im meniere-land

12
Okt
2011

Leistungssport im Job

Unsere Zeitung verliert Abonnenten. Das ist nichts Ungewöhnliches. Alle Tageszeitungen tun das, seit Jahren. Wenn die neuen Abo-Zahlen präsentiert werden, hält der Chefredaktor deshalb jeweils eine kleine Ansprache. Er ermuntert uns Redaktoren dann zu noch mehr Beisswut, Fleiss und Präzision bei immer geringeren Budgets. Dieses Jahr sagte er: "Journalismus ist zu einem Leistungssport geworden". Das ist mir besonders nahe gegangen. Wegen meiner Krankheit kann ich nur noch vorsichtig hinter den Platzhirschen in unserem Team herhoppeln.

Ich nagte eine Weile an dem Satz.

Dann fragte ich mich, ob ich bei meinem täglichen Gang in sein Büro nebenbei fröhlich fragen sollte, ob wir auf der Redaktion auch paralympische Disziplinen hätten.

Darüber konnte ich wenigstens lachen. Aber dann wurde ich wieder nachdenklich.

Diese Branche macht uns zu Invaliden, bevor wir es wirklich sind, dachte ich.

3
Okt
2011

So gross wie die Titanic

Sie sagt: "Hast Du es schon mit Achtsamkeit versucht?" Ich sitze da, beisse auf die Stockzähne und nicke freundlich.

Sie heisst Thea. Wir sehen uns erst zum Drittenmal. Sie ist eine alte Freundin von Herrn T. und eine liebenswürdige Person. Ich habe mich durch ihre Fragen dazu verleiten lassen, etwas ausführlicher von meinem Ohrenleiden zu erzählen. Da sehe ich plötzlich diesen Gesichtsausdruck an ihr, höre diesen Ton. Er sagt: Sieh mich an, mir geht es gut, ich habe mein Leben im Griff. Und wahrscheinlich weiss ich auch, was Dir guttut. Die englische Sprache kennt ein gutes Adjektiv für diese Mischung aus Fürsorglichkeit und Herablassung. Es heisst "patronizing".

"Ich meine: So etwas will einem doch manchmal etwas sagen. Hast Du es schon mit Achtsamkeit versucht?"

Ich sitze da, und ich muss nicht sehr achtsam sein, um zu merken: Ich habe einen Zorn im Leib so gross wie die Titanic.

Daran trägt Thea höchstens ein winziges Schräubchen Mitschuld. Ich habe genug andere Probleme. Mit chronischen Krankheiten ist es so: Wer den Schaden hat, braucht für die Kollateralschäden nicht zu sorgen. Aber in diesem Moment würde sie gerne ein bisschen an meinem Zorn teilhaben lassen. Nur eine kleine, giftige Replik... Doch das wäre unachtsam - gegenüber Thea und gegenüber Herrn T. Ich sage ruhig: "Weisst Du, es gibt Rätsel im Leben, auf die wir nie eine Antwort finden."

Das war gestern.

Heute war ich in Solothurn. Der Zufall führte mich auf die Krummturmschanze, ein lauschiges Pärkchen. Die Sonne fällt durch dichtes Laub und beleuchtet eine eindrückliche Sammlung von Kanonen und Haubitzen aus dem Zweiten Weltkrieg. Ich betrachte die Geschütze lange, ihre Mechanik, ihre Räder, ihre komplizierten Zielvorrichtungen.

Sie riechen wohltuend nach Schmieröl - wie damals die Knetmaschine in der Bäckerei meines Grossvaters. Ich ertappe mich beim Gedanken, dass ich den Rest meines Lebens dort verbringen möchte.

11
Sep
2011

Hochrisiko-Reise

Eigentlich würde ich heute nicht bloggen. Eigentlich wäre ich heute zu Besuch in einer phantastischen, alten Fabrikhalle auf dem Land. An einer Vernissage. Eigentlich würde ich dort viele alte Bekannte treffen und hätte grossen Spass.

Der Ausflug steht seit Wochen in meiner Agenda. Aber als ich heute aufwachte, schrien plötzlich alle meine Instinkte: "Bleib zu Hause! Du bist in den letzten Tagen viel zu viel unterwegs gewesen! Und eine Kaltfront naht! Und eine anstrengende Arbeitswoche! Lauter Risiko-Faktoren für einen Hörsturz. Sogar eine vierzigminütige Reise aufs Land ist da ein Wagnis."

Herr T. nickte. Er versteht meine Instinkte bald besser als ich selber. "Dann bleiben wir zu Hause", sagte er. "Ich habe sowieso keine Lust, in dieser düsteren Halle zu hocken."

Für alle, die mich nicht kennen muss ich hier anmerken: Vor einem Jahr war ich noch viel ängstlicher. Der Start der kulturellen Herbstsaison 2010 ging völlig an mir vorbei. Ich lebte wie eine Einsiedlerin. Wo immer ich auch war: Ich fürchtete stets den nächsten Hörsturz. Ich habe die Meniere'sche Krankheit auf beiden Ohren. Schon beim Gedanken an einen akuten Hörnachlass in einem geschlossenen Theatersaal bekam ich einen Anfall von Klaustrophobie. Selbst kürzere Zugreisen waren für mich der Horror.

Letzten Herbst entdeckte ich deshalb das Glück des einsamen Spaziergangs. Spaziergänge konnte ich nach Gutdünken dosieren. Das war gut für meine Ohren. Aber irgendwann begriff ich: Ich kann nicht den Rest meines Lebens sozial tot verbringen.

Ich kehrte unter die Menschen meines Städtchens zurück. Es war wunderbar. Man hat ja als Person eine gewissen Newswert, wenn man nach mehr als einem Jahr aus der selbst gewählten Verbannung zurückkehrt. Alle wollen mit einem reden.

In den letzten Tagen ist meine Agenda zum Bersten voll gewesen. Ich war drauf und dran, meine selbst aufgestellten Vorsichtsregeln in den Wind zu werfen: Unter Woche Ausgang höchstens bis 22 Uhr. An freien Tagen nicht mehr als eine Veranstaltung. Zwischendurch einen ruhigen Tag einlegen. Ein bisschen bloggen. Musik hören. Spazieren gehen. Fernsehen.

Das tut mir gut. Aber manchmal ist es wie im Gefängnis.

24
Aug
2011

Luftwaffen-Terror in der Schweiz

Der Teufel will es, dass wir in der Nähe des Militärflugplatzes Emmen wohnen. Er will ausserdem, dass ich seit dem Menière'schen Schub letzte Woche extrem lärmempfindlich bin. Zum Glück habe ich meine wächsernen Freunde.



Ich montiere sie möglichst dicht, sobald ich aus dem Haus gehe.

Beim Zeitungslesen am Frühstückstisch trug ich sie noch nicht. Man will sich ja mit seinem Tischgenossen unterhalten können. Aber der Teufel will es, dass das Wetter im Moment herrlich ist. So schön, dass wir bei offenem Fenster frühstücken. Das ist wunderbar und nur ungefähr zweimal im Jahr möglich. Wir sassen also da und genossen die Sonne.

Um punkt 8.30 Uhr startete die Luftwaffe. Genau über unseren Köpfen holten die Piloten das Letzte aus ihren Maschinen. Das Haus wankte, ich sass da und vergass vor Entsetzen sogar einen Moment lang, die Ohren zuzuhalten. Dann rannte ich und steckte Kopf unter mein Duvet. Auch Herr T. war geschockt. Er fluchte noch, als ich wieder auftauchte. Ich weiss jetzt: Kampfflugzeuge sind auch dazu gebaut, den Feind allein schon mit ihrem Lärm in Angst und Schrecken zu versetzen. Und damit die Piloten das im Ernstfall richtig gut können, muss es gelegentlich geübt werden. In einem friedlichen Land wie der Schweiz am besten an der eigenen Zivilbevölkerung.

Ich erwog, die Flugplatzwache anzurufen und zu motzen. Aber im Büro vergass ich das dann.

Heute habe ich frei. Ich konnte ausschlafen. Aber bevor ich gestern Abend das Licht löschte, bereitete ich mich auf den Luftwaffen-Angriff von heute Morgen vor. Ich steckte mir die Ohropax fest in beide Ohren. Dann machte ich im Bett einen militärischen Drill. Ich übte gründlich und mehrmals:

1) Blitzschnell auf den Bauch drehen
2) Das gute Ohr fest auf die Matratze drücken
3) Blitzschnell das Kissen über den Kopf ziehen und an den Schädel pressen

Am Morgen weckte mich tatsächlich die Luftwaffe. Aber ich konnte meinen Drill. Es ging. Beim Frühstück trug ich immer noch meine Ohropax.

22
Aug
2011

Teufelskreis

Ich höre wieder. Sogar Musik klingt wieder wie Musik.

Im Moment habe ich nur noch ein Problem: die Angst vor dem nächsten Schub.

Ich weiss, dass ich keine Angst haben sollte. Angst kann alles viel schlimmer machen. Aber was soll man machen? Man sitzt im Büro und laboriert mit dem neuen Windows 7 herum. Die Burschen vom Support haben bei der Installation etwas verbockt. Ich kann dringende Mails an gewisse Kunden nicht verschicken. Der letzte Bescheid vom Support war kafkaesk: "Wir wissen nicht, was Du falsch machst. Wir können Deine Mails verschicken!" Grossartig!

Heute - nacheiner Woche - hat endlich ein Supporter das Problem als solches erkannt. Wie er es lösen können, weiss er aber auch nicht.

Ich rege mich auf.

Ich sollte mich nicht aufregen. Ich könnte einen Hörsturz bekommen, wenn ich mich aufrege. Ich sollte auch nicht eine Stunde lang mit einem Tubel vom Computer-Support herumlaborieren müssen. Ich bin dafür nicht gesund genug. Und ich sollte mich auf keinen Fall aufregen. Auf keinen Fall!

Ich gehe nach Hause und rege mich noch mehr auf. Ich sollte mich nicht aufregen. Es ist ein Teufelskreis. Ich werde zum winselnden Maniak. Ich winde mich auf dem Sofa vor Angst. Dieses Computer-Problem wird uns Kunden kosten und mich in einen Hörsturz treiben. Ich weiss es. Früher hätte ich über so etwas gelacht. Aber jetzt... nein, jetzt nicht mehr. Ich bin nicht mehr ich selber. Als es an der Tür klingelt, will ich erst gar nicht aufmachen. Nur nicht noch mehr Stress!

Schliesslich mache ich doch auf - es sind meine Eltern. Sie wollten schon wieder gehen. Ich raufe mir die Haare und schildere ihnen die Situation: dass ein paar Kerle vom Computer-Support mich in einen Hörsturz treiben werden, verdammt! Ich bekomme beim Erzählen einen Tobsuchtsanfall. Schon wütend zu werden tut unglaublich gut.

Da sagt Mama: "Wenn die Burschen Deine Mails verschicken können, dann lass sie Deine Mails verschicken! Es ist ihr Job, das Problem zu lösen. So lange sie es nicht lösen können, sollen sie Deine Arbeit erledigen. Schick Ihnen Deine Mails und sag ihnen, dass sie sie weiter verschicken sollen. Du wirst sehen, wie schell das Problem dann gelöst ist!"

Die Idee ist simpel und ergreifend. Sie funktioniert wahrscheinlich. Genau das werde ich tun.

Die Angst ist wie weggeblasen, der Teufeslskreis durchbrochen. Oh, und der Wutanfall hat gut getan!

19
Aug
2011

Am Tiefpunkt

Eben war ich im Spital. Dort haben sie mir gesagt, ich solle mir keine Sorgen machen. Ich würde auf meinem guten Ohr an der kritischen Stelle noch zehn Dezibel besser hören als damals, als es am schlimmsten war. Halleluja! Ich habe ja Mühe, einer Konversation unter vier Augen zu folgen. Wenn noch ein Auto vorbeifährt, bin ich verloren.

Dann haben sie mich halb krank geschrieben. Ganz krank schreiben können sie mich jetzt nicht mehr. Ich muss sonst um meinen Job fürchten. Und ich will auch arbeiten. Oder soll ich denn den ganzen Tag herumsitzen und dem Dröhnen in meinen Ohren zuhören? Ich bin jetzt wieder hier und blicke den Tatsachen in die Augen: Ich werde taub.

In solchen Momenten fällt mir immer ein Buch von George Orwell ein: Down and Out in Paris and London Er beschreibt darin, wie er im Paris der 30er-Jahre all sein Geld durchbringt, dann auch noch bestohlen wird und sich schliesslich als Küchenhilfe zu einem Hungerlohn verdingen muss.

"Er ist ausgesprochen merkwürdig, Dein erster Kontakt mit der Armut. Du hast so viel über sie nachgedacht. Sie war es, wovor Du Dich Dein ganzes Leben gefürchtet hast. Du hast gewusst, dass sie Dir früher oder später begegnen würde - und sie ist so völlig und prosaisch anders als Du erwartet hast ... Du dachtest, es wäre furchtbar. Aber es ist nur schmutzig und langweilig."

Und weiter unten: "Und da gibt es ein Gefühl, das ein grosser Trost ist in der Armut ... es ist ein Gefühl der Erlösung, fast des Vergügens, Dich endlich echt am Tiefpunkt zu wissen. Du hast so oft gesagt, Du würdest vor die Hunde gehen. Und, tja, hier sind die Hunde. Du bist bei ihnen und Du hältst es aus. Das nimmt Dir eine Menge Angst."

Ich ahne jetzt, was er gemeint hat. Obwohl taub werden eher furchtbar als schmutzig und langweilig ist. Und ich manchmal nicht ganz sicher bin, wie ich es aushalten soll.

17
Aug
2011

Heute nur Gitarrenröhren

Ich traue mich schon fast nicht mehr, es zu schreiben. Mein gutes Ohr... Ihr wisst schon: Gurgeln, dröhnen, kiechzen. Hörverlust über Nacht. Stufe zwei, würde ich sagen - das ist bei meiner vierstufigen Skala schon ziemlich viel.

Ich beschliesse, tapfer zu sein. Was immer passiert, ich werde es akzeptieren. Ich beschliesse, morgen trotzdem zur Arbeit zu gehen, falls ich noch telefonieren kann. Im Spital wissen sie ja auch nicht, was sie mit mir tun sollen. Ich beschliesse, mir keine Gedanken über die Ursachen zu machen - oder darüber, was ich tun könnte. Ich werde taub. Okay. Ich werde versuchen, trotzdem ein normales Leben zu führen. Jeder hat sein Bördeli zu tragen. Längst nicht jeder macht deswegen so ein Theater wie Frau Frogg.

Aber ich möchte mich am liebsten wie eine kranke Katze ins Gebüsch legen und sterben.

Am Nachmittag gehe ich mit Gottenbub Tim (6), seiner Schwester und ihrem Papa in die Badi. Das ist anstrengend, aber es lenkt ab. Danach möchte ich mich nicht mehr ins Gebüsch legen.

Ich höre sogar Musik. Natürlich keine Sachen elastischen, tragenden Bassriffs. Auf keinen Fall U2. Würde ich heute einen U2-Song hören, so wäre das eine Beleidigung für U2. Ich höre statt dessen sattes Gitarrenröhren im mittleren Tonbereich. Das klingt nicht falsch, nicht zu stumpf und nicht übersteuert - sondern einfach, als hörte ich es in einem fahrenden Zug. Es entspannt.

22
Jul
2011

Schwerhörig

Mittags esse ich oft in unserer Firmen-Cafeteria. Gestern setzte ich mich zu den Kumpels vom Büro 2.

Ich hatte einen schlechten Tag. Hintergrundlärm hörte ich als lautes Blubbern und Gurgeln und Girren. Als sässe ich in einer überkochenden Pfanne. Lästig. Beängstigend.

Die Kumpels redeten erst über Plattenläden. Da hatte ich natürlich auch etwas beizutragen. Dann kamen sie irgendwie aufs Fernsehen. Oder waren es Computer? Ich weiss es nicht mehr genau. Ich verstand nur noch Wortfetzen. Es interessierte mich nicht. Ich hängte ab. Ich schwieg und ass.

Ich dachte an Tante Nettli.

Es ist immer ein Alptraum von mir gewesen, so zu werden wie Tante Nettli. Tante Nettli taucht jeweils an Familienfesten bei Herrn T. auf. Sie fährt ein mit einem Hündchen namens Johnny, gibt sich zur Begrüssung betriebsam, macht merkwürdige Geräusche und rollt die Augen. Dann setzt sie sich hin und schweigt. Und isst. Und schweigt. Spricht man sie an, reagiert sie verdattert. Irgendwann bringt man dann eine Konversation ohne sie richtig schön zum Laufen. Dann plötzlich erhebt sie das Wort. Sie unterbricht alle und erzählt, dass sie gestern Rösti zum Mittagessen gemacht habe. Aus rohen Kartoffeln. Als sei das das Wichtigste auf der Welt.

Tante Nettli kann nichts dafür. Sie ist extrem schwerhörig - und man hat es viel zu spät gemerkt. Sie hat sich nie an ihre Hörgeräte gewöhnt.

Aber wir haben uns auch schon gefragt: Kommt sie bei unseren Gesprächen nicht mit? Oder will sie nicht mitkommen?

Nie wollte ich so werden wie Tante Nettli.

Aber gestern war ich schon ein bisschen wie Tante Nettli. Ich schwieg. Ich liess mich abhängen. Ich war schwerhörig.

20
Jul
2011

Ohrensausen am Morgen

Gestern früh bin ich mit einem Geräusch-Trio im Ohr aufgewacht, das mir gar keine Freude macht: Da waren ein dumpfes Dröhnen; ein merkwürdiges Schaben; und ein filziges Aufdonnern jedesmal, wenn ich den Kopf bewegte. Die Autos draussen huschten wie auf Flügeln vorbei, ganz ohne Tieftöne.

Wenn ich das morgens habe... ganz schlechtes Zeichen. Morgens hatte ich das bisher nur im Herbst 2009, als ich den ersten, wirklich schlimmen Meniere-Schub auf meinem guten Ohr hatte.

Dabei hatte ich am Montagabend noch geglaubt, ich hätte das Schlimmste überstanden; den Schock der abgebrochenen Türkei-Reise überwunden; die postferiale Stresswelle im Büro zum Abebben gebracht; das herannahende Tiefdruckgebiet verkraftet. Das Gehör ging bestens, den ganzen Tag.

Und dann das!

Das Schlimme daran ist, dass es zwei meiner Lieblings-Illusionen an den Klippen der Wirklichkeit zerschellen lässt:

1) dass ich in der Lage bin, mir das Ohrenleiden mit einer vorsichtigen Lebensweise vom Leib zu halten.
2) dass ich den Verlauf der Krankheit einigermassen einschätzen und damit auch ein bisschen steuern kann.

Zu eins: Ich hatte im Büro freudig ein kleines Projekt angenommen, das mir interessant und wenig aufwändig schien. Aber ich hatte mich verkalkuliert: Innert Tagen hatte ich Problemfelder von mehreren Hektaren vor mir. Schnell kam Termindruck. Ich machte auf die Probleme aufmerksam, aber man hörte mir nicht zu. Die Probleme wurden noch grösser. Und so weiter.

Kann man auf die Dauer überhaupt arbeiten, ohne dass solche Dinge passieren? Nein. Ich habe solche Situationen schon ein paarmal erlebt, seit ich wieder arbeite. Nicht jedesmal ist ein Desaster passiert. Aber es kann ein Desaster passieren. Oder ist das Desaster überhaupt nicht deswegen passiert? Sondern wegen etwas anderem? Ich weiss es nicht.

Inzwischen weiss ich aber: Irgendwann werde ich ohnehin taub. Früher oder später.

Abends ging ich spazieren. Ich erinnerte mich an jene fürchterliche Zeit im Winter 2009. Dieses Entsetzen.

Nein, dachte ich. Es ist nicht so schlimm wie damals. Und ich stehe an einem anderen Ort. ICH STEHE AN EINEM ANDEREN ORT!!!

Aber als heute Morgen erwachte ich noch in einen weiteren Tinnitus: ein helles, gellendes Pfeifen. Das ist der schlimmste Tinnitus. Er kündigt schwindende Töne auf Hochton-Frequenzen an. Wenn er kommt, verschwindet nicht selten das Sprachverständnis.

Ich habe ein Cortison eingeworfen, den Arzt angerufen und mir versprochen, ruhig zu bleiben. Ich habe frei. Im Moment kann ich noch Radio hören.

4
Jul
2011

Hören oder reisen?

Ich weiss seit langem, dass Reisen für mich eine Hochrisiko-Beschäftigung ist. Herr Menière piesackt mich mit Vorliebe unterwegs. Dann bekomme ich auch noch Panik, weil ich weiss, dass Reisen für mich eine Hochrisiko-Beschäftigung ist. Das macht alles noch schlimmer. Und so weiter.

Über die Frage "reisen oder hören?" habe ich auch schon mit meinem Kumpel English diskutiert. Der schmollt nämlich immer noch: Er wollte mich im Herbst 2009 besuchen, als es mir wirklich beschissen ging. Ich hatte nicht die Kraft für ihn, lud ihn aus und habe ihn seither nicht besucht. Aber wir telefonieren ab und zu. "Ich würde reisen und halt mein Gehör verlieren", sagte er. Da wurde mir bewusst: Solche Diskussionen sind ahnungslose Spielchen für Hörende. Genauso schwachsinnig wie die Frage, ob man eher auf sein Gehör oder sein Augenlicht verzichten könnte.

Wenn Herr T. nicht gewesen wäre, ich wäre seit 2009 nie mehr weiter als 50 Kilometer von zu Hause weggefahren - obwohl ich, weiss Gott, gerne reise. Er drohte mir letztes Jahr gewissermassen das Ende unserer Liebe an, wenn ich nicht mit ihm ins Engadin käme. Also begann ich, Risiken zu kalkulieren. Und ich lernte: Das Engadin geht. Oder ging jedenfalls letztes Jahr. Ebenso gingen London und Wien (und wie - fünf Tage nicht das leiseste Gehörverlüstchen!).

Das Reiseziel Südtürkei wählte ich dann nach einem Motto von Dr. Bailey in der Fernsehserie Grey's Anatomy.



Denn die echten Ärzte, die ich kenne, wissen auf die Frage "reisen oder hören?" sowieso keine Antwort. Aber Dr. Bailey ist eine kompetenten Frau. Und sie sagt: "A happy patient is a healthy patient." Und in der Türkei bin ich immer sehr glücklich gewesen. Auch diesmal wäre ich dort glücklich gewesen: Ich liebte die Menschen dort, das Licht, die Landschaft, die Kunst. Nur die Hitze hat mich diesmal ein wenig, na, wie soll ich sagen... überrumpelt.

Glück allein scheint Meniere-Patientin Frogg also nicht zu reichen - oder nicht nur. Es geht mir viel besser, seit ich wieder zu Hause bin (an dieser Stelle klopfe ich dreimal auf Holz). Wir waren heute in den Bergen. Es war herrlich.

Ich werde neu kalkulieren müssen.

Herr T. trägts mit Sarkasmus. "Ich sehe schon: Die Sonnenterrasse Amden ist unsere Zukunft", grinst er. Die Traumdestination unserer Grosseltern.
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