14
Dez
2013

Gegen die Ostalgie

Neulich kam ich in Zürich an einem Kiosk vorbei, der eine wahre Grossauflage dieses Magazins aufgestapelt hatte.

Ich kaufte sofort ein Stück. "Wahrscheinlich wird es endlich alle Fragen beantworten, die ich seit unserem Sommer in Ostdeutschland mit mir herumtrage", dachte ich. Zum Beispiel: Wie schlimm war das damals nun wirklich? Gab es auch Gutes? Oder: Was soll man von der Ostalgie halten?

Und, wahrlich: Eine dieser Fragen beantwortet Chefredaktor Michael Schaper schon im Editorial. Er schreibt: "Kurz: Die Diktatur drang in jeden Winkel der Gesellschaft vor, sie war lückenlos und flächendeckend, keiner vermochte sich ihr zu entziehen. Jede Bagatellisierung dieses totalitären Systems ist Geschichtsklitterung."

Vielleicht kann man das auch anders sehen. Aber das Heft belegt dann die These sehr anschaulich. Es ist im Grunde ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die Ostalgie. Die Bilder sind absolut un-ostalgisch. Wer die Texte lesen will, braucht eine Grundahnung von Politik und muss sich ein bisschen hineinknien. Aber es lohnt sich. Die Autoren zeichnen detailgenau den Aufbau und den Zerfall eines menschenverachtenden Unrechtsstaates nach.

Mittlerweile verstehe ich auch, warum die Leute in Ostdeutschland diese alten Geschichten nicht an die grosse Glocke hängen. Wer Teil eines solchen Systems war (und die die allermeisten waren das ja nicht freiwillig) schaut lieber nach vorne als zurück.

Trackback URL:
https://froggblog.twoday.net/stories/572464026/modTrackback

trox - 15. Dez, 23:44

Ich habe das Heft auch gesehen, in Stapeln liegen, in Zürich, in Köln. Ich habe darin geblättert, die "Enthüllungen" zum Lohn als IM und zur Schlechtmache von Pfärrern als impotent diagonal gelesen, und das Heft dann wieder brav dahin gelegt, wo es hin gehört. Auf den Stapel.

Gründe dafür gibt's für mich zwei: GEO ist von G+J (mittlerweile Bertelsmann), also den "Stern" Verlegern. Und: mit NSA, Bankenaffaire, Libor-Skandal etc. haben wir die akute West-Version eines "menschenverachtenden Unrechtsstaates"; in Abwandlung schaut man dann lieber bei den andern zurück als bei sich selbst.

Ach, und drittens: Jürgen Kuttner nennt die Schweiz "DDR mit Vierjährigen" ... dafür hat er wohl einen Grund. Doch dazu schriebst Du schon am 30. November (https://froggblog.twoday.net/stories/565875232/)

diefrogg - 16. Dez, 12:49

Also doch jemand,...

der es anders sieht! Danke Trox!

Die Kritik an der Bertelsmann-Stiftung habe ich eben erst gefunden. Für interessierte Leser: Hier. Das bestätigte meinen Verdacht, dass schon das Konzept eines solchen Heftes aus einer ziemlich liberalen Ecke kommen muss. Auch diese mächtige Grossauflage war mir suspekt. Nicht zuletzt deswegen bin ich froh um Widerspruch. Insgesamt hätte ich ihn aber lieber in der Sache selbst als in einem Rundum-Gegenschlag von der Art wie Du ihn bringst.

Geschichtsschreibung ist ja immer auch von der Weltsicht der Autoren geprägt. Gerne wüsste ich: Was ist an den Ausführungen im Heft falsch? Was kann man auch anders sehen?

Wenn Du jetzt grad NSA, Bankenaffäre und Libor-Skandal in einen Topf wirfst: Wer IST denn da der Unrechtsstaat? Die USA? Die Schweiz? Die Banken (kein Staat, aber trotzdem)? Das ist mir als Gegenschlag zu wenig präzis. Informationen zu diesen Vorgängen interessieren mich natürlich auch. Aber das ändert nichts daran, dass man sich nicht dafür interessieren darf, was damals in der DDR passiert ist. Oder?

Zum Schnüffelstaat Schweiz: Ja, ich habe nicht vergessen, dass wir auch einen hatten (was wir heute haben, scheint mir unglaublich nebulös - aber nichtsdestotrotz enorm besorgniserregend. Aber es sollte einen nicht davon abhalten, sich für die Zustände in der damaligen DDR zu interessieren, oder?). Als die ganze Sache diskutiert wurde, waren wir ja selber jung und in Sorge, fichiert worden zu sein. Und tatsächlich sind auch in der Schweiz unbescholtene Menschen bespitzelt, verfemt und um ihre Jobs gebracht worden. Aber eben: Es war "DDR mit Vierjährigen" - der Massstab war (wohl auch unter Einbezug der geringeren Bevölkerungszahl in der Schweiz) kleiner.
trox - 17. Dez, 00:56

dann muss ich mir das Heft also doch noch besorgen und lesen, um differenzierter zu antworten ...

eine spannende Frage jedoch: ist es denn ein fundamentaler oder ein gradueller Unterschied, wenn der Staat die Überwachung organisiert, oder die Bevölkerung "aus eigenem Antrieb" (die genannte sorgsame Stille im HB Zürich in deinem anderen Post, die grossen Fenster mit Ein- und Druchsicht in den Wohnraum hier in Holland) -- oder anders: ist jede Art von sozialer Kontrolle (und damit einhergehend: Normierung von Verhalten) OK bzw. nicht OK?

NSA, Bankenaffaire und Libor wollte ich übrigens nicht in einen Topf werfen -- oder nur in einen ganz grossen, der die Überschrift "westliche Errungenschaften trägt. Alle drei verkörpern ihre ganz eigenen Tragödien des Vertrauens in Institutionen der Macht. Und das sehe ich als Leitmotiv und Tertium Comparationis.
diefrogg - 17. Dez, 13:07

Falls Du zur...

Weihnachtszeit in der Gegend bist, leihe ich es Dir aus - damit Du kein Geld in der Rachen des Bertelsmann-Konzerns werfen musst ;)

Zur Frage nach dem Unterschied zwischen sozialer Kontrolle und Spitzelstaat: Soziale Kontrolle ist lästig bis verwerflich. Wo sie institutionalisiert oder politisiert wird (letzter ist bei uns bei der Ausländerfeindlichkeit der Fall - was ich hier jetzt aber nicht ausführen möchte) ist ihr strikt entgegenzutreten, am besten durch unkonventionelles Verhalten. Schlimmstenfalls, wenn möglich: flüchten.

Kontrolle durch Polizei und Staat ist aber schlimmer, finde ich: Nicht nur ist das Zerstörungspotenzial grösser (Schweiz: Lehrer finden keine Stelle. DDR: Leute wurden aufgrund von Spitzeleien verhaftet und gefoltert). Die Kontrolle erhält auch noch das "approved"-Siegel von höherer Warte, wird organisiert und kann ungehemmt eskalieren.

Deine Kritik an den westlichen Unternehmen und Institutionen hat schon seine Berechtigung. Bei uns besteht ja meist Hoffnung, dass sich solche Auswüchse durch das Eingreifen anderer Institutionen korrigieren lassen - aber bei den Banken und beim NSA... wer weiss, ob das da auch noch irgendwann geht.

Ebenfalls keine Stärke des Westens finde ich, dass er bittere Armut einfach hinnimmt - meistens im Süden, in neuerer Zeit aber auch bei machtlosen Gruppierungen in den Staaten des Westens.
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