an der tagblattstrasse

12
Feb
2014

Schwarzer Mittwoch

Hier alles über den Tag, an dem die Schweiz zusammenbrach. Köstlich! Tipp: Unbedingt bis 15.15 Uhr durchlesen! 15.15 Uhr passiert das Beglückendste, was ich seit dem letzten Sonntag in den letzten 22 Jahren gesehen habe.

11
Feb
2014

Die spinnen, die Schweizer

Mättu sagte schüchtern: "Ich wollte ja auch schon 'Ja' auf den Stimmzettel schreiben." Ja, klar, es ging um die Initiative "Gegen Masseneinwanderung". Zurzeit redet hier niemand über etwas anderes.

Da blieb sogar mir schier mein Bissen Salat im Hals stecken. Denn Mättu ist überhaupt nicht so, wie wir uns den hinterwäldlerischen Ja-Sager zu dieser Initiative gerne vorstellen. Mättu war mal Grundschullehrer, ist heute unteres Kader in einer Online-Firma, Mitte 40. Er hat zwei Söhne, ausgezeichnete Manieren und einen pfiffigen Humor, wohnt in einer mittelgrossen Schweizer Stadt. Ehefrau bei einem internationalen Unternehmen tätig. Kein Nationalist, soweit ich weiss - auch wenn bei unseren Mittagstreffen Politik sonst tabu ist.

Dann kam die Begründung: "Es stört mich, wie hier alles zugebaut wird." Er machte eine ausladende Geste in Richtung Fenster. "Aber dann schaute ich nochmals ins Abstimmungsbüchlein und sah: Da geht es nicht um die Zersiedelung. Sondern um wichtige Verträge mit der EU." Da habe er aus dem "J", das er schon hingeschrieben hatte, ein "N" gemacht. "Da stand gewissermassen 'Njein'! Und dann musste ich meine Buben ins Hockey chauffieren und war erkältet und dann... habe ich einfach vergessen, den Stimmzettel einzuwerfen."

Nun, ich will das Ja vom letzten Sonntag zu einer zutiefst fremdenfeindlichen Volksinitiative nicht schönreden. Die rechtsnationalistische Lager hat bei uns gegen 30 Prozent Wähler. Das ist verdammt viel. Aber mit denen allein gewinnt man noch keine Volksabstimmung. Da waren Argumente im Spiel, bei denen es nicht nur um Ausländer ging.

Ich habe Kontakte mit gegen 200 Personen gehabt, die vor den Abstimmungen ihre Meinung äusserten. Das war alles nicht repräsentativ, aber ich kann doch sagen: Ja-Sager gab es bis erschreckend weit in die politische Mitte. Und durchaus nicht nur auf dem Land. Häufig waren es Rentner. Es kamen immer wieder Argumente wie:

- Es wird in diesem Land einfach zu viel gebaut.
- Wenn wir jedes Jahr 80000 Leute mehr sind, dann kollabiert hier irgendwann alles.
- Dieser Wachstumswahn wird unsere Lebensgrundlage vernichten.
- Wir finden in der Innenstadt keine bezahlbare Wohnung mehr.

Offenbar waren nicht alle so klug wie Mättu und haben noch einen Blick ins Abstimmungsbüchlein geworden.

Sonst sähe die Lage heute anders aus.

Zu sagen ist auch noch: Wir Schweizer haben uns selber viel zu lange Sand darüber in die Augen gestreut, wie eng unsere Verflechtungen mit der EU mittlerweile sind. Die Währungskrise hat die Popularität der EU unter den Gefrierpunkt sinken lassen. Das Thema EU-Beitritt war lange tabuestens. Und all diese Verträge und Verträglein? Da schaut man besser nicht zu genau hin! Das holt nur die Nationalisten aus dem Busch!

Nun wird sich zeigen, wer den Preis für dieses Debakel bezahlt. Ich bin wütend und würde gern die Hinterwäldler, die Nationalisten, die Rentner bestraft sehen. Aber jetzt sind erst mal die Studenten dran - unsere jungen Kaderleute von morgen.

Zum Kotzen! Immer noch!

9
Feb
2014

Masseneinwanderung

Heute bin ich einfach nur frustriert darüber, dass meine düsteren Prognosen eingetroffen sind. Es ist zum Kotzen.

30
Jan
2014

Masseneinwanderung

In einer Woche stimmt die Schweiz über die Initiative "Gegen Masseneinwanderung" ab. Wer noch nicht weiss, was sie verlangt, kann hier nachlesen. Hier die Kurzversion: Sie will die Zuwanderung begrenzen.

Eins vorweg: Ich bin eine vehemente Gegnerin dieser Vorlage. Aber mit dieser Überzeugung stehe ich wohl auf verlorenem Posten. Ich glaube: Unsere Region wird der Initiative wuchtig zustimmen. Ich bekomme bei der Arbeit täglich und sehr direkt mit, wie die Leute in den Kantonen Luzern, Ob- und Nidwalden, Uri und Schwyz ticken. Ok, das ist eine konservative Region. Aber die neuesten gesamtschweizerischen Umfragewerte haben meine bange Ahnung bestätigt: Die Initiative könnte durchkommen.

Es ist nämlich so: Plötzlich kennt hier jeder jemanden, der seine Stelle an eine billige Arbeitskraft aus der EU verloren hat. Jeder weiss auf einmal, dass der Patron im nahen KMU lieber Deutsche anstellt als seine eigenen Söhne und Töchter. Plötzlich fällt manch einem ein, dass er seit 2007 keine Lohnerhöhung gesehen hat. Hallo?! Was ist denn nun mit dem Wohlstand passiert, den die Personenfreizügigkeit angeblich gebracht haben soll? Einem ist die Wohnung schon zum zweiten Mal von rumänischen Diebesbanden leergeräumt worden - jetzt stimmt er Ja und hofft darauf, dass es wieder Grenzwächter gibt. Einer ist traurig, weil die schöne Wiese am Oberhubel zugebaut wird - nicht von Ausländern, sondern von Schweizern, die vom Eigenheim träumen. Aber das muss man ja nicht so genau nehmen. Der andere ärgert sich, weil in einem vollgestopften Zug ein paar Migranten laut reden. Wieder einer regt sich darüber auf, dass reiche Ausländer in der Schweiz fette Villen an schönster Seelage haben - und er findet kaum noch eine Dreizimmerwohnung unter 2000 Franken. Und überhaupt: die Masslosigkeit! Die Dekadenz!

Und was tun die Initiativgegner von der Partei der Arbeit bis zu den Freisinnigen? Sie behaupten, sie würden die Ängste der Bevölkerung ernst nehmen. Aber von einem griffigen Kündigungsschutz für gestandene Mitarbeiter redet kein Mensch. Auch die Arbeitgeber sind gegen die Vorlage. Aber keiner von denen erklärt den Leuten, dass nicht die Ausländer schuld sind an stagnierenden Löhnen - sondern die Weltwirtschaftskrise. Ein neues Raumplanungsgesetz haben wir zwar letztes Jahr angenommen. Aber niemand sagt uns, warum dieses neue Gesetz die Gräslein und Käferlein am Oberhubel nicht schützt. Und dem letzten müsste mal jemand erklären, dass die laut redenden Jugendlichen im Zug seine AHV zahlen.

Es ist und bleibt ja so: Ich würde am liebsten den Fernseher aus dem Fenster schmeissen, wenn ich den Blocher darin sehe. Aber ich muss gestehen: Der Alte hat diesmal mehr Farbe als der ganze blässliche Bundesrat und die ganzen quäkenden Parteichefs zusammen. Denen fällt nichts anderes ein, als mit der Rache der EU zu drohen.

Trotzdem: Wer einen Schweizer Pass hat und noch nicht abgestimmt hat, sollte es jetzt schnellstens tun. Denn, oh ja, eine Annahme wird das Wachstum stoppen - nämlich so, dass die sozial Schwachen noch schwächer werden. Insbesondere die Bezüger von Alters- und Invalidenrenten und anderen Sozialleistungen. Und nicht vergessen: Es muss NEIN auf dem Stimmzettel stehen!

8
Jan
2014

Kleine Mädchen und die Ökonomie

Lego ist wieder da! Und wie! Zu Weihnachten bekam mein Gottenbub Tim (8) zwei Bausätze des Spielzeugriesen für eine Eisenbahn. Und meine Nichte Carina (8) steht ja so auf Lego Friends!



Für alle Nichtkenner: Lego Friends ist eine Linie für kleine Mädchen. Sind die Teile einmal zusammengesetzt, bedienen sie die allerpeinlichsten Girlie-Klischees. Pink dominiert. Es gibt fünf Freundinnen - und natürlich Pferde. Und man kann beim Spielen ohne Ende Frisuren, Accessoires und Schminkzeug herumschieben.

Carina besitzt schon vier oder fünf Friends-Bausätze. Lego muss boomen.

Wir spielten ein bisschen. Doch nach fünf Minuten hatte ich genug Frisuren umplatziert. Ich sehnte mich nach den guten, alten Lego, mit denen schon mein Bruder und ich gespielt hatten. Damals gab es multifunktionale Bausteine, mit denen sogar ich gerne Häuschen mauerte. Zum Spielen brauchte es dann einfach Phantasie. Mit diesem alten Steinen haben auch Carina und ich schon köstliche Stunden verbracht.

Aber eben. Heute macht man nicht mehr genügend Rendite mit Spielsachen, die zwei Generationen lang halten.

Wohl gerade der Zeitlosigkeit ihrer Produkte wegen kriselte Lego vor einer Weile. Ich erinnere mich noch gut an die langen Gesichter in unserer Region, als das Unternehmen 2005 seine Fabriken in Willisau und Steinhausen schloss. Sogar das Schweizer Fernsehen berichtete darüber. Das dänische Unternehmen verlegte ganze Produktionsketten nach Tschechien.

Und man kam weg von der Multifunktionalität. Damit Brüderlein und Schwesterlein derselben Generation gleich zweimal Lego brauchen, fabriziert man Mädchen-Spielzeug und Buben-Spielzeug. Pink für Mädchen. Eisenbahnen für Buben. Jetzt schreibt die Firma Rekordgewinne.

Ich finde es zwar gut, dass die Lego-Arbeiter in Tschechien Arbeit haben. Und doch jagt mir diese rosarote Wolke im Mädchenzimmer den kalten Schauer über den Rücken. Da werden Mädchen - und Buben - stereotype Rollenbilder geradezu aufgedrängt. Res Strehle, Ökonom und heute Chefredaktor des Tages-Anzeigers, hat solche Entwicklungen schon 1994 in diesem Buch* prognostiziert:

Im Kapitel "Das schlanke Patriarchat - Neuauflage des Sexismus" steht:"Der 'Sieg' der Marktwirtschaft und ihr Vordringen in neue Bereiche haben dazu geführt, dass den Frauen zugeschriebene Eigenschaften mit neuer Konsequenz vermerktet werden. 'Frauenspezifisches Marketing' heisst das Schlagwort, ... dazu gehört das handliche Kleinauto ('Panda') genauso wie das Light-Bier in der gestylten Flasche. Frau selber wird via Markt mit ihren angeblich frauenspezifischen Eigenschaften radikal in Wert gesetzt ..." (Seite 73 -4).

Soweit so gut. Nur: Wird das unseren geliebten, kleinen Mädchen dereinst im Erwachsenenleben schaden? Ja und nein, sagt Strehle. Frauen könnten innerhalb dieser Rollenklischees durchaus in Top-Positionen aufsteigen: "... als für die emotionale Stabilisierung des Personals zuständige Personalchefin, als für das Wohlbefinden der Medien verantwortliche Pressechefin" (S. 74).

Diese Vision finde ich jetzt nicht ganz so negativ wie Herr Strehle. Wichtig ist ja, dass Frauen die Option haben, in der Arbeitswelt gutes Geld zu verdienen - und durch ihre Arbeit auch neue Rollenbilder zu schaffen.

Und doch. Buben Eisenbahnen, Mädchen pink? Kann so reale Gleichheit entstehen?

*Res Strehle: "Wenn die Netze reissen - Marktwirtschaft auf freier Wildbahn" ; Zürich : Rotpunktverlag 1994 (und ein Dankeschön an den Kulturflaneur, der mich an das Buch erinnert hat)

1
Mai
2013

Schlimmes Hagelwetter

Eben ist ein heftiger Hagelschauer über der Stadt Luzern niedergegangen.


(heute, ca. 18 Uhr auf unserem Balkon)

Die Körner sind baumnussgross und prasselten auf unsere Dachfenster wie Steine. Ich bekam panische Angst um unsere Fensterscheiben.

Noch heute Morgen habe ich japanische Kirschblüten und Magnolienbäume in ihrer weissen Pracht bewundert. Zum Glück! Wahrscheinlich war das eben ihr Ende.

Himmelherrgottnochmal!!! Wird das Wetter eigentlich nie mehr normal?!

8
Apr
2013

War sie eine Verbrecherin?

Merkwürdige kleine Ironie des Alltags. Noch gestern haben mein Kumpel English und ich über Margaret Thatcher gesprochen. "Viele Leute sagen ja, sie sei kriminell gewesen", sagte English nachdenklich. Und heute geht die Meldung um die Welt, dass sie tot ist.



Dieses Poster hing 1986 in der Londoner WG von English. So sahen in den achtziger Jahren viele Briten Thatcher: als erbarmungslose kalte Kriegerin, als blindwütige Verbündete des neoliberalen US-Präsidenten Ronald Reagan (hier ein kritischer Nachruf).

Trotz des unzweideutigen Posters kursierten später Gerüchte in unserem Freundeskreis, English habe Thatcher für ihre erste Amtszeit gewählt. Er hat das gestern auch nicht dementiert - wir diskutierten vielmehr darüber, warum sie überhaupt gewählt wurde. Ich erzählte von diesem Buch, das ich eben fertiggelesen habe - mein Favorit dieses Bücherfrühlings, by the way, kommt sicher bald auch auf Deutsch.

Ian MacEwan skizziert darin eine Zeit, an die sich heute in Grossbritannien kaum jemand erinnern will: die späten sechziger und die frühen siebziger Jahre. Ok, die Leser dieses Blogs kennen die Periode aus unzähligen YouTube-Musikvideos. In den Filmchen aus jener Zeit wirkt ja vieles so unaufgeregt und heiter.

Aber vor den Konzerthallen war die Lage düster. Teile von London sahen aus wie der Prenzlauer Berg kurz nach der Wende. Landauf-landab löste ein Streik den anderen ab, und dann kam auch noch die Ölkrise. Als die dazu noch die Männer in den Kohlegruben streikten, tippten die Sekretärinnen in London mit Handschuhen und Zipfelmützen. Dazu der Kalte Krieg. Das einstige Empire torkelte dem Staatsbankrott entgegen.

Gut, Autor MacEwan ist gewiss kein Linker, das wird bei der Lektüre des Buches gleich auf mehrere Arten klar. Dennoch - die Leserin bekommt Verständnis dafür, dass die Briten die Eiserne Lady wählten. Sie versprach Ordnung bei den Finanzen und eine harte Hand gegenüber Streikenden.

Aber Zweifel sind erlaubt, ob sie ihr Land auf den richtigen Weg geführt hat.

5
Apr
2013

Paranoia vom Kiffen

Als ich zum vierten Mal kiffte, schrieben wir das Jahr 1982. Alles begann wie im Bilderbuch. Wir inhalierten unseren Joint auf dem Dietschiberg bei grandiosem Blick auf die Lichter der Stadt.


(www.fotocommunity.de)

Danach fuhren wir hinunter ins Downtown – die Bar war damals der Austragungsort für einen nachmitternächtlichen Exzess. Und da passierte es: Ich bekam einen leichten Anfall von Verfolgungswahn.

Warum ich das jetzt erzähle? Zurzeit wird in der Schweiz heftig über die Auswirkungen des Cannabiskonsums diskutiert - zum Beispiel hier. Da sehe ich mich gedrängt, mein halbes Gramm Lebensweisheit zum Thema beizusteuern.

Wir standen mit unseren Bieren in der Bar. Jemand schaute auf meinen chicen, kurzen Rock, und plötzlich wusste ich, was er dachte. Sie ist eine Hure, dachte er. Alle im Lokal dachten das. Oder sie dachten, ich sei strohdumm und hässlich. Ich wusste, dass das wahrscheinlich Unsinn war - und doch fühlte es sich an, als würden sie das denken. Es war unheimlich.

Als es nicht mehr aufhörte, begriff ich: Ich hatte gerade eine winzig kleine, noch etwas unschlüssige Paranoia. Ich hatte schon Leute mit einer ausgewachsenen, wütenden Paranoia gesehen. Ich wusste, dass das nichts für mich war. Es ist für niemanden etwas.

Ich gehe nach Hause und warte, bis es vorbei ist, dachte ich.

„Kein Problem, wir fahren Dich!“ sagten einer der Kumpel und stellte sein Bier hin. Aber mir war eingefallen, dass ich mein Fahrrad beim Rathaussteg abgestellt hatte. Die frische Luft würde die Ausnüchterung beschleunigen. Ich fuhr allein nach Hause. Es ging vorbei.

Seither habe ich nie mehr gekifft. Ich habe auch - soweit ich weiss - nie mehr psychische Probleme dieser Art gehabt. Wenn mir nach einem hübschen Rausch ist, trinke ich einen Schnaps oder ein paar Gläschen Wein.

Von meiner generellen politischen Orientierung her müsste ich eigentlich für eine Cannabis-Legalisierung sein. Schliesslich wird nicht jeder vom Kiffen psychisch krank. Und doch. Eine solche Erfahrung verändert das Bewusststein. Heute denke ich: Es merkt nicht jeder, wenn er dabei ist, psychisch krank zu werden. Denn bei uns sind psychische Krankheiten ein so grosses Tabu, dass eigentlich nur Experten und irgendwie Betroffene die Alarmsignale erkennen. Bevor sich das ändert, sollte Kiffen illegal sein. Das erhöht die Hemmschwelle für den Einstieg. Es sollte sich ändern.

13
Mrz
2013

Prominenter Behinderter

Kaspar Hauser ist der prominenteste Behinderte der europäischen Geistesgeschichte. 1828 taucht er in Nürnberg auf. Niemand kennt den Jugendlichen, der sich kaum bewegen und kaum sprechen kann. Heute gilt als sicher: Er ist so geworden, weil man ihn als Kind schwer vernachlässigt hat. Die Psychologie benennt denn auch eine schwere Form des Hospitalismus nach ihm. Doch nicht deshalb hat er Generationen fasziniert. Sondern, weil seine Herkunft und sein Tod immer rätselhaft geblieben sind. Und vor allem: Weil Dokumente zeigen, dass er nach einiger Förderung beträchtliche Unangepasstheit im Denken und grosses lyrisches Talent entwickelte. Seine Geschichte wirft Fragen auf: Was macht einen Menschen aus? Was bedeutet Zivilsation? Welche Rolle sollen Menschen haben, die nicht hineinpassen?

Das Schauspielhaus Zürich führt zurzeit seine Geschichte auf. Hauser ist darin für seine Umwelt in mehreren Hinsichten eine Nummer zu gross. Damit man das auch sieht, bedient das Theater sich eines genialen Regie-Einfalls: Die Finder und Weggefährten von Kaspar werden von Kindern gespielt - die wiederum von schwarz verhüllten Gestalten wie Puppen geführt werden. Das sieht so aus.


(Unter dem Tisch Jirka Zetts als Kaspar Hauser).

Klingt kompliziert und sieht auf dem Bild auch so aus. Auf der Bühne aber wirkt es absolut stimmig. Man kann stundenlang zusehen.

Die Geschichte spielt sich dazu noch in einer Biedermeier-Stube ab, die von der Grösse her zu den Kindern passt. Kaspar muss lernen, sich zu verbiegen. Sonst kommt er gar nicht erst zur Tür herein. Nie habe ich die Beschränktheit eines durchaus intellektuellen Milieus vielschichtiger vorgespielt bekommen. Denn man sollte die Macht dieser Figürchen nicht unterschätzen. Hinter jedem steht ja eine dunkle Gestalt, die ihn führt. Der Schatten der Zivilisation? Das Über-Ich? Wer weiss.

In dieser Welt wird Kaspar zum Versuchskaninchen und zum Spektakel. Man verhätschelt ihn, dressiert ihn und erschrickt über die Wucht seiner Aussagen. Er lernt viel - auch, sich zu ängstigen. Und ganz nebenbei spielt sich an ihm ein Wohlfahrtsdrama ab. Erst macht Hauser Schlagzeilen, und der Bürgermeister spricht ihm begeistert eine Rente. Als das Interesse an Hauser nachlässt, will er sie wieder streichen. Hauser soll nun plötzlich für seinen Lebensunterhalt aufkommen - obwohl ihn darauf niemand vorbereitet hat. Keine Verlässlichkeit in der Sozialpolitik, schon damals nicht.

Klar, dass Kaspar an all dem zerbricht. Wie das passiert, zeigt das Stück zu wenig folgerichtig - eine Schwäche der episodenhaften Inszenierung. Dennoch: Wer über die Rolle von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft einmal jenseits vom finanzpolitischen Dauergetöse nachdenken möchte, sollte sie sich unbedingt ansehen.

27
Feb
2013

Entsetzen in der Holzfabrik

Heute Morgen ist in einer Holzfabrik in der Nähe von Luzern ein Mann Amok gelaufen (Hier mehr). Als ich die Nachricht sah, musste ich zuersst an den scheusslischsten Alptraum meiner Kindheit denken.

Die Holzfabrik in Menznau spielte darin die Hauptrolle. Wir fuhren auf dem Weg zu Verwandten oft mit dem Auto dort vorbei. Es war ein riesiges, düsteres Haus weit draussen auf dem Land. Manchmal steig dicker Rauch aus dem Kamin. Über die Strasse führte eine Eisenbahnschiene. Mit einer Metallschranke konnte man die Strasse sperren, wenn ein Zug kam.

In meinem Alptraum war es Nacht, und die Strasse war gesperrt. Und Papa donnerte mit dem Auto ungebremst auf alles zu. Ich erwachte voller Entsetzen und habe dieses Bild nie vergessen: die schwach erleuchtete Fabrik, die Schranke, die Schienen. Noch als Erwachsene hatte ich ein ungutes Gefühl, wenn ich dort vorbeifuhr.

Obwohl die Fabrik heute viel freundlicher aussieht. Eine Fabrik eben, mit viel hellem Metall gebaut. Einmal fuhr ich mit einem gut gelaunten Wirtschaftsredaktor durch die Gegend. Er zeigte auf jedes grosse Gewerbegebäude und erzählte ein bisschen über die Firma darin. "Da drüben ist die Kronospan", sagte er. Für die Gegend ein bedeutender Arbeitgeber.

Das, was heute dort passiert ist, übersteigt mein Fassungsvermögen für Entsetzen bei weitem.
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diefrogg - 11. Jan, 15:20
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diefrogg - 9. Jan, 18:14
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ein bisschen versuch ich es ja, mir alles widrige mit...
la-mamma - 5. Jan, 14:04

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