2
Mrz
2010

Grossvater verlobt sich

Er hatte nichts. Nichts als die Gier, mehr vom Leben zu bekommen als die armselige Chrampferei als Knecht. Nichts als die Gewissheit: Er taugte mehr als manch ein anderer. Er war eines von neun Kindern. Geboren 1901, auf einem Bauernhof tief hinten in einem der vielen Täler am Nordhang des Berges. Den Hof bekam sein ältester Bruder. Er bekam Arbeit als Knecht für einen Franken im Tag auf einem Hof im Tal nebenan.

Er war schon 27, als ihm endlich das Glück lachte. Von seinem Arbeitsort aus sah er die Winterweid, einen stattlichen Bauernhof. Der Bauer hatte zwei Töchter. Er lernte die Ältere kennen. Er schrieb ihr Briefe.

Sie war ein schönes Mädchen. 21, herb und herzig zugleich. Meinen Cousinen vererbte sie eine Augenpartie mit einem Zug ins Slawische.

War sie in meinen Grossvater verliebt? Romantisch, gedankenlos, ein kleines Mädchen? Oder schaute sie genau hin? Dachte sie darüber nach, ob er das Zeug hatte, die Winterweid zu führen? Redete sie abends in der Stube mit ihrem Vater über die Zukunft des Hofs? Über die Mitgift für ihre jüngere Schwester?

Ich werde es nie wissen. Sie starb am Tag meiner Geburt, nur 58 Jahre alt.

Eines Morgens im eisigen Winter 1929 zog er los, um mit ihr die Ringe zu tauschen. Wenn ich daran denke ist mir, als sässe mir das Glück und die Kälte jenes Morgens in den Knochen.

Ob er ahnte, wie hart es werden würde?

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walküre - 3. Mär, 11:44

Bei der Lektüre Ihrer Zeilen ist mir jetzt was ganz seltsames passiert:
Ich musste an "Die schwarze Spinne" von Gotthelf denken, und daran, dass Ihr Großvater jener Mann sein könnte, der die Geschichte erzählt.

diefrogg - 3. Mär, 17:55

Oh, das ehrt mich!

Die Assoziation ist übrigens überhaupt nicht abwegig. Luftlinie liegen zwischen Lützelflüh, dem Wirkungsort von Pfarrer Gotthelf, und dem Dorf meines Grossvaters nicht viel mehr als zwanzig Kilometer. Beide Gemeinden liegen in derselben zauberhaften, aber schwer zu bewirtschaftenden Voralpenlandschaft. Nur: Bei Gotthelf regiert die geistige Ruhe der Reformation. Bei meinen Grosseltern Weihwasser und Höllenfeuer des Katholizismus.

Ausserdem besass mein Grossvater mitnichten die moralische Abgeklärtheit des Gotthelf'schen Erzählers. Als ich ihn als Kind kennen lernte, war er ein gebrochener Mann; gescheitert im Leben, entstellt durch die Folgen eines Schlaganfalls und immer noch ziemlich autoritär. Er roch nach Stall (für uns Stadtkinder nicht so einladend) und sprach einen nasalen Dialekt, den wir kaum verstanden und auch üüüüberhaupt nicht wohlklingend fanden.

Ich kannte ihn kaum. Aber mein Vater hat mir in letzter Zeit viel von ihm erzählt. Und je mehr ich über ihn nachdenke, desto mehr merke ich: Blut ist ein verdammt dicker Saft. Und es hat ein Gedächtnis, das weiter zurückreicht als jenes in unserem Hirn.
Aurisa - 3. Mär, 18:03

Ich denke es ist eine Gnade, daß wir nie wissen wie schwer es werden kann im Leben...

Hätte ich früher gewusst, was da so alles auf mich zukommt...

Viele Grüße
Klaudia

diefrogg - 3. Mär, 18:07

Danke für die Grüsse,

Klaudia. Und: Du hast vollkommen Recht.
chamäleon123 - 4. Mär, 11:14

Bitte: Buch schreiben.

katiza - 4. Mär, 14:54

Schließe mich vollinhaltlich an, bitte Frau Frogg!
diefrogg - 4. Mär, 18:29

Huh, mich schauderts...

bei dem Gedanken unter der Kopfhaut! Ich glaube, ich backe erst mal kleine Brötchen und schreibe die Biografie meines Vaters fertig. Die habe ich ihm zu 70. Geburtstag versprochen, und der ist mittlerweile ein halbes Jahr her!
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