bei freunden

2
Aug
2009

Schutzengel

Auf dem Spielplatz beim Göttersee steht die längste und steilste Rutschbahn der Alpennordseite. Da will Tim hinunterrutschen. Dafür muss er eine steile Treppe aus gebeizten Baumstämmen hochsteigen. Gegen 20 Stufen, schätze ich. Ich gehe nicht mit hinauf. Tim ist vier. Treppen steigen kann er mittlerweile alleine. Ich schaue nur zu. Im oberen Drittel turnt er einen Moment lang herum und verliert plötzlich das Gleichgewicht. Da hängt er, an nichts als einem Stück blauem Himmel, und rudert mit den Ärmchen.

Ich stehe da und sehe ihn fallen, höre ihn schreien, sehe gebrochene Knochen, gebrochene Leben.

Doch er fängt sich und klettert weiter. Als wäre nichts gewesen. Stunden später kann er sich gar nicht mehr an den Moment erinnern. Ich schon.

31
Mai
2009

Blasierte Mädchen

Gestern habe ich an Redder gedacht. Redder ist ein ausgezeichneter Blogger aus Zürich. Was mich manchmal bei ihm nachdenklich macht, ist allerdings die Tatsache, dass er Frauen oder Mädchen meist als "Griiten" bezeichnet. Dieses Wort ist wahrscheinlich eine Abkürzung von "Margrit"*. In meinem Dialekt bezeichnet es blasierte Schönheiten, die Männer anmachen, um sie dann mit einer Abweisung zu demütigen. Redder braucht das Wort "Griite" für alle Frauen, deshalb bin ich mir nicht sicher, ob es in seinem Dialekt dasselbe bedeutet. In meiner Welt sind nämlich die wenigsten Frauen "Griite".

Aber gestern habe ich eine "Griite" gesehen: Marie-Christiane, meine Nicht (fast 8). Bevor Ihr jetzt schlecht über Marie-Christiane denkt, muss ich es sagen: Sie ist ein wunderbares Kind. Sie ist lieb zu ihrer kleinen Schwester Carina (fast immer), hat die beste Phantasie von allen Kindern und ist, auch das muss in diesem Zusammenhang gesagt sein, bildschön. Sie ist gross für ihr Alter und schmal und tanzt Ballett. Sie bewegt sich so grazil wie ein perfekter, neuer Caran d'Ache-Bleistift in der Hand eines Meisterzeichners.

Gestern spielten wir zu Dritt sicher eine Stunde lang Fangen in verschiedenen Rollenspielen. Wir rannten und quietschten. Die kleine Carina rannte und quietschte mit. Dann war ich der Taschendieb und Marie-Christiane die Dame mit dem Perlencollier. Sie holte sich eine Kette mit Plastikperlen und eine Handtasche, stieg in die zierlichen Stöckelschuhe von Omama Ottokar. Ein Stofftier in der Tasche erklärte sie zu ihrem Handy. Und plötzlich wurde alles anders.

Sie stöckelte ihre Mähne schwingend davon bis zum Ende des Gartens. Sie war plötzlich eine Unbekannte. Beim Baum blieb sie stehen und wurde ein extrem angeödeter Teenager. Total blasiert. Sie zückte ihr Handy aus Stoff und rief ihren Freund an.

Ich war richtig verstört. "Wo hat sie bloss dieses Gesicht her?" dachte ich. "Griite" war das einzige Wort, das mir einfiel.

Ich musste an Redder denken.

Ob es daran liegt, dass dieses Mädchen den grössten Teil seiner Kindheit in Zürich verbracht hat?

Dann bliebe eigentlich nur noch die Frage, was Zürcher an "Griiten" so toll finden.

* behauptet Hobbylinguistin Frogg

18
Mrz
2009

Vergewaltigt: Wer ist Schuld?

Wenn es etwas gibt, was mich wirklich empört, dann ist es die Aussage: "Eine Frau, die vergewaltigt wird, hat die Vergewaltigung selber auf sich gezogen."

Ich halte diese Überzeugung für eine Erscheinungsform hochgradiger esoterischer Dümmlichkeit. In meinem Bekanntenkreis glaubte ich sie nachhaltig getilgt. Aber ich hatte mich getäuscht. Letztes Wochenende haben drei alte Freunde die ausgelatschte These aus der Mottenkiste geholt. Auch eine Frau war dabei.

"Und wie bitte soll sie das tun?" fragte ich.

"Das sind feinste energetische Schwingungen!" dozierte mein alter Freund Babar, der sich immerhin Psychologe schimpfen darf, in fachmännischem Ton. Er machte dabei eine Geste, als wolle er eine Stecknadel in eine dafür sorgfältig präparierte Wand schräubeln. Natürlich dürfe man die Handlung des Täters nicht ausklammern, antwortete er auf meinen Einwand. Tatsache sei aber, sagte er, dass es in New York eine Frau gäbe, die 563 mal (oder so) überfallen worden sei. Ich müsse doch zugeben, dass die das irgendwie selber beeinflusst haben müsse.

Ich murmelte etwas von "Humbug" und "urband legend", aber ich sah, dass ich gegen drei Opponenten nicht ankam, ohne unangemessen militant zu werden. So wurde ich statt dessen sprachlos vor Ärger.

Jetzt bin ich froh um Zu- und Widerspruch. Ich muss mein Argumentarium stärken. Für ein andermal.

16
Mrz
2009

Bäuchlein angesetzt

Es ist wieder so weit. Wir alten Freunde schlemmen uns durch unser jährliches Smörgasbord.

Nach dem Kaffee sitzen wir da und warme Gefühle senken sich über uns. Diese Zärtlichkeit, die man nur uralten Freunden gegenüber empfindet, von denen man weiss: Egal, wie weit wir uns von einander entfernen - wir werden irgendwann immer wieder einen Grund finden, einander zu mögen. François reibt sich genüsslich den Bauch und ich entdecke: Er hat das bekommen, was man hierzulande "es Ränzli" nennt. Ein Bäuchlein. Es muss daran liegen, dass auch er endlich Vater geworden ist. Es ist ein kleines Bäuchlein, er fährt schliesslich viel Rad. Aber es ist eins, unverkennbar.

François grinst: "Naja. Ich sage schliesslich immer: Wer will denn ein Sixpack, wenn er ein ganzes Fässchen haben kann?!"

22
Feb
2009

Tausendfüssler

Sonntag. Familienfest im Säli, irgendwo in einer tief verschneiten Landschaft.

Die Erwachsenen reden über komisches Zeug. Von einer Bank. Von einer Bank mit einem Geheimnis. Ernst reden sie, und nicht einmal der Papa scheint diesmal zu wissen, wie man die Sache mit der Bank und dem Geheimnis in Ordnung bringen könnte. Und die Tante auch nicht. Obwohl die beiden doch sonst immer alles wissen, wenn sie zusammensitzen und reden.

Aber sonst ist die Welt in Ordnung. Carina (3) zeichnet eine Sonne. Ein Rundumeli mit Strichen.
"Das ist eine Sonne", sagt sie zur Tante, "Aber, gell, Tante: Eigentlich sieht diese Sonne doch aus wie eine Spinne."
"Eine Spinne? Naja, ein bisschen schon mit so vielen Strahlen", sagt die Tante.
"Nein, nein, das ist keine Spinne!" ruft Herr T. der Tante über die Schulter. "Da sind ja viel zu viele Beine dran. Das ist ein Tausendfüssler!"
"Ach was!" sagt die Tante. "Tausendfüssler sind doch nicht so rund!" Jetzt zeichnet sie einen Tausendfüssler.

Ungefähr so (naja, nicht ganz so schön):

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(Quelle: www.prepolino.ch)

Aber mit fast so vielen Beinen. "Hast Du schon mal so einen gesehen?" fragt die Tante.

"In Zürich gibt es so einen", sagt Carina. In Zürich hat sie früher gewohnt. Jetzt nicht mehr. Aber in Zürich gibt es alles. Auch Tausendfüssler.
Carina zeichnet dann auch einen Tausendfüssler. Und weil er vorne so gross gerät, zeichnet sie ihm auch noch ein Gesicht.
"Das sind die Augen. Und das ist der Mund. Und hier hat er einen riesigen Nasenböögg*!" sagt sie vergnügt.

"Einen Nasenböögg?! Nein, nein!" ruft die Tante empört, "Tausendfüssler haben nie Nasenbööggen! Und wenn sie doch einmal einen haben, dann kommt Mama Tausendfüssler und gramselt ihnen mit allen tausend Beinen im Gesicht herum. Weisst Du, wie das den kleinen Tausendfüsslern verleidet, wenn ihnen jemand mit tausend Füssen im Gesicht herumgramselt?! Die haben nachher das ganze Leben lang nie mehr einen!"

Dazu kitzelt sie Carina ein bisschen unter der Nase herum. Carina kichert, wischt die Hände der Tante weg und zeichnet ihrem Tausendfüssler gleich noch einen Böögg ins Gesicht.

* Popel

16
Feb
2009

Glücksmoment

Es ist spät abends, am anderen Ende der Stadt. Ich stehe an der Bushaltestelle und warte auf den Bus nach Hause. Gegenüber in einem Wohnblock sehe ich eine hell erleuchtete Wohnung. Ich weiss: Sie gehört alten Freunden. Ich habe die beiden lange nicht gesehen.

Ein Universum von Traurigkeit tut sich über mir auf.

Es ist kalt. Ich stecke die Hände in die Mantelsäcke.

Da ertaste ich in der rechten Tasche jene eine Lindor-Kugel, die mir jemand hineingesteckt hat.

Danke Acqua!

14
Feb
2009

Kinder haben

Gibt es "richtige" Gründe ein Kind zu wollen? Was bedeutet es überhaupt, Mutter, beziehungsweise Eltern, zu sein? Diese Fragen haben neulich auf meinem Blog eine hitzige Debatte ausgelöst. Ein Beitrag dazu hat möglicherweise bisher zu wenig Beachtung gefunden. Ich möchte nicht versäumen, ihn hier noch nachzuverlinken.

Wenn ich übers Kinderkriegen schreiben würde, dann wäre das ja so, wie wenn der Pfarrer über Sex in der Ehe spricht. Der oben verlinkte Beitrag aber bestätigt manche Ansicht, die ich zu dem Thema habe. Und ich finde ihn sehr mutig.

24
Dez
2008

Zweihändiges Christkind

Neulich fragte Veronika ihren Sohn Tim (bald 4): "Du, was wünschst Du Dir eigentlich vom Christkind?"
Tim überlegte nicht lange. "Einen Löwen", sagte er und dann: "Und einen Gepard. Denn weisst Du: Das Christkind hat ja zwei Hände."

Auch Euch wünsche ich ein zweihändiges Christkind. Möge es Euch mit der einen Hand reichlich materielle Güter bringen: Luxuriöse, praktische oder herzige Geschenke in Hülle und Fülle oder wie es Euch beliebt.

Mit der anderen Hand aber möge es Euch Gutes für die Seele bringen: Liebe, Freude, Anerkennung im Beruf, Mut, Glück, inneren oder äusseren Frieden so viel Ihr Euch wünscht.

8
Okt
2008

Gespenstergeschichte

Ich gebe zu, Gespenstergeschichten sind etwas aus der Mode gekommen. Man hält es heutzutage eher mit Krimis und so. Aber neulich habe ich eine gehört, die mir einen kalten Schauer über den Rücken gejagt hat. Sie stammt von einem Bekannten, nennen wir ihn Flim. Ich muss sie jetzt einfach hier kolportieren. Du mögest es mir verzeihen, geschätzter Flim. Schliesslich sind Gespenstergeschichten für die Kolportage gedacht.

Diese hier trug sich in Schönenbuch zu. Für alle Nicht-Kenner von Schönenbuch: Das Dorf nicht weit von Basel ist ein idealer Ort für Gespenster, weil dort rund um den Ort herum die Schweiz einfach aufhört. Weil dahinter elsässisches Niemandsland beginnt, das nur ab und zu von einem Spazierweg durchschnitten wird. Weil dort vor allem im Herbst die ganze Landschaft von unsichtbaren Spinnweben überzogen scheint. Von einem zarten Schleier, der alles an diesen Feldern und Wäldern in einem weisslichen, verschwiegenen, total zauberhaften Licht erscheinen lässt.

Also item: In diesem Schönenbuch gibt es ein Restaurant in einem uralten Haus. Bekannte von Flim, ein Paar hatten es gekauft. Flim arbeitete manchmal dort. Sie hatten alle gehört, dass es dort spukte. Aber eben... Wer glaubt heutzutage noch an Gespenster. Bis... ja bis er, der neue Wirt eines Tages eines der Zimmer im oberen Stock des Hauses betrat - und dort plötzlich den unwiderstehlichen Drang verspürte, sich zu erhängen. Seine Frau konnte ihn gerade noch davon abhalten. Er war sonst kein suizidaler Typus, höchstens etwas verschlossen. Darum hat er auch nie mehr über den Vorfall erzählt. Nur so viel: Später erfuhren die beiden, dass sich in genau jenem Zimmer tatsächlich einmal jemand erhängt haben soll.

Und es kam noch gruseliger. Die beiden übernachteten auch gelegentlich in dem Haus. Eines Nachts, sie war allein dort, erwachte sie, weil ihr Bett geschüttelt wurde. Sie öffnete die Augen und sah einen kleinen Mann, der das Fussende ihres Bettes gepackt hatte und kräftig rüttelte.

"Hey, jetzt hör aber mal auf!" sagte sie.

Da hörte das Männchen auf, setzte sich auf ihren Bettrand und begann zu schimpfen. Ich meine, richtig lästern. Gift und Galle spucken. Über Gott und die Schlechtigkeit der Welt und jeden Chabis*, der ihm gerade einfiel. Wie so ein alter Motzgrind** wie man sie in der Schweiz früher manchmal im Bus traf. Die in allem und jedem Anlass fanden, ihrer Bitterkeit Luft zu verschaffen. Ich weiss nicht, wie lange das so ging. Die Frau im Bett sass jedenfalls mit aufgesperrten Augen da. Irgendwann sagte sie wieder: "Hey, jetzt hör aber auf!"

Da hörte er auf und verschwand. Einfach so.

Ein paar Tage später arbeitete Flim in dem Restaurant. Auch die Wirtin bediente im Lokal. Irgendwann sah Flim, dass sie kreidebleich war. "Was hast Du?" fragte er sie. Da nahm sie ihn beim Ärmel und wies auf einen Tisch in der Ecke. Dort sass ein älteres Paar. Er war klein und redete, ach was, schimpfte sich die Seele aus dem Leib. Schon längere Zeit.

"Das ist der Mann, der kürzlich nachts mein Bett geschüttelt hat", sagte die Wirtin.

* Kohl
** frogg'sche Wortschöpfung für "extremer Nörgler".

17
Sep
2008

Alles halb so schlimm!

"Keine Sorge", sagt Kollege Marlowe Tree , nachdem er gestern Abend eine Viertelstunde lang gebannt auf die Tagesschau mit den Neuigkeiten von der Börse gestarrt und immer wieder "Wahnsinn!... Wahnsinn!" gerufen hat.

Marlowe Tree ist Jurist, Ex-Kripomann und Experte für Steuerfragen. Eigentlich habe ich ihn besucht, um mir bei ihm Ratschläge für meinen Krimi zu holen. Aber nach einer Flasche Wein packt er die erste sich bietende Gelegenheit und kommt endlich auf das Thema zu sprechen, über das er schon den halben Abend lang mit mir reden will: die eklatanten Steuerunterschiede in den verschiedenen Kantonen der Schweiz (mit besonderer Vertiefung der Themen "Steueroasen" und "Steuerflüchtlinge aus Deutschland").

Die Frogg hat sich früher nie für Geld interessiert. Schon gar nicht für Steuern. Steuern zahlt man, basta. Mit der Höhe von Steuern beschäftigen sich nur Biederlinge und Räppliumdreher. Aber in letzter Zeit hat sich einiges geändert. Und mit Tree zu reden, ist besonders spannend. Denn der Mann kann reden. Aus seinem Mund klingen sogar Erörterungen über die unterschiedlichen Steuerpraktiken von Bund und Kantonen wie ein Krimi.

Erst am Ende des Abends kommen wir wieder auf die Wirtschaftskrise zu sprechen. "Und jetzt sag, was Du von der Sache hältst", sage ich, "Müssen wir uns jetzt Sorgen machen, dass wir nächstes Jahr um diese Zeit vor der Suppenküche Schlange stehen? Dass unsere Arbeitsplätze hops und unsere Ersparnisse flöten gehen?"

Marlowe Tree wägt ab, führt ein paar Dafürs und Dawiders aus und kommt dann zum Schluss: "... aber sonst ist das ganz ein normaler Wirtschaftszyklus. Nein, nein! Du wirst sehen: Bis 2013 sind wir wieder oben! Wirklich: keine Sorge!"
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ein bisschen versuch ich es ja, mir alles widrige mit...
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