Die meisten Mittvierziger haben ja keine Zeit, sich so genannte Lebensfragen zu stellen. Sie haben genug damit zu tun, ihre Kinder durch den Tag zu bringen und ihre Karriere am Laufen zu halten.
Ich habe Zeit, mir Fragen zu stellen. Ich stelle mir die Frage, die sich wohl die meisten Mittvierziger stellen würden, wenn sie Zeit hätten.
Sie lautet: Bin ich glücklich?
Ich muss anmerken, dass mit dieser Frage eine Erwartung verbunden ist: Ich erwarte von mir, glücklich zu sein.
Nicht glücklich zu sein würde ich als die perfideste Form des Scheiterns empfinden.
Eines Tages im Frühjahr 1995 sah Michelangelo diese Schallplatte in meinem Regal:
Er bekam sofort Stielaugen. Michelangelo war ein grosser Kenner der Rockmusik. Er sammelte Vinyl. Er hatte Hunderte Platten. Doch diese Scheibe kannte er noch nicht einmal. Er hielt sie für eine Rarität. Wir hörten sie uns zusammen an. Beim zweiten Song sah ich ihm an: Er wollte sie. Er wollte sie unbedingt.
Ich hätte sie ihm schenken sollen. Denn ich liebte Michelangelo (glaubte ich wenigstens). Aber ich zögerte.
Ich hatte sie Mitte der achtziger Jahre im angesagten Plattenladen unseres Städtchens gekauft. Für eine Rarität hätte ich sie nie gehalten, denn dort standen davon immer ein paar Stück herum. Der Typ im Plattenladen muss sie gemocht haben. Ich sparte mir meine Platten immer vom Geld ab, das mir meine Mutter fürs Mittagessen in der Schule mitgab. Wir Mädchen waren ja damals schon alle essgestört. Aber etwas Kleines musste ich jeweils doch essen. Deshalb war Geld knapp, und ich erwog jeden Kauf sorgfältig. Was mich schliesslich für „English Rose“ einnahm, weiss ich nicht mehr. Doch so schwer ich mich mit dem Kauf der Scheibe getan hatte, so schwer tat ich mich jetzt mit der Trennung davon.
Ich zögerte noch, als Michelangelo mich verliess. Es war das beste, was er tun konnte. Noch besser wäre gewesen, ich hätte ihn verlassen. Wir passten einfach nicht zusammen.
Aber damals sah ich das noch nicht so. Damals brach mir die Sache schier das Herz. Als er mir zwei Monate später irgendeinen saublöden Brief schrieb, rastete ich aus: Er solle mich in Ruhe lassen, schrieb ich zurück. Ich würde mich schon wieder melden, wenn ich die Zeit für gekommen hielte.
Das ist 15 Jahre her. Ich habe ihn seither nicht mehr gesehen. Anfangs ärgerte ihn meine Zurückweisung, das weiss ich von gemeinsamen Bekannten. Später verlor ich die auch aus den Augen.
Ich hörte auch kaum noch Platten.
Aber als Frau Frogg im Winter krank war, verspürte sie das Bedürfnis, offene Rechnungen zu begleichen. „Ich könnte ihm die Platte ja jetzt schenken“, dachte sie. Ohne grossen Kommentar, vielleicht irgendetwas im Sinne von „no hard feelings. All the best.“. Kein Wunsch, die alten Fäden wieder anzuknüpfen. Einfach ein anständiger Schlusspunkt. „Ich werde ja sowieso taub“, dachte sie, „Ich werde die Scheibe nicht mehr brauchen.“
Frau Frogg überlegte schon hin und her, wie man Schallplatten per Post verschicken kann. Dann hörte ich wieder viel besser. Und dann dachte ich: „Ich höre sie mir besser noch einmal an, bevor ich sie weggebe. Dann weiss ich später wenigstens, wie sie klang.“
Am Sonntag legte ich sie auf .
Sie ist ein herzzerreissendes, simples, wunderschönes, oh so very britisches Blues-Album mit einem grossartigen Gitarristen.
Hier eine kleine Kostprobe:
Ich glaube nicht, dass ich mich davon trennen kann.
Und doch glauben Sie,... dass die Pest auch ihr Gutes hat, dass sie die Augen öffnet, dass sie zum Denken zwingt!"
Der Arzt schüttelte ungeduldig den Kopf.
"Wie alle Krankheiten auf dieser Erde. Aber was für die Übel dieser Welt gilt, das gilt auch für die Pest. Das kann ein paar wenigen dazu verhelfen, grösser zu werden. Wer jedoch das Elend und den Schmerz sieht, die die Pest bringt, muss wahnsinnig, blind oder feige sein, um sich mit ihr abzufinden."
Aus Albert Camus: Die Pest
Hamburg, Rowohlt Taschenbuch 1991, S. 83.
Als ich neun Jahre alt war, zogen wir in unser nigelnagelneues Vorstadt-Häuschen am Hügel. Es war okkerfarben, eines von 50 Stück derselben Bauart. Wir hatten es uns am Mund abgespart und taten das auch noch ein paar weitere Jahre. Mein Vater war ein kleiner Beamter mit (noch) intakten Aufstiegschancen. Drei oder vier unserer direkten Nachbarn waren anders als wir: Die Eltern waren Oberstufen-Lehrer. Der sicht- und hörbarste Unterschied war, dass auch die Erwachsenen lange Sommerferien hatten. Die verbrachten sie in ihren nigelnagelneuen Vorgärten in einer Geselligkeit, die wir nicht kannten.
Weiter vorne in derselben Siedlung wohnten aber durchaus andere kleine Beamte und ein paar Kleinunternehmer. Die Anwälte, Zahnärzte und Gynäkologen wohnten in einer anderen Siedlung. Dort waren die Häuser türkisfarben und etwas grösser.
Aber alle hatten Kinder im Schulalter, die dasselbe Primarschulhaus besuchten. Deshalb bin ich bestens qualifiziert, hier ein bisschen über die Soziologie von uns Mittelschichtskindern der 70-er Jahre zu dilettieren. Ein Kommentar von Herrn Bräunlein hat mich dazu inspiriert. jueb schreibt: "dass nämlich in ... unserer Generation... alle so gut ausgebildet sind, studiert, verakademisiert, dass da doch ganz dolle exorbitante Karrieren zu erwarten gewesen wären bei dieser unglaublichen Nachkriegs-Klugheit und Bildung, und wenn man sich zu einer solchen daran anknüpfenden Karriere nicht aufschwingt, dann hat man eben versagt - ganz egal ob mal Haarausfall hat, Pickel oder behindert ist. Aber das ist ein Irrtum. Es ist die große Kränkung dieser Generation, dass sie ihre Eltern finanziell nicht einholen können. Trotz Bildung, Eifer und Überstunden."
Erst stimmte ich ihm ja enthusiastisch zu. Aber dann begann ich darüber nachzudenken, was aus meinen Schulgspänli von damals geworden ist. Und ich komme zu anderen Ergebnissen.
Festzuhalten ist:
1) Die Lehrerkinder wurden wieder Lehrer. Dieser Beruf schien ihnen genügend Glücksversprechen zu enthalten. Und wirklich: Sie brachten es zu Wohlstand und etwas grösseren, neuen Häusern am selben Hügel.
2) Mit viel mehr Hunger gingen die Kinder der kleinen Beamten und Kleinunternehmer in die Welt hinaus. Sie folgten ihren Träumen und Idealen. Sie studierten Fächer mit wenig lukrativen Perspektiven. Sie wurden Schauspielerinnen. Sie wanderten aus. Für die meisten zahlte es sich irgendwie aus. Und wenn es das nicht tat, weiss man es gut zu verbergen. Ich kenne keinen einzigen Taxi fahrenden Germanisten. Es gibt im Quartier meiner Eltern ganz wenige missratene Töchter und Söhne. Eine ist psychisch krank, einer hat sich das Leben genommen. Das sind peinliche, beunruhigende Geschichten, über die man ungern spricht.
3) Die Kinder der Anwälte, Zahnärzte und Gynäkologen studierten selber wieder, wenn sie dafür intelligent genug waren. Wenn nicht, wurden sie Banker. Sie verdienen heute sogar mehr als ihre intellektuellen Geschwister und sind allesamt in steuergünstige Nachbarkantone gezogen.
Kann es sein, dass die Situation in Deutschland anders ist als bei uns?
Er hatte nichts. Nichts als die Gier, mehr vom Leben zu bekommen als die armselige Chrampferei als Knecht. Nichts als die Gewissheit: Er taugte mehr als manch ein anderer. Er war eines von neun Kindern. Geboren 1901, auf einem Bauernhof tief hinten in einem der vielen Täler am Nordhang des Berges. Den Hof bekam sein ältester Bruder. Er bekam Arbeit als Knecht für einen Franken im Tag auf einem Hof im Tal nebenan.
Er war schon 27, als ihm endlich das Glück lachte. Von seinem Arbeitsort aus sah er die Winterweid, einen stattlichen Bauernhof. Der Bauer hatte zwei Töchter. Er lernte die Ältere kennen. Er schrieb ihr Briefe.
Sie war ein schönes Mädchen. 21, herb und herzig zugleich. Meinen Cousinen vererbte sie eine Augenpartie mit einem Zug ins Slawische.
War sie in meinen Grossvater verliebt? Romantisch, gedankenlos, ein kleines Mädchen? Oder schaute sie genau hin? Dachte sie darüber nach, ob er das Zeug hatte, die Winterweid zu führen? Redete sie abends in der Stube mit ihrem Vater über die Zukunft des Hofs? Über die Mitgift für ihre jüngere Schwester?
Ich werde es nie wissen. Sie starb am Tag meiner Geburt, nur 58 Jahre alt.
Eines Morgens im eisigen Winter 1929 zog er los, um mit ihr die Ringe zu tauschen. Wenn ich daran denke ist mir, als sässe mir das Glück und die Kälte jenes Morgens in den Knochen.