11
Feb
2014

Die spinnen, die Schweizer

Mättu sagte schüchtern: "Ich wollte ja auch schon 'Ja' auf den Stimmzettel schreiben." Ja, klar, es ging um die Initiative "Gegen Masseneinwanderung". Zurzeit redet hier niemand über etwas anderes.

Da blieb sogar mir schier mein Bissen Salat im Hals stecken. Denn Mättu ist überhaupt nicht so, wie wir uns den hinterwäldlerischen Ja-Sager zu dieser Initiative gerne vorstellen. Mättu war mal Grundschullehrer, ist heute unteres Kader in einer Online-Firma, Mitte 40. Er hat zwei Söhne, ausgezeichnete Manieren und einen pfiffigen Humor, wohnt in einer mittelgrossen Schweizer Stadt. Ehefrau bei einem internationalen Unternehmen tätig. Kein Nationalist, soweit ich weiss - auch wenn bei unseren Mittagstreffen Politik sonst tabu ist.

Dann kam die Begründung: "Es stört mich, wie hier alles zugebaut wird." Er machte eine ausladende Geste in Richtung Fenster. "Aber dann schaute ich nochmals ins Abstimmungsbüchlein und sah: Da geht es nicht um die Zersiedelung. Sondern um wichtige Verträge mit der EU." Da habe er aus dem "J", das er schon hingeschrieben hatte, ein "N" gemacht. "Da stand gewissermassen 'Njein'! Und dann musste ich meine Buben ins Hockey chauffieren und war erkältet und dann... habe ich einfach vergessen, den Stimmzettel einzuwerfen."

Nun, ich will das Ja vom letzten Sonntag zu einer zutiefst fremdenfeindlichen Volksinitiative nicht schönreden. Die rechtsnationalistische Lager hat bei uns gegen 30 Prozent Wähler. Das ist verdammt viel. Aber mit denen allein gewinnt man noch keine Volksabstimmung. Da waren Argumente im Spiel, bei denen es nicht nur um Ausländer ging.

Ich habe Kontakte mit gegen 200 Personen gehabt, die vor den Abstimmungen ihre Meinung äusserten. Das war alles nicht repräsentativ, aber ich kann doch sagen: Ja-Sager gab es bis erschreckend weit in die politische Mitte. Und durchaus nicht nur auf dem Land. Häufig waren es Rentner. Es kamen immer wieder Argumente wie:

- Es wird in diesem Land einfach zu viel gebaut.
- Wenn wir jedes Jahr 80000 Leute mehr sind, dann kollabiert hier irgendwann alles.
- Dieser Wachstumswahn wird unsere Lebensgrundlage vernichten.
- Wir finden in der Innenstadt keine bezahlbare Wohnung mehr.

Offenbar waren nicht alle so klug wie Mättu und haben noch einen Blick ins Abstimmungsbüchlein geworden.

Sonst sähe die Lage heute anders aus.

Zu sagen ist auch noch: Wir Schweizer haben uns selber viel zu lange Sand darüber in die Augen gestreut, wie eng unsere Verflechtungen mit der EU mittlerweile sind. Die Währungskrise hat die Popularität der EU unter den Gefrierpunkt sinken lassen. Das Thema EU-Beitritt war lange tabuestens. Und all diese Verträge und Verträglein? Da schaut man besser nicht zu genau hin! Das holt nur die Nationalisten aus dem Busch!

Nun wird sich zeigen, wer den Preis für dieses Debakel bezahlt. Ich bin wütend und würde gern die Hinterwäldler, die Nationalisten, die Rentner bestraft sehen. Aber jetzt sind erst mal die Studenten dran - unsere jungen Kaderleute von morgen.

Zum Kotzen! Immer noch!

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Teufels Advokatin - 11. Feb, 21:43

Man sollte aber...

nicht vergessen: Die Zersiedelungs-Argumente kommen ebenfalls aus der rechtsnationalen Ecke. Blochers Postille in alle Haushalte soll sich gelesen haben, als wäre es von Grünen gemacht (habs selber sofort retourniert. Aber vielleicht habe ich einen Fehler gemacht und hätte etwas davon lernen können). Eins zeigt sich daran jedenfalls: Man kann das Stimmvolk eben doch kaufen.

diefrogg - 12. Feb, 19:51

Ich habs auch nicht...

gelesen. Solche Lektüre bereitet mir spürbare körperliche Beschwerden.

Aber wenn sich die SVP grün zu gebärden beginnt, dann ist das die reinen Heuchelei! Gegen den Atomausstieg. Gegen das neue Raumplanungsgesetz! Gegen die Marken auf den Kehrichtsäcken!

Wie so viele Leute auf diese Art von Propaganda reinfallen konnten, ist mir ein Rätsel. Jedoch würde es schlüsslig erklären, warum viele Leute diese Vorlage gewissermassen als Anti-Wachstums- und Öko-Vorlage verstanden haben.
arboretum - 12. Feb, 11:17

45 Prozent der stimmberechtigten Schweizer haben dabei gar nicht abgestimmt, nicht wahr?

Dass es die Schweizer Studierenden und das Erasmus-Programm als erste treffen könnte, war in einem der Artikel im Tagesspiegel, die ich gestern verlinkte, auch schon zu lesen.

Nachtrag: Über die Idee eines Warnstreiks denken laut Tagesanzeiger einige Expats schon nach. Man lese auch die Kommentare dazu.

diefrogg - 12. Feb, 13:02

Ja, das mit den...

45 Prozent stimmt. Allerdings haben die ja eben nicht abgestimmt - und Rückschlüsse über ihre Haltung sind daher tabu. Es ist aber so, dass die Rechtsnationalen bei solchen Vorlagen sehr gut zu mobilisieren wissen. Und die Stimmbeteiligung war aussergewöhnlich hoch. Sie liegt oft unter 50 Prozent. Diesmal dachten wohl noch viele weltoffene und eher europafreundliche StimmbürgerInnen: "Das wird sowieso abgelehnt." Da und dort wird jetzt analysiert, wie die SVP diese Kampagne gemacht hat. Das ist sicher wichtig. Man will ja lehren daraus ziehen. Ausserdem hoffe ich doch, dass jetzt ein Ruck durch die Bevölkerung gegangen ist.

Wenn die Expats jetzt streiken wollen, finde ich das super! Am besten versuchen sie, möglichst viele Mitstreikende in den Spitälern, in den Landhotels und in der Landwirtschaft zu finden!

Meine deutschen Kollegen waren allerdings weit gelassener als einige der Leute, mit denen der "Tagi" gesprochen hat. Am Montag ass ich mit einem deutschen Kollegen zu Mittag. Er ist Wirtschaftsexperte, nahm die Sache anscheinend überhaupt nicht persönlich, sondern äusserte sogar ein gewisses Verständnis. Die Schweiz habe sich ja in den letzten zehn Jahren schon extrem verändert und so.

Empört, ja, entsetzt hat mich hingegen, was sich meine beiden Kollegen mit einem "ic" am Ende ihres Namens im Vorfeld dieser Abstimmung zum Teil an Pöbeleien gefallen lassen mussten. Die sind wütend, und das verstehe ich. Immerhin: Die sind mittlerweile Schweizer, denen kann einstweilen nichts passieren.

Ich kann aber verstehen, dass man dieses Resultat als Ausländer in der Schweiz sehr verletzend findet.
arboretum - 12. Feb, 13:20

Mein Einwurf, dass 45 Prozent gar nicht abgestimmt haben, bezog sich nicht auf diesen seltsamen Typen, den Sie erwähnten.

Man kennt das hierzulande auch von Wahlen: Die Angst der jeweiligen Parteien, dass die Wähler, die für sie stimmen würden, daheim bleiben, weil diese wiederum glauben, die Sache sei geritzt und der Sieg ohnehin sicher, so dass ihre Stimme gar nicht nötig sei.
diefrogg - 12. Feb, 18:41

Mättu ist...

kein seltsamer Typ! Der ist einigermassen normal und durchschnittlich! Deshalb habe ich ihn ja erwähnt.

Und, ja: Die Abstimmung wäre bachab gegangen, wenn 19000 Durchschnittstypen wie Mättu ihr Abstimmungscouvert nicht vergessen hätten. Stellen Sie sich das vor 19000 Stimmen - bei 5,2 Millionen Stimmberechtigten!

Nur, und hier sind wir wieder beim Punkt: Wir wären ohnehin nicht umhin gekommen, einmal einen illusionslosen Blick auf unsere Beziehungen zu EU zu werfen. Das haben uns diese 19000 Penner jetzt unmissverständlich klar gemacht.
arboretum - 13. Feb, 00:09

Nun, es steht ja wahrscheinlich noch so eine Ecopop-Abstimmungsinitiative wegen der Zersiedelung an. Mättu & Co. sollten sich vielleicht einmal fragen, wer diese Flächen als Bauland ausweist, wem diese Grundstücke gehören, wer darauf baut und wer damit den Reibach macht.
diefrogg - 13. Feb, 12:26

Ich werde ihn...

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