8
Dez
2012

Flucht vor dem Weihnachtsrummel

Heute ist in der katholischen Schweiz ein Feiertag: Mariä Empfängnis. Er ist ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit, das wie ein Findling in unserem stromlinienförmigen Büro- und Shopping-Alltag liegt - keiner weiss, warum. Wer nicht aufpasst und am Abend vor einem solchen Feiertag nach 16 Uhr noch schnell ein Brot fürs Abendessen einkaufen will, donnert mit Vollgas in den erratischen Block: Er steht vor verschlossenen Ladentüren. Und am Feiertag selber war früher total tote Hose.

Jahrzehntelang waren an Mariä Empfängnis in der Innerschweiz nicht nur die Einkaufsstrassen leer, sondern auch die Kirchen. Voll waren dagegen die Züge nach dem reformierten Zürich: Die Innerschweizer trugen im grossen Stil Weihnachts-Umsätze nach Downtown Switzerland, die Luzerner Ladenbesitzer machten lange Gesichter. Bis der Kantonsrat durchgriff und den 8. Dezember offiziell zum Tag der offenen Läden erklärte. "Mary Shopping Day", nennt ihn der Kulturflaneur. Und genau das ist er geworden. Wer vorweihnachtlichen Einkaufsrummel meiden will und kann, meidet an diesem Tag am besten die Luzerner Altstadt.

"Ich gehe spazieren, irgendwo aufs Land", sagte ich am Morgen denn auch zum Kulturflaneur. "Da wirst Du die Moon Boots anziehen müssen", sagte er. Und wirklich: So sahen draussen die Strassen aus.



Moon Boots brauchte ich keine, auch wenn die Trottoirs nicht überall so gut geräumt waren wie hier auf dem Bild. Ich stapfte durch den Schnee, umkreiste die Altstadt und machte den einen oder anderen Fotohalt - etwa unter dem berühmten Männliturm.



Ich sah Menschen mit gehetzten Mienen stadteinwärts streben und war selber viel langsamer als erwartet. Noch am Stadtrand musste ich Mittagsrast machen. Ich begab mich ins Restaurant mit dem weihnachtlichen Namen Drei Könige. Dort ass ich gut und währschaft und stellte amüsiert fest, dass eine bekannte Schweizer Biermarke den Winter im Kleinen zelebriert.



Gegen den Grossen draussen kommt sie so nie an, dachte ich.

Dazu blätterte ich in der aktuellen Annabelle. Sie ist opulent mit goldener und silberner und duftender Werbung verziert und überhaupt einfach opulent - ein Magazin für Frauen, die über Ohrringe für 9000 Franken nachdenken können. Ich stellte erstaunt fest, wie oft solche Frauen sich etwas Gutes tun müssen. "Rundum abschalten und sich verwöhnen lassen", lautete ein Titel, und ich lernte beim Lesen: Um rundum abschalten zu können, müssen privilegierte Frauen unglaublich viel aufwenden, an Geld, an Zeit, an Reisebereitschaft. Die Ärmsten!

Ich trank ein Käfeli, legte die Annabelle weg, zahlte und bestieg den Sonnenberg. Dort oben verfiel ich meinem ganz eigenen Weihnachtszauber - dem lichten Momenten und den harten Kontrasten eines Wintertags.

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steppenhund - 8. Dez, 18:45

Um rundum abschalten zu können, müssen privilegierte Frauen unglaublich viel aufwenden, an Geld, an Zeit, an Reisebereitschaft. Die Ärmsten!
denke ich mir auch oft...

diefrogg - 8. Dez, 19:01

Ich muss gestehen...

privilegierte Frauen sind zurzeit ein Lästerthema für mich. Ich weiss, ich gehöre selber noch zu den relativ privilegierten Frauen, verhungern werde ich sehr wahrscheinlich nicht - aber im Vergleich zu jener der Frauen in der Annabelle-Zielgruppe ist meine Existenz... wie soll ich sagen... etwas prekär.

Wenn ich dann Frauen sehe, die gesund sind, Kinder haben und auch noch eine Karriere wollen und auch noch dauernd klagen über ihren Stress und und ihre Schuldgefühle und ihre bösen Mitmenschen und darüber, dass sie einfach zu wenig fordernd seien - dann denke ich manchmal: Wisst Ihr was, Frauen?! Hört auf, um Euch selber zu kreisen und schaut ein bisschen in die Welt hinaus! Es gibt auch in diesem Land Tausende Frauen, bei denen am Ende des Geldes immer noch ziemlich viel Monat ist. Aber die haben keine Zeit, sich zu beklagen. Und ich kenne in diesem Land mindestens zwei Frauen, die von unserem Sozialsystem richtiggehend beschissen worden sind (und hier spreche ich nicht von mir selber). Die Dunkelziffer dürfte aber weit höher sein und umfasst auch Männer.

Von anderen Ländern fangen wir jetzt gar nicht an...

Vielleicht ist das unsolidarisch. Vielleicht sollte eine Frau niemals zugeben, dass sie gewisse Frauen nicht mehr versteht, but there you have it!
steppenhund - 8. Dez, 20:29

Ich bin froh, wenn das eine Frau schreibt. Als Mann trau ich mich das nicht. Aber es drückt genau meine Meinung aus. Was ich aber nicht verstehen kann: warum werden diese Zeitschriften von Frauen gelesen, die sich die beworbenen Dinge gar nicht leisten können? (Sie sind natürlich von der Fragestellung ausgenommen.)
Männer haben auch solche Illustrierte. Aber Männer werden nicht unbedingt depressiv, wenn sie sich den abgebildeten Ferrari nicht leisten können oder sie sich nicht einmal trauen würden, ein Model aus dem Playboy in real life anzusprechen. Bei Frauen kommt es mir aber so vor, dass sie sich leid sehen - und da fängt die Misere an.
Allerdings gibt es in meinem Bekanntenkreis doch hauptsächlich Frauen, die nicht einmal im Wartezimmer in der Anabelle blättern würden. Während ich mir immer sehr gerne Cosmopolitan in Warteräumen ansehe, um zu "lernen", was sich Frauen so sexuell erträumen:)))
la-mamma - 8. Dez, 21:00

einspruch!

"Männer werden nicht unbedingt depressiv, wenn sie sich den abgebildeten Ferrari nicht leisten können". - depressiv vielleicht nicht, aber ich bin mir jetzt nicht sicher, ob frauen nicht sehr viel vorsichtiger sind, mit ihrem (wenn es denn ihr eigen verdientes ...) geld auszukommen, als manche männer, die sich zb fürs neue (ihnen zu) teure auto verschulden ...
steppenhund - 8. Dez, 22:44

Es geht nur um die Depression:) Die tritt bei den Männern dann vielleicht verspätet ein...
diefrogg - 9. Dez, 11:07

Ha! Das ist ja...

eine hoch interessante Diskussion - danke!

Nun muss ich gestehen, dass meine eigenen Kommentare über "privilegierte Frauen" sich aus der Frustration über mehrere verschiedene Phänomene nährte und vielleicht etwas schwammig war.

Zu dem Depressionen: Ich kenne keine Frauen, die Depressionen bekommen, wenn sie sich etwas nicht leisten können. Ich kenne aber gesunde Frauen mit gesunden Kindern und gesunden Männern, die selber eine tolle Karriere haben und dann auch noch jammern, weil ihnen irgendjemand ein schlechtes Gewissen macht. Sie sollten dankbar sein! Neid muss man sich verdienen! Hier ein Beispiel.

Ich selber neigte früher nie zu Neid und Depressionen, wenn ich den Wohlstand anderer sah. Ich hatte wenig Geld, aber ein gutes Leben. Oder auch viel Geld, aber gar keine Zeit, über das Geld anderer nachzudenken. Heute - ich muss es gestehen - sieht es bezüglich Neid bei mir anders aus. Das hat damit zu tun, dass ich mein Leben zwar - den Umständen entsprechend - gar nicht so schlecht ist. Aber ich sehe mich (und andere) gezwungen, mit Abstrichen zu leben, von denen viele nicht einmal etwas ahnen wollen. Und genau dieses Nichtahnenwollen löst bei mir Frustration aus. Ich gebe zu: Manchmal bin ich ein wenig verbittert. Aber ich nehme an, das wird sich irgendwann legen.

Und was ich im Text oben mit dem "rundum entspannen" etc. eigentlich meinte: In der Werbung scheint der Eindruck vorzuherrschen, Frauen hätten immer nur Entspannung und Wellness nötig. Das wirkt in einem Heft wie der Annabelle, wo Werbung und redaktionelle Beiträge kaum noch zu unterscheiden sind, monoton bis zur Realsatire. Und alles andere als entspannend, sondern sehr, sehr angestrengt.

Und @la-mamma: Ob Schuldenmachen ein sehr weibliches oder sehr männliches Phänomen ist, sei jetzt mal dahingestellt. Aber dass Männer keinen Wohlstands-Neid empfinden, ist einfach aus der Luft gegriffen. Männer reden vielleicht nicht drüber. Frauen halt - wie immer - schon.
la-mamma - 9. Dez, 11:35

der verlinkte artikel spricht mir aus der seele. wobei ich meinen kindern durchaus mutter und ernährerin bin. und scherzhaft sag ich oft genug, ein guter vater auch;-)
tatsächlich ist aber so eine komplette rollenumkehr, wie ich sie seit fast drei jahren durchziehe, recht ungewöhnlich. (wie mir auch mein umfeld oft sehr deutlich zu verstehen gibt). und sie haben völlig recht, ich BIN dankbar für alles, was ich habe. und neid führt zu gar nix ...
steppenhund - 9. Dez, 13:15

Neid

Natürlich habe ich es leicht, Neid abzulehnen. Ich hatte Glück im Leben. Aber ich bin alles andere als reich. Wenn man drei Kinder als Alleinverdiener durchbringt, ist selbst ein sehr gutes Gehalt ziemlich rasch aufgebraucht.
Ich war allerdings nie neidig. Nicht als Kind, als wir weder Auto noch Fernseher hatten, noch später. Den Grund dafür habe ich erst viel später analysieren können, doch instinktiv habe ich anscheinend schon immer gefühlt.
Egal, wie viel jemand hat, hat er immer um ca. 10% zu wenig, um sich glücklich zu fühlen. (Falls jemand materialistisch eingestellt ist.) Man hätte mich mit 10 Schilling als Kind genauso glücklich gemacht wie heute mit 1000 €, die mir jemand schenkt. Und ich habe Menschen kennen gelernt, die den Gulag überstanden haben, glücklich gelacht haben und gesagt haben, dass sie so großes Glück hatten, weil sie nie im Leben getrennt wurden.
Jedenfalls kann ich mir bei jedem "berühmten" und reichen Menschen vorstellen, warum ich nicht mit ihm tauschen würde. Ein paar Menschen gibt es, denen es materiell besser geht und mit denen ich mir einen Tausch vorstellen könnte aber nicht wünschte. Dass ich nicht reich bin, liegt ausschließlich an meiner Faulheit und dem Wunsch, nur etwas zu arbeiten, was mir Spass macht. Den Spass kann mir aber niemand nehmen.
diefrogg - 9. Dez, 13:21

Ja, jetzt, wo ich...

das Interview nochmals lese, scheint mir vieles auch sehr vieles schlüssiger und verständlicher als damals. Damals schien mir das das Gejammer privilegierter Zürcher Frauen zu sein. Wie viel doch von der Befindlichkeit abhängt, mit der man liest!

Und natürlich verstehe ich, dass Mutter und Ernährerin sein eine harte Sache ist. Ich wäre an einer solchen Aufgabe zerbrochen, das weiss ich heute noch sicherer als in jener Zeit, als ich mich gegen Kinder entschied.
Jossele - 9. Dez, 16:04

Als wäre das Leben allein eine Kosten-Nutzen Rechnung.

Na selbstredend, wenn man dem Lebensnotwendigsten hinterherkeucht ist der Ferrari und die Geschmeide, sowie der Winterurlaub in St.Moritz öbszön und jenseitig.

Selber bin ich in eher ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, und es war leicht zu verschmerzen, etwas nicht zu haben, weil das war fast üblich. Heut ist es üblich, zu haben, und sinnfreier Wohlstand ist Credo.
Eine Schere klafft immer weiter auseinander, und wir können uns kaum vorstellen, dass es da nebenan jemand gibt, der/die nicht weiß, wie die Beheizung der Wohnung zu finazieren ist, geschweigedenn der Schulschiekurs.

Möcht man tauschen mit denen, die auf hohem Niveau jammern?
Ich denke, nein.
Ein Grundauskommen zu haben ist wichtig, keine Frage, aber alles was darüber hinausgeht kann nicht Sinn sein, weil der ist anderswo.
diefrogg - 9. Dez, 16:46

Nein, man möchte nicht...

jammern, Herr Jossele! Ich beneide niemanden, der so viel Geld verdienen muss, dass er oder sie sich nachher irgendwo im hinteren Schwarzwald teuer bewellnessen lassen kann. Ich ziehe den Spaziergang im Schnee vor meiner Haustür tausendmal vor.

Aber wenn ich solche Frauenzeitschriften lese, dann finde ich unser Land nur noch dekadent.
steppenhund - 9. Dez, 20:03

Ich kenne eine Serbin, eine gewesene Systemprogrammierin, die als Leiterin bei einer staatlichen Institution arbeitet. D.h., dass sie sehr wenig verdient.
Sie hat einen Onkel, der in der Schweiz einen entsprechenden Lebensstandard erworben hat. Der hat ihr früher geraten, dass sie doch in die Schweiz emigrieren sollte. Manchmal, wenn sie über ihr Gehalt jammert, drückt sie Bedauern aus, dass es ihr dort finanziell weitaus besser gehen würde. Doch im nächsten Satz meint sie dann, dass sie in der Schweiz nicht leben könnte. Zu steril, zu wenig Nachbarschaftsfreundschaft, zu materialistisch. Ich kann das nicht beurteilen. Ich denke, man kann überall seinem eigenen Lebensideal frönen, wie es ja auch aus der vorstehenden Antwort herauszulesen ist. Doch scheint der Materialismus in der Schweiz doch noch etwas ausgeprägter als sonst wo zu sein.
diefrogg - 10. Dez, 10:57

Mit Verlaub,...

... Herr Steppenhund: Darüber will ich jetzt einfach nicht diskutieren. Nicht, weil ich besonders patriotisch gesinnt bin. Sondern einfach, weil ich überzeugt bin, dass man über so genannte Volksmentalitäten nicht diskutieren kann und sollte.

Mit der Politik ist es eine andere Sache, aber über Politik diskutiere ich zurzeit nicht. Punkt.
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