vorm buechergestell

11
Jan
2014

Buchtipp

Eben ist dieses Buch endlich auf Deutsch herausgekommen. Die Übersetzung soll ausgezeichnet sein, stand im "Tages-Anzeiger". Das kann ich leider nicht beurteilen. Ich habe das englische Original gelesen.

Dennoch empfehle ich das Buch unbedingt, auch wenn ich einen Kritikpunkt habe. Ich habe es selber wie im Rausch gelesen - nach kleinen Anfangsschwierigkeiten, zugegeben. Alles an diesen Geschichten ist verknappt, komprimiert, fragmentarisch. Da steigt man nicht ein wie in einen 0815-Roman.

Vielleicht habe ich es nicht zuletzt deshalb so gemocht, weil es im Grunde über mich ist. Nun gut, es spielt in London - und zwar abseits der Touristenströme, in Kilburn, im wilden Nordwesten der Grossstadt. Dort, wo die Postleitzahlen mit NW beginnen eben. Wo viele Migranten leben. Aber zwei der Hauptfiguren sind Frauen, in denen ich mich ständig wiedererkannte.

Da ist Leah, das rothaarige Mädchen mit dem kleinbürgerlichen Hintergrund. Sie ist clever genug, um an die Uni zu gehen. Aber eigentlich weiss sie nicht, was sie dort mit sich anfangen soll - und wählt als Studienfach das in ihren Augen geringste Übel: Philosophie. Wir lernen sie kennen, als sie längst wieder nach Kilburn zurückgekehrt ist. Sie hat einen frustrierenden Job und ist verheiratet. Ihr Mann ist sexy, aber sonst stinkbieder. Geld ist wenig da. Sie kifft viel. Und sie tut merkwürdige Dinge, um nicht schwanger zu werden. Aber warum?

Leahs beste Freundin seit Kindertagen ist Natalie. Das heisst: Als Kind hiess sie Keisha. Im Unterschied zu Leah strotzt sie vor Zielbewusstsein. Sie kommt aus der afrokaribischen Unterschicht, und sie kämpft sich durch das britische Klassensystem nach oben: Sie wird Anwältin, ändert ihren Namen, heiratet einen Banker aus privilegiertem Hause, hat zwei Kinder. Aber dann steht sie da in ihrer Villa am schicken Ende von Kilburn und erkennt sich selber nicht wieder.

Das Buch fängt grossartig den Sound, die Sprache von London ein. Es beschreibt wunderbar die Beziehung, das Wesen und die Perspektiven der beiden Frauen. Auch das gesellschaftliche Klima rundum und die Malaise der beiden. Doch woher kommt Leahs Pessimismus, woher Natalies Selbstverlust? Die Erklärungsversuche im Buch greifen zu kurz (auch wenn sie hier sehr gut nachgezeichnet werden). Da fehlt mir im Buch etwas. Das ist mein Vorbehalt.

Vielleicht macht uns Smith eben doch nicht ganz nachvollziehbar, was es heisst, an einem Ort wie Kilburn aufzuwachsen.

Nun wüsstet Ihr gern, warum ich mich in diesen Figuren wiedererkannt habe. Aber da müsst Ihr jetzt selber raten.

Zadie Smith: London NW. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014.

14
Dez
2013

Gegen die Ostalgie

Neulich kam ich in Zürich an einem Kiosk vorbei, der eine wahre Grossauflage dieses Magazins aufgestapelt hatte.

Ich kaufte sofort ein Stück. "Wahrscheinlich wird es endlich alle Fragen beantworten, die ich seit unserem Sommer in Ostdeutschland mit mir herumtrage", dachte ich. Zum Beispiel: Wie schlimm war das damals nun wirklich? Gab es auch Gutes? Oder: Was soll man von der Ostalgie halten?

Und, wahrlich: Eine dieser Fragen beantwortet Chefredaktor Michael Schaper schon im Editorial. Er schreibt: "Kurz: Die Diktatur drang in jeden Winkel der Gesellschaft vor, sie war lückenlos und flächendeckend, keiner vermochte sich ihr zu entziehen. Jede Bagatellisierung dieses totalitären Systems ist Geschichtsklitterung."

Vielleicht kann man das auch anders sehen. Aber das Heft belegt dann die These sehr anschaulich. Es ist im Grunde ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die Ostalgie. Die Bilder sind absolut un-ostalgisch. Wer die Texte lesen will, braucht eine Grundahnung von Politik und muss sich ein bisschen hineinknien. Aber es lohnt sich. Die Autoren zeichnen detailgenau den Aufbau und den Zerfall eines menschenverachtenden Unrechtsstaates nach.

Mittlerweile verstehe ich auch, warum die Leute in Ostdeutschland diese alten Geschichten nicht an die grosse Glocke hängen. Wer Teil eines solchen Systems war (und die die allermeisten waren das ja nicht freiwillig) schaut lieber nach vorne als zurück.

30
Nov
2013

Nur für Schweizer Leser

Dieser Beitrag ist Wasser auf die Mühlen jener meiner Leser, die hier gerne über die Schweiz stänkern. Deshalb habe ich lange gezögert, ihn zu schreiben. Aber ich tue es jetzt trotzdem. In erster Linie für meine Schweizer Leser. Denn sie (und ich) sind zurzeit aufgefordert, über die Zukunft unseres Landes nachzudenken - Stichwort "Masseneinwanderung".

Als ich die Autobiografie von Franca Magnani* las, ist mir das mehrmals durch den Kopf gegangen. Deshalb zitiere ich hier ein paar Passagen der späteren ARD-Korrespondentin über die Schweiz. Magnani kam mit ihren Eltern nach Zürich. Das war in den frühen dreissiger Jahren. Ihr Vater war Antifaschist und auf der Flucht vor Mussolini.

Schon der Hauptbahnhof mutete das Kind befremdlich an: "Die Ordnung war eindrucksvoll, und es war so still, dass ich ein Geräusch hören konnte, das mit nie zuvor aufgefallen war: das tack-tack-tack der Absätze beim Laufen. ... In Zürich herrschte ausser dem Lachen meines neuen Freundes und dem Klappern der Absätze die totale Stille. (S. 57-8)*

Später berichtet sie, dass eines Sonntags ein Polizist an der Tür klingelte - weil ihr Vater dabei war, einen Nagel einzuschlagen. "Arbeit am Sonntag ist 'verboten'", belehrte ihn der Wachtmann. "Ihre Nachbarn haben uns informiert, dass sie hämmern. Das ist Arbeit. Das stört. Nicht wegen der Geräusche ... . Wegen der religiösen Gefühle." (S- 60-1).

In der Schule "herrschte ehrfurchtsvoller Respekt vor dem 'Herrn Lehrer'. Was er sagte, was das Evangelium. Dieser unbestrittene Respekt verhinderte jede denkbare Diskussion zwischen uns Schülern: 'De Lehrer hät's gseit ...'" (S. 67-8). Das brachte alle zum Schweigen.

Ich muss festhalten: Die Schweiz hat sich sehr verändert. Manches hat sich geradezu ins Gegenteil verkehrt. Heute kann man auf Schweizer Bahnhöfen überall Leute belauschen, die sehr vernehmlich intimste Details aus ihrem Leben ins Handy schwafeln. Polizisten klagen darüber, dass sie von Nachtschwärmern beschimpft und tätlich angegriffen werden. Und Lehrpersonen darüber, dass ihnen die Eltern ihrer Schüler wegen jeder Kleinigkeit ins Handwerk pfuschen.

Dennoch: In die Schweiz, die Franca Magnani erlebt hat, will ich auf keinen Fall zurück. Wir brauchen frischen Wind - auch darum scheint es mir nicht ratsam, dass wir anfangen, uns abzuschotten.

* Franca Magnani: "Eine italienische Familie". Köln ; Kiepenheuer & Witsch, 1990.

1
Sep
2013

Über das Lesen

Seit einiger Zeit geniesse ich ein unglaubliches Privileg: Ich habe Zeit zum Lesen. Seit ein paar Monaten nehme ich mir diese Zeit auch. Ich lese alles Mögliche: mehr Zeitungen, Gedichte, ganz selten Bibeltexte, am liebsten aber historische Literatur, zurzeit gerade dieses Buch:



Was darin steht, ist für für diesen Beitrag irrelevant. Nur so viel: Es hat einige hundert Seiten – und wo ich früher bestenfalls Abend für Abend an fünf, sechs Seiten genippt hätte, tauche ich jetzt manchmal für eine oder zwei Stunden am Stück ein. Es ist ein grossartiges Gefühl, sich vom Strom einer breiten Argumentationslinie mitnehmen zu lassen. Man reist weit.

Das ist für mich ein neues Gefühl. Gut, ich hatte auch als junges Mädchen ab und zu viel Zeit zum Lesen. Aber damals feierte ich lieber, hing tage- und nächtelang mit Freunden herum. Damals quälte ich mich gelegentlich mit meiner Unfähigkeit, hingebungsvoll zu lesen. Heute bereue ich nichts mehr, denn die Zeit des Feierns ist für mich vorbei. Ich meide Ansammlungen von mehr als zwei Menschen, wenn immer ich kann. Zu viel Betrieb stresst mich und nimmt mir das Gehör. Heute bin ich froh, dass ich damals keine Party ausgelassen habe. Ich bedaure heute höchstens, dass ich mich quälte. Mit Gölä sage ich: I hätt no viu blöder ta*.

Lesen können ist eine Errungenschaft, sagt meine Freundin Zelda. „Man muss lernen, sich das Lesen zu erlauben.“ Zelda weiss, wovon sie spricht. Buchstaben entziffern konnten wir beide schon mit fünf. Zum Lesen kamen wir spät. Wir stammen aus einem nicht gerade bildungsnahen Milieu - und wir waren Mädchen. Doch dazu später mehr.

* In etwa: "Ich hätte mich noch viel wilder benommen" (ist aber schwierig zu übersetzen).

24
Aug
2013

Gescheiterte Emanzipation

Kann man einem Schriftsteller trauen, der eine Geschichte aus der Sicht einer attraktiven Blondine erzählt? Einem Autor, der seine - durchaus intelligente - Ich-Erzählerin dazu noch kläglich scheitern lässt? Oder will er damit nur alle Frauen schlecht machen?

Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, dass ich den neuesten Roman von Ian McEwan unter grössten Zweifeln zu lesen begann.

Er lässt darin die schöne Serena Frome von ihrer kurzen beruflichen Laufbahn beim britischen Geheimdienst erzählen. Schon im ersten Abschnitt schickt sie voraus: "Innert 18 Monaten wurde ich gefeuert. Ich hatte Schande über mich gebracht und meinen Liebhaber ruiniert."

Was folgt, ist ein spannender Spionage- und Liebesroman mit einem postmodernen Erzähltrick am Schluss. Es eine geradezu exemplarische Chronik weiblichen Scheiterns in der Berufswelt. Die ganze Lektüre scheint durchsetzt von Seufzern darüber, dass sie ihre Möglichkeiten nicht annähernd auszuschöpfen vermag. Es mag merkwürdig klingen, aber gerade dieser Seufzer wegen liebte ich das Buch. Oder jedenfalls Serena Frome. Ich sprach zu ihr, als wäre sie meine Schwester. Ich mass meine Erkenntnisse und Frustrationen von Jahren an den ihren.

Klar: Wir sprechen hier nicht von heutigen Frauen. Serenas Geschichte spielt in den Siebzigern des letzten Jahrhunderts. Aber all jenen Frauen, denen es nichts über sich selbst sagt, wird es wenigstens etwas über ihre Mütter sagen.

Serena gehört zur ersten Generation Mittelschichts-Frauen, für die eine höhere Schulbildung überhaupt im Bereich des Möglichen liegt. Aber schon der Weg dorthin ist voller Fallstricke. Es beginnt mit unrealistischen Erwartungen: Serena würde gern Literatur studieren, hat aber auch ein bisschen Talent für Mathematik. Hier tritt ihre Mutter auf den Plan. "Sie sagte, es sei meine Pflicht als Frau, in Cambridge Mathematik zu studieren", berichtet Serena auf Seite 3 und gehorcht. Allerdings legt sie dann doch nur einen unbefriedigenden Abschluss hin.

Eine Affäre mit einem Professor verschafft ihr den Job beim Geheimdienst. Dort vegetiert sie im Archiv dahin, dem Depot für Frauen mit Uni-Abschluss. Nur eine einzige kämpft sich in höhere Ränge vor - die Quotenfrau, die den anderen stets als Messlatte vorgehalten wird. Schliesslich bekommt sie doch noch eine interessante Aufgabe angeboten - aber nur, weil sie eben schön und blond ist.

McEwan lässt zwar seiner Heldin am Ende einen Weg offen, auf dem es gar keine Rolle mehr spielt, dass sie ihre Berufsehre verloren hat.

Aber der ist vollkommen traditionell.

21
Aug
2013

Überbewerteter Krimi

Diesen Krimi gibt es zwar erst auf Englisch. Aber er wird auch im deutschen Sprachraum ein todsicherer Bestseller werden. Er ist das Werk, das Harry-Potter-Autorin J. K. Rowling unter falschem Namen herausgegeben hat.

Ich musste es lesen - denn ich liebte Harry Potter! Es soll ja auch enthusiastische Kritiken gehabt haben, noch bevor die wahre Identität von Robert Galbraith aufflog. Und es hat Stärken: Es erzählt kompetent über das Leben in der Londoner Schickeria - darüber weiss die Autorin Bescheid, sie gehört ja selber dazu. Sie beweist auch ein gutes Händchen für Dialoge. Und, klar: Das Buch ist ein "pageturner", wie es im britischen Buchhändler-Slang heisst. Zu Deutsch: Man verschlingt es.

Insgesamt scheint es mir aber überbewertet.

Seine offensichtlichste Schwäche ist sein charmanter Plauderton. Er passt nicht zum Helden. Privatdetektiv Cormoran Strike ist eine arme Sau. Er hat in Afghanistan ein halbes Bein verloren - und zurzeit übernachtet er im Büro, weil ihm auch noch sein Privatleben um die Ohren geflogen ist. Ein solcher Held muss sich behaupten, seine Männlichkeit beweisen. Aber Rowling zeigt ihn nicht dabei. Wie ein Autor seinen Helden in einer solchen Lage zeigen kann, hat anno dazumal Raymond Chandler vorgemacht. Da kommt jeder Satz knapp und schnell wie aus der Pistole. Es sind Sätze für einen Selbstbehauptungs-Künstler. Unerreicht.

Mir gefällt auch nicht, wie die Autorin die Leserin durch den Fall führt: Sie breitet die Story aus wie einen Orienttepich mit einem labyrinthischen Muster. Reihenweise Dialoge mit unendlich vielen Hinweisen. In vielen Krimis - zum Beispiel bei Elizabeth George - haben Detektive Partner. Mit ihnen diskutieren sie Hinweise und führen den Leser so auf die richtige, oft auch erst mal auf ein paar falsche Fährten. Strike aber tauscht sich nicht einmal mit seiner cleveren Sekretärin Robin aus. Er lässt den Leser über den Teppich tappen, orientierungslos, viel zu lange. Und zaubert schliesslich die Lösung unter ihm hervor hervor wie ein Lehrmeister in Hogwarts.

Auch als ich das Buch zum zweitenmal las, konnte ich nicht restlos nachvollziehen, wie er das gemacht hat.

Ja, Ihr habt richtig gesehen: Ich habe das Buch zweimal gelesen - und beim zweiten Mal ein paar köstliche Aha-Erlebnisse gehabt und auch gelacht.

Aber ob das ein Zeichen von Qualität ist? Ich bin mir nicht sicher.

12
Mai
2013

Der Traum vom Schreiben

Meine treuen Leserinnen und Leser wissen: Vor ein paar Jahren habe ich noch den Traum verfolgt, Schriftstellerin zu werden. Genauer: Krimiautorin. Ich habe 2009 ein weit fortgeschrittenes Projekt nicht zuletzt aus gesundheitlichen Gründen fahren lassen.

Seither habe ich - ausser auf diesem Blog - wenig geschrieben. Aber den Drang, Geschichten zu schreiben, habe ich immer noch. Zwei, drei Projekte habe ich vage verfolgt. Für eines habe ich einen Viertelplot und viele Notizen. Aber ich habe nicht richtig losgelegt, weil mich eine düstere Ahnung verfolgt. Eine Ahnung, die zu Worten wurde, als ich dieses Buch zu lesen begann.



Auf Deutsch heisst es Das Leben und das Schreiben - und es ist ein Buch mit viel Klartext über die Imagination und darüber, wie man sie zu Büchern macht. King schreibt (ich übersetze selber):

"Schreibende bilden eine Pyramide wie wir sie in allen Bereichen menschlichen Talents und menschlicher Kreativität vorfinden. Zuunterst sind die Schlechten. ... Über ihnen steht eine Gruppe, die etwas kleiner, aber immer noch gross ist. Das sind die kompetenten Schreiber. Die nächste Ebene ist viel kleiner. Hier sind die wirklich guten Schreiber. Und über ihnen allen - über fast allen von uns - sind die Shakespeares, die Faulkners ..." und so weiter. Es sei unmöglich, aus einem schlechten einen kompetenten Schreiber zu machen, so King. Aber es sei "mit viel harter Arbeit, Hingabe und Hilfe zur richtigen Zeit", möglich, aus einem kompetenten einen guten Autor zu machen.

Nun mache ich mir vielleicht etwas vor - aber ich habe mich immer für eine kompetente Autorin gehalten (King schliesst bei diesen Überlegungen JournalistInnen ausdrücklich ein, über BlogerInnen äussert er sich nicht). Also wären meine Chancen intakt, einmal eine gute Geschichte zu schreiben. Ich müsste nur genügend harte Arbeit und Hingabe aufbringen.

Doch genau hier liegt das Problem. Ich habe einmal hart an einem Roman gearbeitet. Ich habe mich sogar der Illusion hingegeben, dass es meiner Gesundheit guttun würde, einen Roman zu schreiben. Ich erlebte berauschende Momente. Doch meine Kräfte haben damals nicht gereicht. Und meiner Gesundheit genützt hat es auch nicht.

Es ist Zeit für mich, mich von einem Traum zu verabschieden, der mich ein Leben lang begleitet hat.

1
Mai
2013

Bezaubernder Roman

Um zu erklären, was ich an dieser Liebesgeschichte so bezaubernd finde, beginne ich am besten mit einer Leseprobe:

"Das Unheil war vergangenen November über mich hereingebrochen.
In keiner Weise ahnend, was mich dort erwarten würde, radelte ich morgens fröhlich zur uniwersitejt; im Rucksack verstaut Laptop, Notizblock, Schreibetui, zwaj bichlech über Wirtschaft und eine Banane mit einem brojnen Fleck. Es war ein wolkenloser, aber ausgesprochen kalter tog, und als ich die Uni betrat, beschlug meine briln sofort. Nachdem ich sie abgenommen ... hatte, stieg ich die ... Treppe zum Vorlesungssaal hinauf. Vor dessen Tir hatte sich eine Stauung von Menschen ergeben. Ich stelle mich an.
Da rief neben mir eine junge froj: 'Laura!'"
...
Noch nie hatte ich eine derart scheijne froj erblickt, und unwillkürzlich sprach ich leise den Segensspruch beim Sehen von Bäumen oder anderen Geschöpfen von aussergeöhnlicher Schönheit..."
(Seite 35).

Was Ihr an diesem Text als nicht Hochdeutsch erkennt, ist nicht etwa Schweizerdeutsch, wie die Nationalität des Autors Thomas Meyer vermuten liesse - sondern Jiddisch. Meyers Erzähler Motti (kurz für Mordechai) Wolkenbruch ist ein junger, orthodoxer Jude aus Zürich Wiedikon. Doch Meyer gelingt in diesem Buch ein Kunststück, an dem sich viele Schweizer Autoren vergeblich abmühen: Es amalgamiert eine Mundart so stimmig mit der Hochsprache, dass wir mit seinem Roman ein leuchtendes, kleines Kunstwerk vor uns haben.

Die Mundart ist ja ein Kreuz für die Schweizer Autoren. Ob "Frühstück", "Morgenessen" oder "Zmorge" - ob "Strassenbahn" oder "Tram": Jeder, der über das Leben in der Schweiz schreibt, muss den für seine Kunst richtigen Abstand zu ihr finden. Wer ihr zu nahe tritt, wird schwer lesbar oder klingt volksdümmlich. Wer sich zu weit von ihr entfernt, wirkt leblos - oder wie ein ahnungsloser Deutscher.

Nur wenigen Autoren gelingt nebst dem sprachlichen Spagat auch noch eine runde Geschichte, die zur Turnübung passt. Meyer ist einer von ihnen. Sein junger Held Motti steht zwischen der jüdischen Tradition und dem westlichen Stadtleben im 21. Jahrhundert. Die ganze Story dreht sich um die Frage, was er wählen wird.

Der Roman ist auch deshalb köstlich, weil er mit sehr irdischer Komik aufwartet - und seinen Figuren doch mit einer himmlischen Zärtlichkeit begegnet.

25
Jan
2013

Charmanter, schwuler Plauderer

Wer sein Büchergestell aufräumt, bringt zuweilen erstaunliche Schätze an den Tag. Ich zum Beispiel fand das hier aus dem Jahre 1980:



Das heisst: Ich fand natürlich die englische Originalausgabe des Romans, die Earthly Powers heisst. Aber sie hat ein unansehnliches Cover - deshalb hier jenes der deutschen Übersetzung. Gekauft hatte ich es in den neunziger Jahren, gelesen noch nicht. Wäre ich meinen eigenen Regeln für die Bücherentsorgung gefolgt, hätte ichs ins Brockenhaus gebracht. Statt dessen las ich es - sofort. Es ist ein brilliantes, ein merkwürdiges Buch.

Erzählerisch verlangt er dem Leser nicht allzu viel ab - jedenfalls nicht auf der Oberfläche. Ich-Erzähler ist der 81-jährige britische Schriftsteller Kenneth Toomey, der seine Lebensgeschichte höchst unterhaltsam hinzuplaudern weiss. Aber man sollte ihm - und das ist die Herausforderung - nicht kritiklos begegnen. Seine Homosexualität dürfte 2013 für niemanden mehr einen Diskussionspunkt darstellen. Doch die onkelhafte Ignoranz, mit der er der zornigen Selbstsuche seines schwarzen Liebhabers Ralph begegnet, darf man durchaus hinterfragen. Und 1939 macht er sich gar kurz zum Komplizen der Nazis. Auch darüber lässt sich diskutieren.

Burgess packt die grossen, die ewigen Fragen bei den Hörnern: jene nach Gut und Böse, nach Macht und Unvermögen - und er befasst sich mit Religion - speziell dem Katholizismus - und den politischen Strömungen des gesamten 20. Jahrhunderts. Dabei nimmt er sich selber nicht zu ernst und verwöhnt die Leserin immer wieder mit hinreissenden sprachlichen Köstlichkeiten.

So lesen sich 650 Seiten schnell - auch wenn es gegen Schluss sehr plätschert und ich mich eine Weile lang fragte, wo das Ganze jetzt noch hinführen soll. Ich habe weitergelesen und wurde reich belohnt: mit einem Donnerschlag zum Schluss stellt Burgess alles in Frage - und lässt die Leserin äusserst nachdenklich zurück. Fazit: Die Welt ist schlecht, und wir können das Böse wahrscheinlich nicht aufhalten. Aber es schadet nicht, wenn wir es wenigstens versuchen.

Das Buch kehrt jetzt nicht nur in mein Büchergestell zurück. Es erhält dort sogar einen Ehrenplatz.

7
Nov
2012

...und seine sechs Ehefrauen



Heinrich VIII. von England (hier dargestellt vom Filmbeau Jonathan Rhys-Meyers) schenkte den Briten eine neue Staatsreligion. Und er verschliss nicht weniger als sechs Ehefrauen. Zwei davon liess er hinrichten. Unser Englischlehrer - er trug den Titel the Master of Sarcasm - brachte uns die Geschichte der sechs Frauen als amüsante Gruselstory mitsamt Anzähl-Sprüchlein bei: "divorced, beheaded, died - divorced, beheaded, survived". Wobei er beim Wort "beheaded" stets diesen süffisanten Unterton anschlug, mit dem er uns Teenager bei Laune zu halten pflegte.

Dazu dürfte er uns die Geschichte etwa so erzählt haben: Des Königs erste Gattin war Katharina von Aragon aus dem spanischen Königshaus, sieben Jahre älter als Heinrich. Als er sich in die junge, ehrgeizige Hofdame Anne Boleyn verliebte, hatte Katharina schlechte Karten. Heinrich wollte die Scheidung um jeden Preis. Der Papst legte aber sein Veto ein. Da kam es Heinrich zupass, dass gerade die Reformation im Gange war. Er gründete die anglikanische Kirche, wurde selber ihr Oberhaupt und bewilligte sich die Scheidung. Er heiratete Anne Boleyn (Bild unten).



Diese erwies sich nun aber als ziemlich fordernd - und was noch schlimmer war: Sie gebar ihm keinen Sohn. Schliesslich hatte Heinrich genug von ihr. Er warf ihr irgendwelche Bettgeschichten vor - und damit Hochverrat. Sie wurde geköpft.

Da Heinrich immer noch einen Erben brauchte, wandelte er schnell wieder auf Freiersfüssen - und ehelichte die blutjunge Jane Seymour. Diese produzierte den erwünschten Thronfolger - und starb dabei.

Nun versuchte man Heinrich aus politischen Gründen eine protestantische Braut schmackhaft zu machen. Man zeigte ihm ein Bild der hübschen Anna von Kleve.



Sofort willigte er zur Heirat ein und liess die Schöne kommen. Doch das Bild war eine Propagandalüge. Anna soll ihm zu alt und dem ganzen Hof viel zu provinziell gewesen sein. Er liess sich von ihr scheiden und schob sie aufs Land ab.

Nummer fünf, Catharine Howard, war wieder eine hübsche, junge Hofdame. Zu jung - sie hielt es mit dem gealterten Monarchen nicht aus und betrog ihn. Hochverrat. Kopf weg.

Erst mit der sechsten Frau, Catherine Parr, schien es für Heinrich endlich so etwas wie Familienglück zu geben. Aber er starb nur drei Jahre nach der Heirat.

Nach dieser Englisch-Lektion verschwand Heinrich VIII. ein Vierteljahrhundert lang aus der Wahrnehmung von Frau Frogg. Er entsprach nicht dem Zeitgeist. Ich meine: Wer interessierte sich für Religion? Und aus einer Scheidung wollte man doch keinen Skandal machen! Aber in diesem Jahrzehnt feiert der royale Blaubart aus London eine triumphale Auferstehung.

Erst kam die TV-Serie Die Tudors, aus der das obige Bild von Henry stammt. Sie zeigte den Monarchen als vitalen, machtbesessenen und nur beinahe gewissenlossen Renaissance-Menschen. Wer das politisch-religiöse Getue nicht versteht, kann sich auf die Prachtentfaltung der Inszenierung konzentrieren: Frauen in Pelzen und Perlen - und die Kleriker in luxuriösem Purpur.

Die Serie zeigte: Die Ära Henrys ist unserer Zeit nicht unähnlich. Die da oben haben Kohle und zeigen es schamlos. Die in der oberen Mitte sind verunsichert, denn die Institutionen bröckeln - und in den daraus entstehenden Ungewissheiten kann man sich um Kopf und Kragen spekulieren. Und die weiter unten - naja, da sieht besser man gar nicht hin.

Auch die britische Literatur feiert das Erbe Henrys. Eben hat die Autorin Hilary Mantel zum zweiten Mal den Booker-Preis für einen Roman über Heinrichs Höfling Thomas Cromwell erhalten:

Nicht, dass ich ihn schon gelesen hätte. Der erste Band, "Wolf Hall", war für mich ein zäher Brocken - er erfordert viel Hintergrundwissen. Mit dem zweiten warte ich noch ein bisschen.

Ich habe nämlich eine tolle Quelle gefunden, um mein Hintergrundwissen aufzubessern. Alles über Heinrich, seine Ehefrauen und die damalige politische und dynastische Grosswetterlage in einem Titel aus dem reichen Fundus von Erbtante Dora.



Das Buch dreht sich zwar hauptsächlich um das Leben von Elisabeth I., die eine Tochter Heinrichs war. Aber auf 100 Seiten und mit drei Stammbäumen erklärt Lavater-Sloman die ganze Sache mit Henry anschaulicher als hundert Stunden "Tudors"!
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diefrogg - 11. Jan, 15:20
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diefrogg - 9. Jan, 18:14
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ein bisschen versuch ich es ja, mir alles widrige mit...
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