11
Sep
2011

9/11

Auf den Tag genau vor zehn Jahren machte meine Bekannte, die Buchhändlerin, die Theorieprüfung für ihren Führerschein. Wenn man als Mittdreissigerin Auto fahren lernt, ist man ja eine komische Figur. Um bei den Kollegen nicht zu blöd dazustehen, büffelt man da ordentlich Theorie. Sie bestand mit Null Fehlern. Freudestrahlend kehrte sie gegen 16 Uhr ins Geschäft zurück. Sie platzte fast vor Mitteilungsbedürfnis. Aber ihre Kollegen klebten vor dem Fernseher.

Die Welt war gerade eine andere geworden.

Ich sass an jenem Nachmittag auf der Redaktion neben meinem Kollegen Herbert. Er war ziemlich nervös, denn er war eigentlich Wirtschaftsredaktor. Aber an jenem Tag hatte er Frontdienst. Er war zuständig für die wichtigsten News des Tages. Dafür fehlte ihm die Routine. Gegen 15 Uhr kam er mit einer Agenturmeldung. Damals wurden die noch von ständig ratternden Faxgeräten auf Papier ausgespuckt. Er sagte: "Da steht, ein Flugzeug wäre in einen der Twin Towers gedonnert. Seltsam." Ich schüttelte den Kopf: "Ach komm, das ist doch ein Witz! Das kann doch gar nicht sein!" Merkwürdigerweise hatten wir damals ausgerechnet auf der Frontredaktion noch keinen Fernseher. Zehn Minuten später kam Herbert mit weiteren Meldungen. "Das mit den Twin Towers scheint zu stimmen", murmelte er. "Na, dann habe ich ja meinen Frontaufmacher für morgen."

Dann wurde alles noch viel schlimmer als wir dachten.

Wie 9/11 die Welt für uns verändert hat, können wir kleinen Fische heute kaum beurteilen. Fest steht für mich nur eins: Falls der Tag überhaupt Chancen bot, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, hat niemand sie ergriffen.

Hochrisiko-Reise

Eigentlich würde ich heute nicht bloggen. Eigentlich wäre ich heute zu Besuch in einer phantastischen, alten Fabrikhalle auf dem Land. An einer Vernissage. Eigentlich würde ich dort viele alte Bekannte treffen und hätte grossen Spass.

Der Ausflug steht seit Wochen in meiner Agenda. Aber als ich heute aufwachte, schrien plötzlich alle meine Instinkte: "Bleib zu Hause! Du bist in den letzten Tagen viel zu viel unterwegs gewesen! Und eine Kaltfront naht! Und eine anstrengende Arbeitswoche! Lauter Risiko-Faktoren für einen Hörsturz. Sogar eine vierzigminütige Reise aufs Land ist da ein Wagnis."

Herr T. nickte. Er versteht meine Instinkte bald besser als ich selber. "Dann bleiben wir zu Hause", sagte er. "Ich habe sowieso keine Lust, in dieser düsteren Halle zu hocken."

Für alle, die mich nicht kennen muss ich hier anmerken: Vor einem Jahr war ich noch viel ängstlicher. Der Start der kulturellen Herbstsaison 2010 ging völlig an mir vorbei. Ich lebte wie eine Einsiedlerin. Wo immer ich auch war: Ich fürchtete stets den nächsten Hörsturz. Ich habe die Meniere'sche Krankheit auf beiden Ohren. Schon beim Gedanken an einen akuten Hörnachlass in einem geschlossenen Theatersaal bekam ich einen Anfall von Klaustrophobie. Selbst kürzere Zugreisen waren für mich der Horror.

Letzten Herbst entdeckte ich deshalb das Glück des einsamen Spaziergangs. Spaziergänge konnte ich nach Gutdünken dosieren. Das war gut für meine Ohren. Aber irgendwann begriff ich: Ich kann nicht den Rest meines Lebens sozial tot verbringen.

Ich kehrte unter die Menschen meines Städtchens zurück. Es war wunderbar. Man hat ja als Person eine gewissen Newswert, wenn man nach mehr als einem Jahr aus der selbst gewählten Verbannung zurückkehrt. Alle wollen mit einem reden.

In den letzten Tagen ist meine Agenda zum Bersten voll gewesen. Ich war drauf und dran, meine selbst aufgestellten Vorsichtsregeln in den Wind zu werfen: Unter Woche Ausgang höchstens bis 22 Uhr. An freien Tagen nicht mehr als eine Veranstaltung. Zwischendurch einen ruhigen Tag einlegen. Ein bisschen bloggen. Musik hören. Spazieren gehen. Fernsehen.

Das tut mir gut. Aber manchmal ist es wie im Gefängnis.

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