24
Mrz
2010

Felix spricht

"Ich habe beim Aufräumen eine Klassenliste gefunden. VIIe", lacht er, als wäre es ihm ein bisschen peinlich, "Da ist mir eingefallen, dass wir heuer vor 25 Jahren die Matura gemacht haben. Und dass Du eigentlich eine Klassenzusammenkunft organisieren solltest. Weil Du noch im Städtchen wohnst, dachte ich. Ich meine, Du weisst sicher, wo all die anderen abgeblieben sind."

Nein, das weiss ich nicht. Und sowieso: In meinem Gesundheitszustand sehe ich mich eigentlich ausser Stande ein grosse Kiste wie eine Klassenzusammenkunft zu organisieren. Das erkläre ich ihm auch gleich. Alleine könne ich das jedenfalls nicht tun, sage ich.

Aber ich muss gestehen, dass mir der Gedanke an eine Klassenzusammenkunft auch schon durch den Kopf gegangen ist. Wahrscheinlich bin ich die einzige, die Zeit für ein solches Projekt hätte. Wir wissen ja: Mittvierziger und ihre unzähligen Verpflichtungen! Felix jedenfalls scheint ein viel beschäftigter Mann zu sein, woher denn sonst die angestrengte Blässe in seinem Gesicht? Oberarzt im Kantonsspital Q. Verheiratet. Nur schnell für die Praxiseröffnung eines Kollegen ins Städtchen gekommen. Dennoch nimmt er meine Einwände ernst. "Wir könnten das zusammen machen", sagt er. Es stellt sich heraus, dass er schon die halbe Klassenliste durchgegoogelt und durchs Twixtel gelassen hat. "Vielleicht finden wir noch einen Dritten, der uns hilft."

Aber ich weiss nicht, ob ich ihm trauen soll. Ich habe ihn im Verdacht, dass er Arbeit gut delegieren kann. Dennoch habe ich ihm erst mal versprochen, Philipp anzurufen. Der war auch in der Klasse VIIe und wohnt nur drei Strassen von mir weg.

23
Mrz
2010

Schwarze Pädagogik

"Lustig, ich habe vor ein paar Tagen an Dich gedacht!" sagt Felix. Das ist tatsächlich merkwürdig. Denn damals, als wir zusammen die Matura machten, hatten wir uns nicht viel zu sagen. Wir verloren uns sofort aus den Augen.

Dennoch bin ich drauf und dran zu antworten: "Ja, lustig! Ich habe kürzlich jemandem von Dir erzählt!" Ich erwähne Felix stets, wenn ich Bekannten von den haarsträubenden pädagogischen Methoden unseres Lateinlehrers erzähle. Dieser nannte ihn nicht Felix, sondern Fixi, lieber noch: Fixi-Säuli. Der Altphilologe besass ein schwarzes Büchlein mit einer Liste unserer Namen. Zu Beginn jeder Stunde zückte er dieses Büchlein und sagte zu Felix: "Fixi-Säuli, sag eine Zahl!" Felix sagte jeweils eine Zahl. Zum Beispiel: "Sieben". Der Lehrer stach blind mit einem Stift in die Namensliste und zählte bis sieben. Das Ritual war spannungsgeladen, ja bedrohlich. Denn die Person, die der Lehrer dann aufrief, musste nach vorne und die Aufgaben aufsagen. Wer versagte, wurde coram publico mit Schimpf und Schande überdeckt.

Ich habe nie verstanden, warum sich Felix nicht gegen seine Rolle in diesem Spiel wehrte. Ich hätte das alles als Demütigung empfunden. Ich hätte mir das nicht bieten lassen. Aber Felix war anders als ich. Er war eigentlich ziemlich frech. Vielleicht verstand er sich nicht als Opfer, sondern als Komplize dieses Spiels. Und vielleicht war er einfach weniger empflindlich als ich.

Doch jetzt gleich damit anzufangen, wäre bösartig. "Ach wirklich? Warum hast Du denn an mich gedacht?" frage ich statt dessen.

21
Mrz
2010

Der Mann in der Shopping-Passage

In letzter Zeit hat die Vergangenheit eine merkwürdige Art, mich hinterrücks zu überfallen. Mit alten Songs. Mit Geschichten von meinem Vater. Und jetzt das: Neulich abends, ich husche durch eine halbdunkle Shopping-Passage mitten im Städtchen. Ich komme von einem Spaziergang mit meiner Freundin Ella. Es ist Abendverkauf, und ich brauche noch schnell ein paar Sachen aus dem Coop. Ein Mann im Anzug geht an mir vorbei und schaut mich an, als kenne er mich. Ich kenne ihn nicht. Er ist schon an mir vorbei, als er sich umdreht und mich beim Vornamen ruft.

Ich drehe mich um, und er strahlt mich an. Ja, verdammt, ich kenne ihn! Dieses Gesicht! Früher hatte er diese Kanten am Kiefer nicht. Nicht diese angestrengte Blässe, die Männer mit Rang und Verantwortung manchmal haben. Es ist... es ist... "Hallo...", es dauert eine Sekunde, bis die Puzzleteile in meinem Gedächtnis an der richtigen Stelle zusammenfallen. "halloo..." meine Güte, früher hatte ich ein hervorragendes Personengedächtnis, das beste! Er trägt teures Tuch, ja, natürlich, er ist Arzt geworden wie sein Vater, nein, mehr, Oberarzt, irgendwo... "hallooo... Felix!" strahle ich schliesslich zurück. Wir haben zusammen die Matura gemacht, vor 25 Jahren. Wir waren sieben Jahre in derselben Klasse.

Ich stehe da in meiner zehn Jahre alten Freizeit-Jacke und den ausgelatschten Jogging-Schuhen. Ich weiss gar nicht, weshalb er mich anspricht. Wir standen uns nie nahe.

"Lustig, habe vor ein paar Tagen an Dich gedacht!" sagt er.

(Fortsetzung folgt... muss heute noch weg und mich schön machen. Ausgang mit dem Göttibub!)

20
Mrz
2010

Gegen Selbstmitleid

Ja, ich geb's zu: Ich habe mich in den letzten Wochen dem Selbstmitleid anheim fallen lassen. Bei Frau Nachtschwester habe ich Medizin dagegen gefunden.

18
Mrz
2010

Neun Uhr morgens

Es ist neun Uhr morgens, mitten unter der Woche. Ich sitze da und habe noch ein bisschen Zeit zum Lesen. Ich lese dieses Buch.
Es hat seinen Weg jetzt auch zu mir gefunden. Es ist ein sehr berührendes Buch, eine gelungene Kreuzung zwischen Four Weddings and a Funeral und The Love Song of J. Alfred Prufrock und Love Story. Für meinen Jahrgang. Genau für meinen Jahrgang. Oh, wie ich den jungen Dexter und die junge Emma wiedererkenne als Prototypen meines Jahrgangs!

Meine Freundin Helga fällt mir ein. Sie ist in einer ähnlichen Situation wie ich und gar nicht so unglücklich darüber. "Ich meine, überleg mal", hat sie neulich gesagt, "wer ausser uns hat Zeit um neun Uhr morgens ein Buch zu lesen." Sie geniesst das. Ich versuche mich davon zu überzeugen, dass ich es auch geniesse. Es gelingt mir. Beinahe.
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