

auch ein Hörgeschädigter, Herr Kadett! Na, dann werden Sie ja in vielen Fällen wissen, wovon hier die Rede ist!
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