das bin ich

12
Feb
2011

Kiffen am Waldrand

Ich bin ja ein grosser Fan der Madeleine-Episode in Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Ich finde es faszinierend, von einem Geruch, einem Bild oder einem Stück Musik in eine andere Zeit versetzt zu werden - und plötzlich Dinge wieder zu wissen, die ich vor 20 oder 30 Jahren vergessen habe. Solche Madeleine-Momente sind auch eine wichtige Inspirationsquelle für diesen Blog.

Aber neulich wurde es mir doch fast zu viel des Guten. Ich war auf einem Spaziergang und kam aus einem Wäldchen. Da erlitt ich plötzlich einen jähen Erinnerungs-Schock. Vor mir sah ich ein einen Obstgarten und in der Ferne einen Bauernhof mit Siloturm.

Sentimental memories

Hier, wusste ich plötzlich, hier habe ich zum ersten Mal gekifft.

Andere Leute brechen über solche Erinnerungen in Gelächter aus. Nicht Frau Frogg. Diese Erinnerung ist nicht eine, die ich gerne besuche. Doch an jenem Nachmittag besuchte sie mich mit ihrer ganzen bitteren Süsse.

Wir waren von der anderen Seite zum Waldrand gekommen. Der Landfreak war aus dem Vorortszug gestiegen und hatte mich über die Wiesen geführt. Es war ein schier unerträglich schöner Frühlingstag. An den Kirschbäumen schäumten die Blüten. Der Landfreak hatte goldene Locken und sehe heute noch das Lederbändchen über seinem Brustbein. Er war so nah und doch nie erreichbar. Ich war verliebt. Ich war 17. Heute ist mir schleierhaft, weshalb ich überhaupt kiffen wollte. Ich war so schon berauscht genug.

Am Waldrand hielten wir an und er drehte einen Joint. Ich habe nie gewusst, weshalb er diesen Platz wählte.

Wir sprachen ja nicht viel. Die Geschichte vom Landfreak und mir ist jene einer aussererordentlich heftig verunglückten Liebesgeschichte in meiner an Liebesgeschichten, weiss Gott, nicht armen Jugend.

Wir trennten uns später im Streit. Er wurde Banker und machte eine steile Karriere. Manchmal sah ich ihn in der Stadt. Wir plauderten freundlich. Aber da war immer dieses Aroma von Missgunst. Vor ein paar Jahren habe ich gesehen, wie er am Fernsehen eine Tragödie schilderte, die eines seiner Kinder getroffen hatte. Hätte er gewusst, dass ich ihn gesehen habe - er hätte es als ultimative Demütigung verstanden.

Ich blickte übers Land und der Schmerz hallte nach. Was hätte ich als 17-Jährige getan, wenn ich gewusst hätte, wie heftig mich das alles noch mit 45 treffen würde?

Wahrscheinlich hätte ich trotzdem mit dem Landfreak gekifft. Ich hätte wissen wollen, was es mit mir machte.

Nun ja, nicht viel. Ich bekam danach nur eine vaterländische Migräne.

Ein andermal werde ich erzählen, wie mir das Kiffen später bekam und weshalb ich einer Legalisierung von Cannabis trotzdem jederzeit zustimmen würde. Ich verspreche, dass ich mich sehr viel kürzer fassen werde als Marcel Proust.

8
Feb
2011

Bin ich eine Wutbürgerin?

Neulich habe ich eines dieser Spielchen gemacht, die ich zwar mache, aber sonst nie für bloggenswert halte. Es dreht sich um die so genannten sieben Todsünden und wie man zu ihnen steht. Ich kam zu einem bedenklichen Resultat:

Greed:Medium
 
Gluttony:Medium
 
Wrath:Very High
 
Sloth:Medium
 
Envy:Medium
 
Lust:Low
 
Pride:Medium
 

The Seven Deadly Sins Quiz on 4degreez.com

Gefunden bei romeomikezulu.

Es scheint, dass ich eine Wutbürgerin geworden bin. Ganz überraschend kommt das nicht. Als 2006 Burnouts in unserer Stadt Mode waren, war auch Frau Frogg einem solchen nahe. Emotional ist sie eben stets im Trend. Und unter Bloggern bin ich ja längst als die personifizierte Streitlust bekannt.

Dennoch beunruhigt mich dieses Resultat. Denn wer mich im realen Leben kennt, kennt mich eigentlich als freundlichen Menschen. Wut, noch viel schlimmer Zorn, halte ich für eine enorm schwierig zu bewältigende Emotion. Und dennoch finde ich in mir drin ein unerschöpfliches Reservoir des Zorns. Da ist eine Grund-Irritation, die sich gern den nächstbesten Anlass sucht, um zu einem kleinen oder grösseren Wutanfall zu werden. Alleinunterhalter im Zug. Eine verbitterte Alte. Bergspitzen. Das Gegeifer gewisser Politiker (merke: Es gibt mindestens eine Wutbürgerin, die nicht rechtsnational wählt). Freunde, die mit bester Absicht dumme Fragen stellen. Manchmal verprügle ich vor Wut meinen Futon. Oder boxe mit ein paar halb gelernten Karate-Hieben einen unsichtbaren Gegner. Davon komme ich ausser Puste. Aber der Zorn geht nicht weg.

Vielleicht hat es mit den fünf Phasen des Kummers zu tun. Nachdem mein Ohrenleiden mir ungefähr vier Karrieren versaut hat, ist es wohl normal, dass ich zornig auf mein Schicksal bin. Vielleicht liegt es daran, dass ich bei der Arbeit viel mit Wutbürgern zu tun habe. Vielleicht ist Wut so ansteckend wie Angst.

Okay, meinetwegen. Dann bin ich eine Wutbürgerin. Wut ist vielleicht ganz in Ordnung, und irgendwann kommt der nächste Trend.

Aber eins möchte ich nicht: verbittern. Wie verhindert man, dass aus Wut Bitterkeit wird?

26
Jan
2011

Wahre Gespenstergeschichte

Mein Grossvater war Bauer. Er war ein ehrgeiziger Mann. Er hatte Ambitionen für seine Kinder und sein Zuchtvieh. Er hatte in seiner Partei etwas zu sagen und war Präsident des örtlichen Käsereivereins und des Elektrizitätswerks Magdisee. Aber er hatte auch eine andere Seite: eine gewisse Affinität für das Übersinnliche - und keinerlei Berührungsängste gegenüber dem Jenseitigen. Mein Grossvater war der Frogg Köbu.

Er hatte einen Freund: den Luchseren Sepp. Eines Tages trafen die beiden eine Abmachung: Derjenige von beiden, der zuerst starb, würde sich beim anderen abmelden. Das heisst: Er würde ein Zeichen geben, dass er gestorben war. Aber der Frogg Köbu war ein vielbeschäftigter Mann. Er vergass die Sache bald.

Ein paar Jahre später sass er eines Nachmittags mit ein paar Kollegen in der Stube bei einem Jass. An der Wand hing ein Kreuz und eine Reproduktion von van Goghs Sämann. Bestimmt floss reichlich Kafi Träsch.

Es dunkelte gerade, als plötzlich das Kruzifix mit einem Knall von der Wand fiel. Die Männer erschraken. Der Köbu stand auf und hängte das Kreuz wieder auf. Er sass noch nicht wieder, als es nochmals zu Boden ging. Er hängte es nochmals auf. "So, jetzt müsste es halten", brummte er. Der Satz war kaum fertig, als es wieder knallte.

Wenig später kam die älteste Tochter des Luchseren Sepp vorbei und brachte die schlimme Nachricht: Der Luchseren Sepp war eben gestorben.

Da wusste mein Grossvater, weshalb das Kreuz gefallen war.

Wer noch mehr solche Geschichten hören will, sollte sich den Film "Arme Seelen" ansehen:



Die Löwenzahnwiese, die man im Trailer sieht, grenzt direkt an den Hof meines Grossvaters.

1
Jan
2011

Auf ein zielloses 2011!

Heute Mittag stand ich an einer wichtigen Verzweigung in meinem Leben. Äusserlich war sie nicht besonders spektakulär. Ich stand unten am See. Zu meiner Rechten lag das Gewässer, am Rand von einer dünnen Eisschischt überzogen. Zu meiner Linken der Weg zum Café Sarajevo.

Es zog mich mit aller Macht zum See. Nichts fasziniert mich mehr, als wenn ein See zufriert. Aber geplant hatte ich einen Besuch im Café Sarajevo. Erstens wollte ich das Versprechen an meine Leser einlösen, das Lokal bald zu besuchen. Zweitens hatte ich weiter gehende Pläne: Würde ich dort interessantes Material finden, könnte ich das auch für die geplante Restaurant-Serie unserer Zeitung gebrauchen. Ich muss nämlich wieder mehr arbeiten.

Ich erinnere mich gut an die Zeit, als ich viel arbeitete. Jede meiner Handlungen hatte einen Zweck. Ich arbeitete schon, wenn ich morgens die Zeitung las. Und meine letzten Gedanken abends galten oft dem Büro. Überhaupt: Ich dachte viel. Dachte mit Absicht und Zweck. Es war keine schlechte Zeit. Ich hielt meine Arbeit für wichtig. Sie machte mir oft Spass. Aber rückblickend kann ich mich manchmal des Gedankens nicht erwehren, dass ich damals etwas falsch gemacht habe.

Seit meinen Hörstürzen habe ich das Leben anders kennen gelernt. Ich hatte viel Freizeit. Anfangs fand ich diesen Alltag entsetzlich. Diese langen Abende ohne Aufgabe. Ich fühlte mich wie ein Krüppel, weil ich nicht mehr malochen konnte. Dann begann ich zu spazieren. Häufig streifte ich ziellos durch die Gegend. Liess mich durch irgend einen Reiz in eine unerwartete Richtung locken. Es war gerade die Ziellosigkeit, die mich glücklich machte. Die unerwarten Entdeckungen an unerwarteten Ecken. Die unerwartete Grösse meiner kleinen Welt.

Und jetzt?

Sollte ich meine Route wieder durch Pläne und Ziele bestimmen lassen? Nein, entschied ich. Das kann warten bis morgen. Ich wandte mich dem See zu. Ein Weilchen spazierte ich dem Ufer entlang, besah das schüttere Eis. Bleib stehen. Und kehrte um. Ich konnte nicht anders. Da hatte eine Frau Frogg das Kommando übernommen, die ich kaum noch kannte. Eine Frau Frogg, die ein Ziel will.

Ich ging Richtung Café Sarajevo. Unterwegs diskutierte ich heftig mit dieser mir fremd gewordenen Frau Frogg. Sie machte mir Angst. "Ich will nicht mehr so leben wie früher", sagte ich.

Auf dem Weg in die Vorstadt ging ich ein Stück dem Fluss entlang. Der Wasserpegel war gesunken. Kiesbänke waren aus dem Wasser aufgetaucht. Die Sonne schien. Ich ging hinaus aufs Kies und blinzelte ins Licht. Sammelte flache Steine und schieferte sie hinaus ins Wasser. Ich konnte es nicht mehr, aber das war egal. Bestimmt eine Viertelstunde lang. Ich fand einen hübschen, kleinen Kiesel.

kiesel 001

Ich fand meine Ziellosigkeit wieder.

Ich will sie im kommenden Jahr behalten. So viel davon wie möglich. Euch allen wünsche ich sie auch. Sie hat etwas sehr Befreiendes.

Vom Café Sarajevo erzähle ich Euch ein andermal.

4
Dez
2010

Über diesen Blog

"Man sollte einen Themenblog haben", hat Acqua einmal gesagt. Ich pflichtete ihr bei. Wir gingen beide davon aus, dass ein Themen- oder Konzeptblog im Grunde etwas intellektuell Wertvolleres ist als ein Feld-, Wald,- und Wiesen- und Selbsterfahrungsblog wie unsere beiden*. In der Tat fallen mir in einer Sekunde rund ein halbes Dutzend Themen- oder Konzeptblogs ein, die ich gerne und regelmässig lese:

ivinfo zu den skandalösen Zuständen im schweizerischen Invalidenversicherungswesen
notquitelikebeethoven, der sich fast ausschliesslich mit Fragen zur Schwerhörigkeit befasst
der Journalistenschredder (der Name ist Programm)
enzyglobe, der reine Spass an der Möglichkeiten der Sprache
londonleben, eine Deutsche erzählt von ihrem Leben in der Britenmetropole
Postkartenvomfranz, ein Hingucker

Themen- oder Konzeptblogs gelten mittlerweile sogar als preiswürdig. Auch ich hätte das Zeug, einen Konzeptblog zu machen:

- Ich traue mir zu, halbwegs kompetent über Bücher zu schreiben (aber wer würde das ständig lesen wollen?)
- Ich verstehe ein bisschen was von Filmen (ditto)
- Ich könnte das Flaneurinnentum zum Haupt-Blogthema erheben (auch kein Mainstream-Thema)
- Mein Wohnort böte geradezu unendlich viel Stoff (nicht, dass das meine treue Wiener Leserschaft interessieren würde, fürchte ich)
- Da wären meine musikalischen Studien (siehe Bücher)
- Und dann habe ich da ja auch noch die Meniere'sche Krankheit

Letzteres Thema würde mir jede Menge Leser bringen. Das zeigten jedenfalls die Erfahrungen im letzten Herbst. Und ich habe ein starkes Bedürfnis darüber zu schreiben - eine Sprache zu finden, mit der sich dieses Chaos aus Dröhnen, Gurgeln, Schwindeln und gehörmässigem Verschwinden aus der Welt wenigstens ein bisschen ordnen lässt. Ja, ich könnte episch über die Menère'sche Krankheit schreiben. Gelegentlich sogar witzig.

Aber ich verbringe so viel Zeit mit meinem Blog. Will ich wirklich all diese Zeit mit Nachdenken über meine Krankheit verbringen? Dann würde die Krankheit in meinem Leben einen Stellenwert bekommen, den sie nicht hat und nicht haben sollte. Und auch in der Vorstellung meiner Leser. Nein, das kann es nicht sein. 90 Prozent von mir sind gesund und vielseitig interessiert. Und über einen Teil der Dinge, die mich interessieren, kann ich sogar schreiben, ohne mich beruflich zu kompromittieren. Das soll in diesem Blog zum Ausdruck kommen. Er Blog bleibt ein Feld-, Wald-, Wiesen- und Selbsterfahrungsblog.

* Pardon, Acqua: Du kommst in letzter Zeit der Idee eines Konzeptblogs natürlich viel näher...

31
Okt
2010

Sogar der Pfarrer weinte

Wenn von Beerdigungen die Rede ist, fällt mir immer jene von Onkel Jakob ein. Das war nicht nur ein schönes Begräbnis. An jenem Tag passierte sogar ein Wunder. Doch der Reihe nach.

Onkel Jakob starb in einer heissen Juliwoche 2006, kurz vor seinem 70. Geburtstag. Tante Magda bestellte mich für den Nachruf. Deshalb bekam ich die Vorbereitungen live mit.

Onkel Jakob starb auf seinem Bauernhof weit, weit hinten im Kanton. Die - selbstverständlich katholische - Kirche steht dort noch im Dorf, und es gibt dort Dinge zwischen Himmel und Erde, die ein Agglo-Mensch fast nicht begreifen kann.

Zwei Tage vor der Beerdingung stritten die Cousinen und der Cousin. Es ging um das Opfer. Für alle, die mit den Begrifflichkeiten einer katholischen Messe nicht vertraut sind: Kurz vor der Kommunion lässt der Pfarrer jeweils zwei Körbchen unter den Versammelten herumreichen. Jeder legt ein paar Münzen oder auch ein Nötli hinein. Das Geld, das so zusammenkommt, heisst "das Opfer" und wird einem guten Zweck gespendet. An einer Beerdigung dürfen offenbar die Trauernden über die Verwendung bestimmen.

Cousine Claire sagte: "Papi liebte Vögel. Die Spende sollte der Vogelwarte zugute kommen." Cousin Moritz war anderer Meinung. "Wir sollten sie der Kirche geben", sagte er, "Du weisst doch: Die Renovationsschuld ist immer noch nicht abgezahlt." Die beiden anderen Cousinen und Tante Magda waren unentschlossen. Eine Stunde lang ging es zu und her wie in einem Parlament. Dann gab es einen Kompromiss: Die eine Hälfte des Opfers sollte der Vogelwarte zugute kommen. Die andere der Kirche.

Die Beerdigung war an einem schwülen Tag. Bleischwer lag die Luft auf dem Dorf. Nie werde ich den Weinkrampf der hoch schwangeren Cousine Luzia vergessen. Sonst lief alles gut. Auch das Opfer. Der Pfarrer liess die Körbchen herumreichen und verkündete den Verwendungszweck der Spende - wobei er die Idee mit der Vogelwarte Sempach ein bisschen ins Lächerliche zog. Was ich nicht ganz in Ordnung fand. Aber wir waren hier auf dem Land. Ich musste nicht alles verstehen.

Dann war die Messe vorbei. Die Männer trugen den Sarg hinaus. Über dem Tal kündigten graue Wolken ein baldiges Unwetter an. Die Trauergemeinde war gross. Es dauerte eine Weile, bis alle vor dem offenen Grab standen. Dann wurde es still. Ganz still.

Genau in diesem Moment wirbelte ein halbes Dutzend Mauersegler übers Kirchdach auf den Friedhof. Laut jubilierend zogen die Vögel ein paar Kreise über dem Sarg von Onkel Jakob.

Es war phänomenal. Kein Auge blieb trocken. Sogar der Pfarrer weinte.

Dann verschwanden die Vögel wieder, wie sie gekommen waren. Der Pfarrer sagte mit brüchiger Stimme: "Die haben sich jetzt für das Opfer bedankt!"

25
Okt
2010

Noch katholisch

Frau Täuschblume hat mich neulich gefragt, warum ich noch katholisch bin. Hier ist meine Antwort: Wenn die katholische Kirche eine politische Partei wäre, wäre ich schon längst aus ihr ausgetreten. Ich finde die Politik des Papstes reaktionär und menschenfeindlich. Aber die katholische Kirche ist keine politische Partei. Sie ist viel mehr.

Ich kann eigentlich nur mit einer Geschichte erklären, warum ich noch katholisch bin und es wohl auch bleiben werde.

Vor ein paar Jahren war ich mit Herrn T. an der Beerdigung eines jungen Mannes. Der Mann war Dachdecker gewesen, kaum aus der Lehre und bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen. Es war ein erschütternder Abschied. Er war konfessionslos gewesen. Die Beerdigung hielt deshalb ein bärtiger Herr von einem Verein für Konfessionslose ab. Er tat es mit Anstand und Würde. Er zitierte ein bisschen Dostojewski und ein paar so genannte Indianer-Schriften. Oh, nichts gegen Dostojewski! Aber all diese Texte schienen mir so dünn. So austauschbar wie Blätter im Herbstwind. Ich flüsterte Herrn T. zu: "Versprich mir eins: Falls ich vor Dir sterbe, dann sorg bitte dafür, dass an meinem Grab ein anständiges Vaterunser gebetet wird!" Dieses Gebet schien mir in jenem Momant das einzige, was der Endgültigkeit der offenen Grube etwas Ewiges entgegen setzen konnte - oder wenigstens eine sehr, sehr lange Geschichte.

Ich stellte fest: Ich brauche das Christentum. Nicht, weil ich an Gott glaube. Ich glaube nur an manchen Tagen an Gott. Und rein theoretisch könnte ich das auch ohne Kirche. Natürlich würde mich nichts daran hindern, reformiert zu werden oder einer Freikirche beizutreten. Aber warum auch? Die katholische Kirche ist die Geschichte meiner Familie. Ihre Geschichte durchtränkt den Boden, auf den ich täglich meine Füsse stelle. Und als politische Parteien sind alle anderen Kirchen auch nicht besser die von Rom.

Ich bin nicht sicher, dass der Papst auf Katholikinnen wie mich gewartet hat. Ich meine: Mein ganzes erwachsenes Leben ist ein einziger Verstoss gegen die katholische Sexualmoral. Zum Beispiel lebe ich seit zehn Jahren mit einem Mann in so genannter Sünde. Er ist wenigstens Katholik ;) Aber ich gehe besser nicht beichten - ich würde wohl sonst nie mehr aufhören können, Buss-Vaterunsers zu beten. Und überhaupt habe ich nicht das Gefühl, etwas Unrechtes zu tun. Ja. Und manches aus meiner Vergangenheit fühlt sich an wie die Rache für das, was sie meiner Mutter getan haben.

Ob das kein Grund zum Austreten ist? Ich finde nicht. Die Kirche ist für mich ein bisschen wie ein manchmal fieser, aber ziemlich starker älterer Bruder. Man liebt ihn, man hasst ihn, aber man hat ihn und kann es nicht ändern.

Und dann tut die Kirchgemeinde meiner Stadt mit meinen Kirchensteuern Dinge, die ich ziemlich gut finde: in der Gassenarbeit und in der Integration von Ausländern. Und manchmal wettert sie laut und deutlich gegen den Papst.

3
Okt
2010

Drei Monate zu leben II

Um die Diskussion von neulich weiter zu führen: Das würde ich tun, wenn ich noch drei Monate zu leben hätte (immer vorausgesetzt, ich hätte die Kräfte dazu).

1) Ich würde die Beseitigung meiner sterblichen Überreste organisieren.

2) Ich würde meine finanziellen Angelegenheiten regeln und ein Testament machen.

3) Ich würde möglichst viel von meinem Kram weggeben. Das eine oder andere würde ich verschenken (wenn es denn jemand möchte). Den Rest würde ich ins Brockenhaus bringen, wenn möglich sogar schon ein paar Möbel. Ich habe neulich meine Mutter darüber klagen hören, wie anstrengend es war, die Wohnung meiner Grossmutter zu räumen. Ich möchte nicht, dass sich jemand mit meinem Kram allzu viel zumuten muss.

4) Ich würde ein paar alte Freunde treffen und mich von ihnen verabschieden. Keine kitschigen Anlässe. Einfach da und dort ein Treffen, ein Mittagessen, eine Tasse Tee.

5) Ich würde mich hinsetzen und Musik hören.

Bei all den Diskussionen in den letzten Tagen habe ich die Antwort auf eine Frage offen gelassen: Wie stelle ich mir ein gutes, ein richtiges Leben vor? Der schüchterne Versuch einer Antwort nächstes Mal.

1
Okt
2010

Todesangst

Gestern haben wir uns hier mit der Frage beschäftigt: "Wie würde ich leben, wenn ich wüsste, dass ich nur noch drei Monate zu leben habe." Mittlerweile habe ich gemerkt: Wir sitzen beim Nachdenken über diese Frage einem Irrtum auf. Wir glauben, wir wüssten nach so einer Nachricht nullkommaplötzlich, wie wir die Prioritäten setzen müssen. Wir würden über Nacht zu besseren Menschen. So ein Blödsinn!

Stellt Euch vor, Ihr würdet beim Arzt sitzen. Der Arzt würde sein Gesicht so zurechtrücken, dass er die schlimme Nachricht mit genau dem angemessenen Ernst bringen kann. Er würde sagen: "Nun, Frau X, Sie sie haben eine schwere Krankheit. Leider muss ich Ihnen sagen, dass Sie in drei Monaten sterben werden." Würdet Ihr aus der Praxis rennen und jubeln: "Juhuu! Endlich richtig leben!"?! Mitnichten! Jeder wäre ob einer solchen Nachricht schockiert, entsetzt, verstört. Jeden würde die Todesangst packen. Vielleicht käme sie als Angst vor den Schmerzen daher. Vielleicht als Furcht vor dem ungewissen Danach. Vielleicht auch als ätzende Beschämung darüber, dass man als Erster seines Matura-Jahrgangs ins Grass beissen muss. Das findet Ihr jetzt vielleicht blöd. Aber solche Gefühle sind in ihrer Wucht nicht zu unterschätzen.

Ich weiss ganz sicher: Die Furcht vor dem Tod lernen wir alle erst kennen, wenn er uns ins Gesicht grinst. Wer etwas anderes glaubt, glaubt - pardon - esoterischen Schwachsinn.

Ich weiss es, weil ich vor bald einem Jahr eines Morgens erwachte und meinen Liebsten nicht mehr verstand. Er redete nicht, er quakte dumpf. Mein Gehör hatte mich über Nacht so gut wie verlassen. Vorher hatte ich mit der Angst vor dem Ertauben nur kokettiert. In jenem Moment lernte ich sie richtig kennen. Sie brauchte alles von mir. Ich konnte nicht mehr lesen, nicht einmal mehr fernsehen. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass Ängste so viel Kraft brauchen können. Und wenn die Angst vor dem Ertauben schon so schlimm ist: Wie schlimm ist dann die Angst vor dem Tod?

Ich brauchte ziemlich genau anderthalb Monate, bis ich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Danach folgte mindestens ein halbes Jahr der Ungewissheiten. Ich brauchte viel Zeit, um die Prioritäten neu zu setzen. Und ich wurde kein besserer Mensch, im Gegenteil. Ich lernte, wie wichtig es mir ist, genügend Geld zu haben. Ich bin heute weniger kreativ und konsumiere mehr. Ich wurde dämlich, aber froh.

Und morgen oder übermorgen erzähle ich Euch dann, was ich wirklich tun würde, wenn ich nur noch drei Monate zu leben hätte.

24
Sep
2010

Von wegen neue Männer!

Der "Tagesanzeiger" machte dieser Tage ein ziemliches Wesen um so genannte neue Opas.

Zitat: "Gemäss Bundesamt für Statistik betreuen rund 12 Prozent der Männer zwischen 65 und 74 Jahren verwandte Kinder. Das ist ... ein erstaunlich hoher Anteil, bedenkt man, dass sich noch vor 50 Jahren kein Vater, geschweige denn Grossvater, mit Kleinkind im Arm oder Babywagen sehen lassen wollte."

Also, sorry, aber da muss ich doch ein bisschen lachen! Ich meine: Vor 45 Jahren - also fast vor 50 - war ich ein Baby. Und ich kann stolz vermelden, dass mein Vater sich mit mir im Babywagen nicht nur öffentlich zeigte. Er liess sich sogar damit fotografieren! Auf offener Strasse! Das Beweisstück kann ich jederzeit vorlegen.

Und was Grossväter betrifft: Also, da könnte manch ein so genannter neuer Opa eine Scheibe von meinem Grossvater Eugen Walholz abschneiden. Mein Bruder und ich liebten ihn. Wenn wir sonntags bei meinen Grosseltern waren, machte er den Clown für uns. Er konnte mit den Ohren wackeln. Er kannte allerlei Spielchen mit Fingern und Nasen und Sprüchlein. Er spielte ein bisschen Akkordeon.

Werktags durften wir in seine Backstube. Er brachte uns bei, wie man Nussgipfel dreht. Zeigte uns die Kakerlaken* in der Backgrube. Liess uns von der Mandelmasse schnausen. Passte auf, dass wir uns die Finger nicht in der Knetmaschine einklemmten. Nahm uns mit, wenn er im Auto Brot ausfuhr. Und wenn wir erkältet waren, holte er zuoberst vom Gestell eine grosse Blechbüchse. Er machte sie auf und hielt sie uns vors Gesicht. "So, jetzt nimm eine Nase voll!" sagte er. Er lachte sich einen Schranz in den Bauch, wenn wir dann eine Nase voll Treibsalz** herauszogen und nach Luft japsten. Ja, er konnte auch ein bisschen fies sein.

Vielleicht lag sein Geheimnis gerade darin, dass er selber ein kindliches Gemüt hatte. Ein idealer Ehemann und Vater war er jedenfalls nicht. "Zum Glück hast Du ihn geheiratet. Du bist doch so tüchtig", soll seine eigene Schwester einmal zu meiner Grossmutter gesagt haben. "Sie hielt ihn für ein bisschen debil", sagte meine Grossmutter.

Als Ernährer war er tatsächlich keine grosse Nummer. Seine Familie brachte er schlecht und recht als Bäckereigehilfe durch. Erst als er die Bäckerei selber pachten konnte und die Grossmutter einstieg, begann der Laden zu laufen. Aber sie hätte keinen anderen gewollt, sagte meine Grossmutter immer. Noch nach Jahrzehnten Ehe sei er ein zärtlicher Liebhaber gewesen.

Manchmal frage ich mich, ob der so genannte traditionelle Mann, dieser Super-Ernährer und emotionale Holzklotz, erst eine Generation nach meinen Grosseltern erfunden worden ist. Oder ob mein Grossvater einfach ein Freak war und ausgerechnet mein Bruder und ich das Glück hatten, ihn zum Grossvater zu bekommen.

Das hier hätte ihm gefallen:



* Bäckereien sind heutzutage wahrscheinlich hygienischer als anno dazumal
** Lebkuchengewürz, riecht stark nach Ammoniak und verschlägt einem den Atem, wenn man eine ganze Nase davon vollbekomt
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