20
Jul
2010

Im Strudel der Panik

Unser Flug geht erst heute Abend. Frau Frogg hat läääängst gepackt und noch viel Zeit zum Schreiben. Sie befindet sich mittlerweise fest in den Händen einer groben Panik. Schreiben kann nur beruhigen. Ich fürchte einen Hörsturz.

In den letzten Monaten habe ich mir einen Trott aufgebaut, der es mir relativ leicht macht, meine Ängste über die Tage zu jonglieren. Ich schlafe regelmässig. Ich habe stets Reiswaffeln und Äpfel in der Nähe, um eine Unterzuckerung zu verhindern. Ich trinke genug. Wirklich schlimme Tage habe ich seit März keine mehr gehabt.

Was, wenn ein die Strapazen eines späten Flugs, eine kleine Zeitverschiebung, ein abrupter Wetterwechsel jetzt alles aus dem Gleichgewicht bringen? Die Furcht ist keineswegs unbegründet: Schon auf früheren Reisen hatte ich manchmal diese Tage, an denen mein rechtes Ohr überfordert war. Ich erinnere mich noch an jeden einzelnen. Jeder von ihnen eine Wolke mit bitterem Gift über dem Frogg'schen Sommerglück: gurgelnde Autos in Athen 2007, gurgelnde Bootsmotoren im türkischen Çanakkale 2008, chirbschende Rollköfferchen-Geräusche in Venedig 2009. Und dann dieser hässliche, kleine Schwindelanfall vor dem neuen Edelschuppen in Schuls vor ein paar Wochen! Furchtbar.

"Das Engadin hätte doch gereicht!" sagt die Stimme der Panik. "Es ist sowieso frivol, im gleichen Sommer zweimal zu verreisen! Andere Leute können gar nicht verreisen. Aber Du musst ja unbedingt Dein Glück herausfordern!"

"Was ist denn jetzt los?! Du wolltest doch nach London, so lange Du London noch hören kannst!" schimpft die Stimme der Vernunft. "Und überhaupt: Ein Mittelschichts-Schweizer des frühen 21. Jahrhunderts muss reisen. Was soll er denn sonst im August den Kollegen erzählen? Du bist doch immer gern gereist! Du musst doch ein normales Leben führen, so lange Du kannst!"

Die Panik verflucht die Gepflogenheiten des schweizerischen Mittelstandes.

Während früherer Reisen eignete ich mir irgendwann eine gewissen Nonchalance an. Die Gewissheit, dass die Beschwerden spätestens am nächsten Morgen vorbei sein würden. Aber nach den Ereignissen vom letzten Herbst bin ich mir da nicht mehr so sicher. Wenn jetzt etwas passiert, bin ich selber schuld. Oder glaube es jedenfalls. Und die Konsequenzen können so weit reichend sein, dass ich es hier nicht einmal zu Ende zu denken wage.

Freunde, es klingt jetzt blöd. Aber ich bitte Euch trotzdem drum: Drückt mir die Daumen!

18
Jul
2010

Ich fliege

In letzter Zeit wurde hier viel über Grenzen diskutiert - und dass es manchmal besser ist, sie nicht zu überschreiten. Doch bald tue ich genau das Gegenteil: Ich verreise ins Ausland. Ich fliege sogar: Herr T. und ich verbringen ab Dienstag ein paar Tage nach London. Für Durchschnitts-Europäer ist das ja alles andere als ungewöhnlich. Aber Ihr wisst ja: Nach dieser Hörsturz-Geschichte vom letzten Herbst ist eine solche Reise für Frau Frogg etwas Bemerkenswertes.

Frau Frogg erklimmt sogar den Gipfel der sommerlichen Sorglosigkeit und wirft ihre finanziellen Bedenken in den Wind. Dem Schweizer Franken droht wegen der Euro-Krise sowieso eine Inflation. Also ist es klug, Geld für eine Traumreise zu verscherbeln, bevor es einem in den Fingern zerrinnt.

Den Entscheid für diese Reise mitbeeinflusst hat sicher der Umstand, dass ein Aufenthalt in London für mich seit eh und je eine Art Kurcharakter gehabt hat. Ich habe mich immer wohl gefühlt in dieser Stadt. In jungen Jahren habe ich viel Zeit dort verbracht. In den achtziger Jahren und neunziger Jahren schien sie mir hauptsächlich von linken Öko-Freaks bewohnt. Auch wimmelte es dort von liebenswerten, aber etwas ineffizienten Intellektuellen. Und ich erinnere mich noch gut an meine letzte Ankunft in London vor drei Jahren: Wir fuhren vom City Airport mit der Light Railway Richtung Westen. Morgenlicht streichelte die Spitzen der Hochhäuser am Canary Wharf, ich roch den Geruch von London: Russ und die Polster der Dockland Light Railway. Ich hörte englische Durchsagen. Plötzlich hatte ich das Gefühl, mehr Luft zum Atmen zu haben als zu Hause im Alpenland.

Letzteres ist eine touristische Illusion. Das Vereinigte Königreich ist im letzten Jahrzehnt ein hartes Land geworden. Der Typ des bulligen Sous-Chef mit anrasierter Glatze dominiert das Strassenbild. Er ist roh, rücksichtslos und gierig. Falls er intelligent ist, ist er zynisch. Eins aber ist er sicher: versoffen. Robbie Williams verkörpert für mich den Idealtyp des Briten der Nuller Jahre. Er wirkt facettenreich und ironisch, ein Chamäleon. Aber ich kann mich des Verdachtes nicht erwehren, dass es bei dieser Figur letztlich nur um Koks und Kohle geht. Ich habe den Kerl nie gemocht.

Für mich ist das hier die Hymne der britischen Nuller Jahre:



Die hat einen Zynismus, der mir gefällt. Der Typ im Song präsentiert sich als stolzes Stehaufmännchen: Die Zeile "I get knocked down, but I get up again" wird gefühlte drei Dutzend Mal wiederholt. Aber wahrscheinlich fällt er nur wegen seines immensen Alkoholkonsums überhaupt so oft auf die Schnauze: "He drinks a whisky drink / he drinks a wodka drink / he drinks a lager drink / he drinks a cyder drink, und so weiter". Und im Grunde sind seine besten Zeiten längst vorbei: "He sings a song that remind him of the good times / he sings a song that remind him of the better times." Kurz: Er ist eine traurige Gestalt.

Höchste Zeit, London an einer neuen Grenze zu erleben: Beim Schritt in ein neues Jahrzehnt!

17
Jul
2010

Top 5 Engadin: Kino Scuol

Dieser letzte Engadin-Tipp ist nicht mehrheitsfähig. Er ist allenfalls, vielleicht, vielleicht, kultig. Herr T. findet es nicht einmal kultig. Herr T. sagt, das Kino Scuol sei ein trauriger Ort. Ein Kino sollte ein Treffpunkt sein, findet er. Das Kino von Scuol sei kein Treffpunkt. In der Vorsaison hat man dort gute Chancen, den Saal für 300 Leute mit nur einem halben Dutzend müden Gestalten zu teilen. Was Herr T. nicht bedacht hat: Weil man so allein ist mit ihnen, kommt man dann doch unweigerlich ins Gespräch.

Aber nicht deswegen liebe ich dieses Kino. Ich liebe es, weil man hier Dörflichkeit, vergangene touristische Grandezza und die Idee Kino feiert. Die Idee Kino hat in meinen Augen eben wenig mit Treffpünktlichkeit zu tun. Sondern mehr mit der Flucht aus dem Dorf, mit Lichterglanz und grossen Gefühlen.

Doch vor dem Kino Scuol ist man noch mitten im Dorf, auf dem Pausenplatz des Schulhauses. Der Eingang zum Lichtspielhaus führt auch ins Schulgebäude.

Kino Scuol

Die Lampen im Torbogen sind unverkennbar Jugendstil-Leuchten. Es müssen wohlmeinende Lehrpersonen gewesen sein, die sie mit einer Holzarbeit verunziert haben.

In der Vorhalle springt einen zuerst die bäurische Strenge der Engadiner Vergangenheit an: Zur Linken hängt ein expressionistisches Winterbild. Im Vordergrund sieht man eine alte Bauernfrau auf einem Schlitten. Sie blickt mit unendlich bitterer Miene über ein Schneefeld auf ein Engadiner Dorf. Rechts dagegen winken schon die frivolen Vergnügungen des Kinos: Da steht das uralte Kassenhäuschen - am Schalter ein Plastik-Container mit rosaroten Süssigkeiten und ein Stapel der neuesten "Film demnächst"-Ausgabe.

Wir kauften eine Karte und betraten den Saal. Er ist reich mit Holzschnitzereien verziert. Man sollte früh hingehen. Damit man Zeit hat, sich ihn anzusehen, bevor die Lichter ausgehen.

Wir sahen "Crazy Heart". Kein schlechter Film, wenn man bedenkt, dass wir keine Wahl hatten. Es war der einzige Abend in unseren zwei Ferienwochen, in denen das Kino geöffnet war.



Die ältere Frau in der Reihe vor aus hatte als junge Frau im Tourismus-Büro gearbeitet. Der Saal diene auch als Austragungsort von Gemeindeversammlungen, erzählte sie uns. Und: "Früher war ich hier für die Programmierung zuständig. Als ich anfing, hatte ich ziemlichen Respekt vor dieser Arbeit. Aber man sagte mir: 'Wenn Du ein volles Haus willst, dann setz einfach 'Spiel mir das Lied vom Tod' aufs Programm. Das wirkt immer.' Das war auch so."

13
Jul
2010

Top 5 Engadin: Sent

Wie einige von Euch sicher bemerkt haben, musste ich nicht nur meine ehrgeizigen Berggängerpläne herunterfahren. Auch meine Berichterstattung über das Engadin wird jetzt zurückgestutzt. Warum, werde ich in Kürze verraten. Hier einstweilen die Fortsetzung meiner ehemaligen Top 10.

Als archetypisches Engadiner Dorf wird ja der ganzen Welt Guarda verkauft.

(Quelle: www.fotolink.ch)

Gewiss, Guarda ist hübsch. Aber Guarda kennt inzwischen jeder. Sogar die Japaner treiben sich dort oben herum.

Reizvoller finde ich persönlich Sent. Dort hat man sich vom Dörfli-Groove entfernt und der architektonischen Formensprache des Engadins ein geradezu kleinstädtisches Gepräge gegeben.


(Quelle: www.sent-online.ch)

Das ist eine Leistung, denn Sent hat lediglich rund 900 Einwohner, und der Dorfkern liegt auf 1430 Metern über Meer. Offenbar* liegt es daran, dass früher viele Leute von dort in die grossen Städte Europas emigrierten und als Zuckerbäcker ordentlich Geld verdienten. Wenn sie zurückkamen, leisteten sie sich ein richtig schönes Haus.

Eine echte Trouvaille ist auch das Verlorene Café. Ich nenne es das Verlorene Café, weil ich seinen Namen nicht notiert und es nicht einmal fotografiert habe. Ich bin lediglich einmal in Eile daran vorbeigegangen und habe es später vom Postauto aus gesehen. Ich war nicht mal drin. Aber das macht nichts: Es ist das Portal des Ladens, das den Frogg'schen Architekturpreis verdient hat. Es vereint Engadiner Sgraffito-Technik mit einem rauen Art Deco-Chic. Es liegt an der Hauptstrasse von Sent, eher am Westende. Falls jemand von Euch es fotografiert, schickt mir bitte eine Kopie von dem Bild!

Einstweilen bleibt das Verlorene Café für mich ein Grund, wieder einmal ins Engadin zu reisen.

* Quelle: Chasper Baumann: "Engadin", der tauglichste Reiseführer, den ich über die Region gefunden habe. Er ist ziemlich oberflächlich, dafür umfassend. Und er verzichtet auf die akademischen Schwurbeleien, die den fundierteren Werken über die Gegend anhaftet.

11
Jul
2010

Am Berg gescheitert

Nach dem Glückserlebnis im Val Plavna suchte ich die Herausforderung am Berg. Nichts geringeres als der Felsenweg im Val d'Uina sollte es am nächsten Tag werden.


(Bild Quelle www.bce.98.ch)

Natürlich hatte ich ein paar Bedenken. Ich meine: Ich fahre wegen meiner Schwindelanfälle nicht mehr Auto. Wie ich es mit Bergtouren halten soll, hat mir nie jemand gesagt. Ich habe zu fragen vergessen. Und wenn Du die Menière'schen Krankheit hast, rennt Dir nie einer nach, um Dir einen guten Ratschlag zu geben. Das weiss ich inzwischen.

Der Weg sei gut gesichert, versicherte mir Herr T. immerhin. Er sei schon als Kind dort oben gewesen.

Ob das stimmte, fand Frau Frogg nie heraus. Denn sie scheiterte schon am Aufstieg über einer Felswand. Der war nicht gut gesichert. Da gab es ein Feld mit Schneeresten zu überwinden. Dann kam ein schräger Holzbalken, der einzige Halt in einer Steilwand. Und kaum darüber hinweg gekraxelt, sah Frau Frogg schon die nächste Gefahrenzone ohne Extra-Sicherung für Meniere-Patientinnen.

Ich verspürte ein merkwürdiges Gefühl in der Magengrube. Und über Schwindel weiss ich inziwschen eins ganz sicher: Er wird schlimmer, wenn er unter keinen Umständen da sein sollte. Ich bestand auf Umkehr, und zwar unmissverständlich.

Herr T. war not amused. Ist er einmal losgezogen, so lässt er sich ungern so kurz vor dem Ziel stoppen. Aber man muss zu seiner Ehrenrettung sagen: Er verhielt sich wie ein Gentleman.

Auf dem Rückweg sahen wir zwei Mittfünfzigern mit Mountain-Bikes zu. Sie quälten unverzagt ihre Zweiräder jenen Pfad hoch, an dem ich so kläglich gescheitert war. "Pah! Zwei Dienstleistungs-Sklaven, die sich etwas beweisen müssen!" lästerte Frau Frogg.

Aber die Niederlage traf sie tief. Sie stieg nicht nur vom Berg hinunter, sie tauchte tief hinab in ein älteres Ich. Sie war wieder die pummelige Drittklässlerin, die unten stand, wenn die anderen oben auf der Kletterstange sassen. Die bei der Teamwahl zum Völkerball-Spiel bis zuletzt aussen vor blieb. Die einen Schrecken vor dem Reck hatte.

Der Weg zurück durchs Val d'Uina war lang und dunkel. Erst nach einer Weile sah ich wieder den Wald, den Bach, die Blumen. Es waren die Worte unseres Vermieters, des Pfarrers, die mich schliesslich trösteten. "Haben sie die Blumen gesehen?" hatte er gefragt. Und dann: "Man muss die Blumen nicht beim Namen kennen. Man muss sie nur sehen."

logo

Journal einer Kussbereiten

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Suche

 

Impressum

LeserInnen seit dem 28. Mai 2007

Technorati-Claim

Archiv

August 2025
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 
 1 
 2 
 3 
 4 
 5 
 6 
 7 
 8 
 9 
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
 
 
 

Aktuelle Beiträge

Kommentar
Liebe Frau frogg, schauen Sie bitte bei WordPress...
Freni - 28. Nov, 20:21
Ein schreckliches Tal
Soglio im Bergell, Oktober 2013. Was habe ich Freunde...
diefrogg - 6. Okt, 20:27
Liebe Rosenherz
Danke für diesen Kommentar, eine sehr traurige Geschichte....
diefrogg - 11. Jan, 15:20
Ja, die selektive Wahrnehmung...
auch positives oder negatives Denken genannt. In den...
diefrogg - 9. Jan, 18:14
liebe frau frogg,
ein bisschen versuch ich es ja, mir alles widrige mit...
la-mamma - 5. Jan, 14:04

Status

Online seit 7639 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 14. Apr, 12:45

Credits


10 Songs
an der tagblattstrasse
auf reisen
bei freunden
das bin ich
hören
im meniere-land
in den kinos
in den kneipen
in den laeden
in frogg hall
kaputter sozialstaat
kulinarische reisen
luzern, luzern
mein kleiner
offene Briefe
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren