27
Feb
2013

Entsetzen in der Holzfabrik

Heute Morgen ist in einer Holzfabrik in der Nähe von Luzern ein Mann Amok gelaufen (Hier mehr). Als ich die Nachricht sah, musste ich zuersst an den scheusslischsten Alptraum meiner Kindheit denken.

Die Holzfabrik in Menznau spielte darin die Hauptrolle. Wir fuhren auf dem Weg zu Verwandten oft mit dem Auto dort vorbei. Es war ein riesiges, düsteres Haus weit draussen auf dem Land. Manchmal steig dicker Rauch aus dem Kamin. Über die Strasse führte eine Eisenbahnschiene. Mit einer Metallschranke konnte man die Strasse sperren, wenn ein Zug kam.

In meinem Alptraum war es Nacht, und die Strasse war gesperrt. Und Papa donnerte mit dem Auto ungebremst auf alles zu. Ich erwachte voller Entsetzen und habe dieses Bild nie vergessen: die schwach erleuchtete Fabrik, die Schranke, die Schienen. Noch als Erwachsene hatte ich ein ungutes Gefühl, wenn ich dort vorbeifuhr.

Obwohl die Fabrik heute viel freundlicher aussieht. Eine Fabrik eben, mit viel hellem Metall gebaut. Einmal fuhr ich mit einem gut gelaunten Wirtschaftsredaktor durch die Gegend. Er zeigte auf jedes grosse Gewerbegebäude und erzählte ein bisschen über die Firma darin. "Da drüben ist die Kronospan", sagte er. Für die Gegend ein bedeutender Arbeitgeber.

Das, was heute dort passiert ist, übersteigt mein Fassungsvermögen für Entsetzen bei weitem.

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steppenhund - 27. Feb, 16:16

Wenn ich diese Nachricht lese, bekomme ich ein ganz ruhiges Gefühl. An sich mag ich ja Katastrophen, vor allem dann, wenn sich durch menschliche Überheblichkeit und Grossmannssucht verursacht werden. Ich mag technische Katastrophen im IT-Bereich. Ich fühle keine Sympathie mit jugendlichen Amokläufern, doch fast etwas Mitleid mit dem 42-Jährigen.
Ich erzähle gleich, warum ich ruhig werde.
Der Artikel sagt, dass er Kickboxer war, aber ruhig und unauffällig. Nun, ich frage mich, warum das Kickboxen hier eine so wesentliche Charakterbeschreibung ist, dass es unbedingt erwähnt werden muss.
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Meine Ruhe stammt aus einer merkwürdigen Quelle, die sich ungefähr in folgender Gemütslage beschreiben lässt: "Aha, doch. Es passiert! Doch der Schaden hält sich noch in Grenzen. Einige Tote einige Verletzte. Könnte auch durch einen Autounfall passieren. Einer der jetzt Toten könnte sich als Unschuldiger als Opfer in einem Unfall finden." Niemand liebt eine Kassandra. Weder vor mehreren tausend Jahren noch heute. Und so zweifelt Kassandra etwas an ihrer Existenzberechtigung und wird selbst in einen Zwiespalt getrieben: soll sie reden oder nicht. Die Wirkung bleibt so oder so null. Doch die Katastrophen treten ein.
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Die Katastrophen mehren sich. Ein Teil der Zunahme ist dem heutigen Medienwesen geschuldet, dass ja auch den Unfall eines chinesischen Autobusses mit zwei Verletzten gleich direkt neben eine Überschwemmungskatastrophe stellt, bei der eine halbe Million Menschen ihre Unterkunft verlieren.
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Unsere Umgebung, unsere Lebensumstände sind heute vom Tempo geprägt. Von einer zunehmenden Beschleunigung. Es gibt keine Zeit mehr, irgendetwas zu verarbeiten. Und ich frage mich, wie das die Menschen denn aushalten können, wie lange sie es aushalten werden. Es geht hier nicht nur um Belastungen, die bedrücken. Ich habe vor vierzig Jahren gelesen, dass ein Mensch, den man seiner afferenten Stimuli (also der Sinneswahrnehmungen) beraubt, auf die Dauer wahnsinnig wird. Doch genauso gibt es einen Channel choke, eine Überlastung. Wenn die Sinneswahrnehmungen zu stark überhand nehmen, müsste man eigentlich ausrasten.
Und wenn einmal der Geist nicht mehr zur Ruhe kommt, kann kein Mensch mehr sagen, zu welchen Reaktionen jemand fähig ist.
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Vielleicht gab es in der Geschichte immer gleich viel Amokläufe. Vielleicht sieht es nur so aus, dass es mehr gibt. Aber ich vergleiche eine gefühlte Zunahme mit der Zunahme an allergischen Reaktionen. Und da gibt es heute wirklich mehr als vor 40 Jahren. Ein Amoklauf ist für mich vergleichbar mit einem Burnout. Dieser richtet sich im Endstadium gegen die eigene Person, in Form des Suizids. Manchmal denke ich, dass Amokläufer hier noch "etwas gesünder" sind. (Bitte con grano salis zu verstehen)
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Ich wäre aber noch viel besorgter, wenn es keine Amokläufer gäbe. Dann würde ich mit einer wesentlich größeren Katastrophe rechnen, bei der die Anzahl der Toten bei 2 Milliarden Menschen läge.

diefrogg - 27. Feb, 17:07

Mir scheint,...

bei der Lektüre dieses Kommentars, dass Sie das Dilemma einer Lokalzeitung in einer solchen Situation richtig erkannt haben, Herr Steppenhund. Auf der einen Seite muss sie es "professionell" behandeln - also die News möglichst gross aufmachen.

Auf der anderen Seite muss sie eher dämpfend wirken: Sie muss den Leuten schnell die beruhigende Information vermitteln, dass die Sache ausgestanden ist und dass man weiss, wer der Täter war. Und sie muss Diskretion wahren. In einer Gegend, in der jeder jeden über höchstens zwei Ecken kennt, darf man Leute nicht verletzen, indem man sie allzu nackt der Öffentlichkeit preisgibt.

Die Detail-Information, dass der Mann ein Kickboxer war, fand ich auch sehr pikant. Sie erfüllt zwei Funktionen: Die Leute aus der Nähe des Unternehmens wissen nun, um wen es sich beim Täter wahrscheinlich gehandelt hat (Kickboxen ist kein sehr verbreiteter Sport). Und sie beruhigt, weil sie den Täter zum Sonderling macht. Sie sagt: Er war anders als die meisten anderen. Er hatte ein merkwürdiges Hobby. Der Täter kürzlich im Wallis war Invalidenrentner. Für eine Mehrheit ist das auch beruhigend. Sie wissen nun: Er war ein Sonderling. Wenn ich keinen IV-Rentner / Kickboxer kenne, dann bin ich sicher.

Aber in einem Punkt irren Sie sich, Herr Steppenhund. Etwa die zweite Lektion im Journalisten-Handbuch gilt der Gewichtung von Nachrichten. Ein Busunfall in China mit zwei Toten und eine Katastrophe mit Millionen von Toten wird IN KEINER EINZIGEN europäischen Zeitung gleich gewichtet werden.
steppenhund - 27. Feb, 17:55

Das mit der unterschiedlichen Gewichtung ist zwar ein edler Gedanke. Ich glaube, dass Sie sich hier irren. Natürlich beziehe ich mich hier auf Boulevardblätter, die gratis in den U-Bahnen herumliegen. (Mit ganz schönen Auflagen übrigens)
Was die Gewichtung angeht, kann ich die ja nur anhand der Spaltenbreite und Zeilenanzahl bzw. Font ausmachen. Da tauchen sehr merkwürdige Effekte auf.
Es gibt allerdings noch ein weiteres Merkmal: die lokale Bedeutsamkeit. Als ich früher noch wesentlich mehr gereist bin, war ich oft über die Berichterstattung in asiatischen Blättern erstaunt. Da standen in der Rubrik "Auslandsabteilung" z.B. in der Hongkong-Times Artikel, die Themen behandelten, die auch in Österreich interessant gewesen wären, aber keinen Journalisten berührt haben. Gut, das war in den 90er-Jahren, als die internationale Vernetzung noch nicht so stark war. Doch die Divergenz einer chinesischen, japanischen oder einer europäischen Berichtserstattung in Themen, die amerikanische Belange angingen, war erstaunlich.
Die regionale Unterscheidung finde ich heute wieder dann vor, wenn es um EU-Belange und Serbien geht. Da lese ich Blätter auf beiden Seiten und die unterschiedliche Betrachtungsweise überrascht mich sehr. (Natürlich nicht dort, wo eindeutig parteiische Interessen im Spiel sind.)
Sie haben mich mit Verlaub nicht richtig zitiert. Ich sprach nicht von Millionen "Toten" sondern von einer halben Million, die obdachlos wird. Trotz meines schlechten Gedächtnisses kann ich mich ziemlich gut noch an eine Meldung erinnern, in der von einer Überschwemmungskatastrophe in Bangladesh berichtet wurde. Es waren damals nur 200 000 Obdachlose. Die Meldung war Spaltenbreite (ca. 5 cm glaube ich) mal 3 cm Höhe. Die gleichen Abmessungen habe ich auch schon für das berühmte Busunglück gesehen.
Übrigens geht es ja nicht nur um Printmedien. Im Radio und Fernsehen fällt das ja noch viel mehr auf. Wenn man gelernt hat, (und ich habe das selbst an mir ausprobiert) dass man nach einer Fernsehnachrichtensendung sich nur mehr an drei Themen erinnern kann, dann wird klar, wozu all die "Nebenmeldungen" dienen. Sie beruhigen die Leute genau mit der Methode, die sie geschildert haben. Ach wie gut, diese Meldung kann ich getrost beiseite schieben. Das ist weit weg und geht mich nichts an, noch berührt es mich.
Jossele - 27. Feb, 18:23

In österreichischen Medien scheint der "Kickboxer" nur marginal auf, dafür die Besitzverhältnisse der Firma deren Inhaber in Salzburg zu finden ist.
Meldungen müssen "verkauft" werden, also Bezug herstellen.

Syrien interessiert nur noch am Rande, obwohl sich da sicher auch heute Menschen zu Tode gebracht haben. Halbwertszeit.
Ein Fesselballonabsturz in Ägypten, super, neu sowas. "Keine österreichischen Opfer", Beruhigung, jetzt kann man sich wieder auf die Details konzentrieren, da sind zwei runtergesprungen...

Der Papstrücktritt hat, obwohl eigentlich nur ein Personalproblem, vermutlich den Schleier über heimtückische Morde, Busunfälle und dergleichen gelegt.
"In Peking ist ein Fahrrad umgefallen", ja, wenn es passt.
Es geht nicht um Ereignisse an sich, es geht um News, und die werden gefiltert.

Das schmälert in keiner Weise das Entsetzen am Morden in einer Kantine, dies aber nur weil sie mir zur Kenntnis gebracht wurden.
diefrogg - 27. Feb, 18:34

Ich hätte es selber...

nicht besser auf den Punkt bringen können, Herr Jossele. Dass sich Österreich mehr für die Besitzverhältnisse der Firma mit Salzburger Connections interessiert, ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie Medien Bezüge schaffen.

Im Radio hörte ich eben noch eine Diskussion über eine Frage, die mich eigentlich weit weniger interessiert als das Kickboxer-Detail: Spielte die Tatsache eine Rolle, dass in der Firma nicht alles zum besten lief? Man hat die Produktion drosseln müssen wegen Holzmangels. Wie hat sich das aufs Betriebsklima ausgewirkt?

@steppenhund: Glauben Sie ruhig weiter, dass ich mich irre. Das macht nichts ;) Wenn die Katastrophe mit den Obdachlosen nur noch drei Zentimeter hoch ist, fällt das Busunglück raus. Das weiss ich zufälligerweise aus eigener Erfahrung. Hängt aber auf der vermischten Seite alles ein bisschen von der Newslage ab... zynisch, aber so ist das halt.

Übrigens noch zum Thema "grosse Ruhe": Im Moment, wo solche Dinge passieren, kann man darauf sehr gelassen reagieren. Aber bei jenen, die näher betroffen sind, kommt der Schock später in zurück - in Alpträumen und Ängsten.

Und, edit am 2. März: Gestern habe ich zufällig einen Bekannten getroffen, der von Berufes wegen mit dem Amoklauf zu tun hatte (kein Journalist und kein Polizist). Es war an der Kasse im Supermarkt, und wir konnten nicht wirklich sprechen. Aber ich habe diesen an sich sehr kühlen Menschen noch nie so niedergeschmettert gesehen. Da ist es dann vorbei mit der Ruhe - auch für jemanden, der nicht so direkt beteiligt ist.
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