12
Aug
2012

Psychedelische Pflanze

Früher bin ich gerne gereist. Meine treuen Leser wissen, mit welchem Enthusiasmus ich hier noch vor wenigen Jahren meine Eindrücke aus fernen Ländern hier ausgebreitet habe. Ich gestehe es mir ungern ein, aber heute ist das anders: Am besten geht es mir heute, wenn ich zu Hause bin. Reisen ist nicht mehr so mein Ding. Reisen ist ein Rezept für Hörstürze, Erschöpfung und schlechte Laune.

"Wie langweilig! Nun bin ich dazu verdammt, jeden Tag dieselben Strassen auf- und abzuspazieren", klagte Frau Frogg. Sie war gerade auf dem Weg ins Büro. Und der schien ungeheuer monoton - rundum das ewiggleiche, sommermüde aussehende Grün von Hecken, Gärtchen und sich selbst überlassenen Halden. Bis zu viermal am Tag! Gähn!

Ich brauchte Hilfe und besorgte mir dieses Buch:



Ich stöberte ein bisschen darin. Dann trat ich vors Haus - und schon nach drei oder vier Schritten beachtete ich zum ersten Mal überhaupt dieses zarte Pflänzchen:

DSCN0502

Es ist nichts weiter als ein Schachtelhalm - ein an sich harmloses Gewächs. Aber der Anblick hatte eine geradezu psychedelische Wirkung. Plötzlich hörte ich die Stimme meines aus dem Solothurnischen stammenden Grossvaters: "Das si Chatzeschwänz!" - das sind Katzenschwäze, sagte er zu uns, wenn wir auf unseren Sonntagsspaziergängen die viel robusteren Verwandten unseres schütteren Kiesplatz-Gewächses sahen:


(Waldschachtelhalme -Bildquelle: Wikipedia)

Im Geiste ging ich wie damals als Vierjährige vor der Pflanze in die Hocke. Ich bestaunte fasziniert ihren geometrisch so simplen und schönen Bauplan und nahm wie damals im Geiste einen Halm an den Sollbruchstellen auseinander. Etwas Schaum klebte an meinen Fingern.

Später googelte ich Schachtelhalme. Ich lernte: Die Gattung der Schachtelhalme ist 375 Millionen Jahre alt - und meine Phantasie wucherte weiter. In Luzern müssen schon Schachtelhalme gewachsen sein, als homo sapiens noch nicht einmal in Afrika herumhuschte. Ich sah Schachtelhalm-Urwälder über unserem Haus wuchern, sah einen Dinosaurier fasziniert durchs Dachfenster linsen und die winzigen Gestalten in der Wohnstube beäugen.

Ich lernte auch: Schachtelhalme sind hartnäckige Unkräuter. Da nahm mein Sinn fürs Praktische wieder überhand. Nicht, dass ich zu jäten begonnen hätte, bewahre! Aber ich nahm ein kleines Inventar der Schachtelhalme rund um unser Haus auf - und ich lernte eine Menge über Humanbiologie seiner Bewohner. Man muss wissen: Es handelt sich um ein Haus mit zwei Treppenhäusern und ergo zwei Hausgemeinschaften. Die Parteien im Erdgeschoss müssen den Kiesplatz vor dem Haus jäten. Auf unserer Seite ist das unsere tamilische Nachbarin - den Jätmeister von nebenan kenne ich nicht mal. Ich stellte nur fest: Auf unserer Seite gibt es nicht einen einzigen Schachtelhalm. Alle fünf oder sechs Pflänzchen wachsen jenseits der Regenröhre, die die beiden Hausteile genau in zwei Hälften teilt.

Das heisst: Unsere tamilische Nachbarin jätet also viel gewissenhafter als die von drüben.

Weshalb das so ist - nun, darüber könnte man einen halben Roman schreiben.

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Falkin - 13. Aug, 10:34

Ich, liebe Frau Frogg, bin bekennende Anhängerin der äh "Pflanzen-Spirits". Soll ins esoterifizierte Schublädchen mich der leichteren Händelung Willen stecken, derdiedas will.... ändert nichts an meinen heil-samen Erfahrungen. Wie Sie bereits in Ihrer Ode an den Schachtelhalm skizzieren, besitzen Pflanzen eine Kraft, einen Überlebenswillen, der von uns Zweibeinigen oftmals garnicht wahr-genommen wird. Wärend nach einem der typischen Brandenburger Stürme eine malträtierte Gartenliege in das Feld des Bauerm 500 Meter weiter wehte, wippt ein winzigkleiner, zarter, frischerblühter Stachelbeerast vergnügt in den nachwehenden Winden und zeigt der Naturgewalt eine lange Nase. Diese Resistenz, Anpassungsfähigkeit, bei gleichzeitiger Überlebensstärke und der Fähigkeit sich durchzusetzen... da hocke ich mich gerne ab und an in den Garten und lausche dem tiefen Lachen des Wallnussbaumes, oder dem hellen Kichern der Gänseblümchen....

Übrigens ... wuchs ich auf in einem Haus mit einem wunderbaren, verwunschenen Garten. Das Grundstück meiner Kindheit gibt es schon lange nicht mehr. Es wich mehreren Einfamilienhäusern und einer asphaltierten Parkplatzanlage. Als ich das Haus hier, den Garten sah, da wusste ich sofort: ich bin Zuhause. Hier wächst wild, was wachsen mag. Zugegebenermaßen mag ich es auch ordentlich und übersichtlich. Bin keine Freundin dieser dressierten Geranien-Topf-Anlagen, oder sorgamsam überwachter Tulpen-Formationen, aber alles, was wild aus sich heraus, einen Platz in Anspruch nehmen mag, darf. Ob nun Efeu, Wein, die Feuerprunkbohnen... und mittendrin ich. Als sicherlich kärglichstes Pflänzlein. Aber bei soviel wilder Schönheit drumherum fällt das garnicht auf, ick vasteck mir einfach und lasse mich über-winden, er-wachsen und ranken ... und dann spinne ich wie zu Kindertagen mein Gullivera-Spiel.... und stelle mir vor, die winzigen Grashalme seien Buchen und ich eine Riesin, oder der Walnussbaum ein kleiner Pilz und ich ein Zwerg.. und wachse dabei sogar manches Mal über mich hinaus ;)

Ein Hoch auf Ihren Schachtelhalm! So manche Erinnerung taugt als zukunftsweisender Stern.

Den Roman würde ich gerne lesen! Eine gehörig bereichernde Woche gewünscht!

diefrogg - 14. Aug, 11:01

:)))

Ach, ein Gärtner-Spirit ist etwas Schönes! Leider bin ich damit so gar nicht gesegnet. Nun ja, als Teenager habe ich Kakteen und die ersten Sojabohnen der Schweiz (in einem Blumentopf) angebaut. Aber heute habe ich sogar Mühe, meine Topfpflanzen durchzubringen.

Auch hier geht es mir wohl eher ums Benennen, ums verstehen und ums Erkennen, und ums Geschichtenerzählen. Ich bin einfach ein Kopfmensch.

Aber auch ich lebe gern in einem Haus, wo rundum alles ein bisschen verwildert ist - wo im Frühjahr ganze Bärlauch-Weiden wachsen und die Spechte an die uralten Eichen und Linden hinter dem Haus hämmern.
Falkin - 15. Aug, 16:18

Nun ja, so erlebe ich Sie auch. Als eine Forscherin, eine Fährtenleserin, als einen Kopfmenschen. Wobei ich mich in letzter Zeit immer wieder frage, ob diese Binärisierung, die Polarisierung in Gut- und Kopf-Mensch überhaupt seine Richtigkeit hat. Und ob das eine,nicht das andere bedingt, bzw. beinhaltet. Gestern abend sah ich eine recht interessante Reportage über den geschätzten Leonardo da Vinci. Mir kam (Ihre Antwort bereits gelesen habend) die Frage in den Sinn, was Leonardo nun sei... ein Kopf- oder ein Gefühls-Mensch.

Und ja... ich kann mir Sie sehr gut indieser verwilderten Umgebung vorstellen, die Sie, werte Frau Frogg, in meiner Wahrnehmung Ihrer Person sogar spiegelt: es sind Leidenschaft und Mut, die ihren Forschergeist antreiben und ihn zu neuen Taten beflügeln. ....also dann bitte eine sehr gefühl-volle Kopfmenschin ;))

....hier im Himmlischen Garten leben zwei wilde Frösche. Einer ist handzahm. Wenn ich ihn erblicke und mich ruhig, ihm gegenüber setze, dann hüpft er mir sogar auf die Hand. Tatsache. Nur, seitdem ich mit dem Fotoapparat ihm auflauere, um ein Bild für Sie ein-zu-fangen, ist er wie vom Erdboden verschluckt... ;)
diefrogg - 17. Aug, 11:00

Das dachte ich mir doch...,

dass sich MEIN Frosch nicht so leicht fotografieren lässt ;)

In unseren Ferien im Verzascatal hüpfte mir ein winziger, okkerfarbenen Frosch auf einem Felsen entgegen. Ich näherte mich ihm vorsichtig, und er stellte sich tot. Ich drückte dreimal auf den Auslöser, aber mir gelang kein scharfes Bild. Sind schwierige Gesellen, die Frösche.
Falkin - 18. Aug, 08:38

;) unser Froeschlein ist meiner Linse gestern haarscharf entwischt. Schlau, schlau.

Ein rundum bereicherndes Wochenende gewünscht!
Kadett - 23. Aug, 15:02

Psychedelik tragen wir halt alle in der Psyche mit uns rum. Machmal braucht es etwas Chemie einer Pflanze, um sie freizusetzen, manchmal reicht auch schon die Optik ;)

diefrogg - 23. Aug, 21:58

Sie verstehen mich,

Herr Kadett ;)
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