4
Jul
2011

Hören oder reisen?

Ich weiss seit langem, dass Reisen für mich eine Hochrisiko-Beschäftigung ist. Herr Menière piesackt mich mit Vorliebe unterwegs. Dann bekomme ich auch noch Panik, weil ich weiss, dass Reisen für mich eine Hochrisiko-Beschäftigung ist. Das macht alles noch schlimmer. Und so weiter.

Über die Frage "reisen oder hören?" habe ich auch schon mit meinem Kumpel English diskutiert. Der schmollt nämlich immer noch: Er wollte mich im Herbst 2009 besuchen, als es mir wirklich beschissen ging. Ich hatte nicht die Kraft für ihn, lud ihn aus und habe ihn seither nicht besucht. Aber wir telefonieren ab und zu. "Ich würde reisen und halt mein Gehör verlieren", sagte er. Da wurde mir bewusst: Solche Diskussionen sind ahnungslose Spielchen für Hörende. Genauso schwachsinnig wie die Frage, ob man eher auf sein Gehör oder sein Augenlicht verzichten könnte.

Wenn Herr T. nicht gewesen wäre, ich wäre seit 2009 nie mehr weiter als 50 Kilometer von zu Hause weggefahren - obwohl ich, weiss Gott, gerne reise. Er drohte mir letztes Jahr gewissermassen das Ende unserer Liebe an, wenn ich nicht mit ihm ins Engadin käme. Also begann ich, Risiken zu kalkulieren. Und ich lernte: Das Engadin geht. Oder ging jedenfalls letztes Jahr. Ebenso gingen London und Wien (und wie - fünf Tage nicht das leiseste Gehörverlüstchen!).

Das Reiseziel Südtürkei wählte ich dann nach einem Motto von Dr. Bailey in der Fernsehserie Grey's Anatomy.



Denn die echten Ärzte, die ich kenne, wissen auf die Frage "reisen oder hören?" sowieso keine Antwort. Aber Dr. Bailey ist eine kompetenten Frau. Und sie sagt: "A happy patient is a healthy patient." Und in der Türkei bin ich immer sehr glücklich gewesen. Auch diesmal wäre ich dort glücklich gewesen: Ich liebte die Menschen dort, das Licht, die Landschaft, die Kunst. Nur die Hitze hat mich diesmal ein wenig, na, wie soll ich sagen... überrumpelt.

Glück allein scheint Meniere-Patientin Frogg also nicht zu reichen - oder nicht nur. Es geht mir viel besser, seit ich wieder zu Hause bin (an dieser Stelle klopfe ich dreimal auf Holz). Wir waren heute in den Bergen. Es war herrlich.

Ich werde neu kalkulieren müssen.

Herr T. trägts mit Sarkasmus. "Ich sehe schon: Die Sonnenterrasse Amden ist unsere Zukunft", grinst er. Die Traumdestination unserer Grosseltern.

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walküre - 4. Jul, 20:04

Liebe Frau Frogg, ich bedauere einerseits das verfrühte Urlaubsende (und deswegen auch den Herrn T.), bin aber andererseits froh, zu lesen, dass es Ihnen in heimatlichen Gefilden wieder besser geht.

Mir ist da unlängst ein Gedanke bezüglich Ihrer Krankheit durch den Kopf gegangen, den ich hier äußern möchte, und zwar hoffentlich, ohne Ihnen auf die Nerven zu gehen:
Kann es sein, dass es Ihnen schlechter geht, wenn Ihr Blutdruck (zu) niedrig wird ? Speziell im Kontext mit der Hitze schiene mir dies in gewisser Weise logisch zu sein ...

(Sagt eine, deren Blutdruck nicht selten in kollapsverdächtigen Niederungen verschwindet.)

diefrogg - 4. Jul, 21:44

Danke fürs Mitdenken,

Frau Walküre. In der Tat habe ich schon irgendwo gelesen, dass ein Zusammenhang zwischen niedrigem Blutdruck und der Meniere'schen Krankheit bestehen könnte (anderswo ist von hormonellen Problemen, Baugiften etc. etc. die Rede). Ich habe meinen niedrigen Blutdruck dann auch zur Sprache gebracht, als ich 2009 im Spital war und er bei jeder Messung im Keller. Die Ärzte haben aber überhaupt nicht reagiert. Offenbar weiss man einfach sehr wenig über die Krankheit. Das Problem ist halt: Morbus Menière ist an sich relativ selten - und da die meisten Leute das Zeug auch nur auf einem Ohr haben, ist schlicht der Druck, die Krankheit zu erforschen, nicht sehr hoch.

Kommt noch dazu, dass der Zusammenhang nicht wirklich eindeutig ist. Mindestens ebenso wichtig scheint es mir, regelmässig zu essen (salzarm, nicht zu viel Zucker, wenig Alkohol), um den Blutzuckerspiegel einigermassen stabil zu halten. Das habe ich dann in der Türkei auch fleissig versucht. Mir kams so vor, als hätten wir dort nichts anderes getan als gegessen. Zum Glück ist das Essen dort sehr in meinem Sinn und auch leicht. Man hätte mich vom Flugfeld rollen können.
la-mamma - 4. Jul, 23:50

was ich so von der krankheit im familiären umfeld mitkriege: nur keine zu schnellen höhenwechsel.
walküre - 5. Jul, 12:14

Ich meine ja nicht, dass der Druck, die Krankheit zu erforschen, nicht hoch ist, zumal die Symptomatik von Menière und Tinnitus durchaus Parallelen aufweist und die Anzahl der Tinnitus-Patienten allein im deutschen Sprachraum in die Hunderttausende geht - mir scheint eher, dass sich die Forschung sehr schwer damit tut, sich und anderen einzugestehen, dass sie (zumindest derzeit) aufgrund der Komplexität der Symptomatik im Zusammenhang mit ebenfalls noch unzureichend erforschten Stoffwechselabläufen schlicht und einfach an ihren Grenzen angelangt ist.
diefrogg - 5. Jul, 20:08

@la-mamma:

Also, schnelle Höhenwechsel ertrage ich eigentlich (meist) problemlos. Ich bin ja nicht selten auf Bergbahnen anzutreffen und empfinde die kaum als Belastung für mein Gehör. Auch Fliegen bereitet mir keine Beschwerden. Ich bin dafür sehr wetterfühlig - wobei: Wenn ich das einem Arzt erzähle, macht er dieses Gesicht, das in ungefähr besagt: "Ach, was sich die Leute alles ausdenken, um eine Erklärung für den Verlauf ihrer Krankheit zu bekommen!" Dabei muss man sich die Dinge ja irgendwie zurechtlegen, wenn einem die Medizin nicht helfen kann.

@walküre: Darf ich mir erlauben, Ihren Kommentar als Anlass für eine Bemerkung über den Tinnitus zu nehmen? Meines Erachtens wird er unnötig dämonisisert. Er ist ein Symptom und an sich etwas Harmloses, aber leider meist die Begleiterscheinung viel bedrohlicherer Zustände. So kommt er sehr häufig mit einem Hörverlust - den ich persönlich als viel bedrohlicher empfinde als den Tinnitus. Da sich viele Leute einen Hörverlust nicht eingestehen (die Psychologie der Schwerhörigkeit, ein grosses Rätsel), wird der Begriff "Tinnitus" häufig als Synonym für den Hörverlust verwendet (was mich ärgert, weil es eine verschwommene Begriffslage schafft und das eigentliche Problem maskiert). Tinnitus ist auch eine typisches Symptom der Meniére'schen Krankheit. Oft kündigt er einen Hörverlust an oder begleitet ihn (weshalb ich ihn als so unangenehm empfinde und auch gern darüber schreibe). Viele Menière-Patienten finden aber den Tinnitus einigermassen nebensächlich. Als viel belastender erleben sie den Schwindel oder eben den Hörverlust.

Was die Forschung betrifft: Beforscht werden - so vermute ich jedenfalls - jene Krankheiten, die grossen volkswirtschaftlichen und für Individuen und Familien existenziellen Schaden anrichten: Krebs, Herzinfarkte, Rheuma. Morbus Menière ist relativ selten, die man stirbt nicht daran, in der Regel wird man nur auf einem Ohr taub und deshalb auch nicht zum Sozialfall. Ausnahmen die die Regel bestätigen: Ich kenne zwei Serviererinnen, die ihre Stelle wegen häufiger Schwindelanfälle verloren. Ausserdem - und in diesem Punkt gebe ich Ihnen recht: Die Sache betrifft komplexe Stoffwechsel-Prozesse. Das würde wohl aufwändig. Da hält man sich mit Forschen lieber zurück. Immerhin ist man in der Diagnostik heute aber schon recht weit. Ich habe gestaunt, welches Begriffs-Spektrum für Menière-Symptome man kennt - obwohl man sie nicht wirklich behandeln kann.
walküre - 6. Jul, 15:53

Ich sehe, hier liegt ein Missverständnis vor. In meinem Umfeld wird der Begriff "Tinnitus" nicht als Synonym für "Hörverlust" verwendet, sondern Tinnitus ist, was es ist: Ein Symptom, welches sich in nur vom Patienten wahrnehmbaren Geräuschen äußert. Da aber sehr viele Menschen davon betroffen sind - unabhängig vom Auftreten anderer Symptome -, wäre es sicher lukrativ, wirksame Medikamente anbieten zu können und insofern dürfte die Forschung schon motiviert sein (Derzeit erhält man hierzulande als Erste Hilfe im Spital lediglich durchblutungsfördernde Infusionen, die kaum einen erkannbaren Heilungseffekt bewirken.), scheitert aber eben an der Komplexität.


PS & völlig off topic:
Gestern habe ich einen Kinotrailer im ORF gesehen, bei dem ich sofort an Sie gedacht habe, und zwar wegen dieses Beitrages.

sennentuntschi.com
diefrogg - 7. Jul, 18:45

Oh, danke für den Trailer!

Und sorry für die späte Antwort. Ich musste erst wieder mal mein Wissen über den Tinnitus auf Vordermann bringen. Es war tatsächlich vorschnell von mir, Ihnen eine falsche Verwendung des Begriffs vorzuwerfen. Allerdings ist es leider unwahrscheinlich, dass die reine Erforschung von Ohrgeräuschen die Therapie von Morbus Menière weiter bringen würde. Allein Wikipedia listet ein rundes Dutzend möglicher Ursachen für einen Tinnitus auf: vom schlichten Schmalzpfropfen im Gehörgang über die Otosklerose (eine Mittelohr-Erkrankung) bis zum Tumor am Hörnerv.
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