25
Sep
2013

Im Fitness-Center

Neulich habe ich mir ein Schnupperabo fürs Fitness-Center gekauft. Ich weiss: Das passt nicht zu mir. Ich bin ja eher von der Sport-ist-Mord-Fraktion. Aber ich habe etwas Gewicht zugelegt. Und man wird nicht jünger: Wegen ein paar Zipperlein in den Beinen bringe ich es mit Marschieren nicht mehr so leicht weg.

Also liess ich mich in die Geheimnisse der Beinpresse und anderer Folterinstrumente einweihen.


(www.cardiofitness.de)

Der Coach erklärte mir, weshalb man bei fleissigem Gebrauch der Beinpresse abnimmt: "Man strengt damit die grössten Muskeln im Körper an, vorne, in den Beinen. Die füllen sich nachher wieder auf." Womit? Ich war von der Komplexität des Apparats überfordert und vergass zu fragen.

Erst beim Ausdauertraining am Rudergerät schaute ich mich um. Ich sah Menschen, die ihre Übungen absolvierten. Sie erinnerten mich an Muslime in der Moschee, die sich in regelmässigen Zeitabständen gen Mekka zu Boden werfen. Die Menschen auf ihren Sportgeräten verrichten Rituale ohne Gott. Ohne Sinn? Ich weiss es nicht.

Ich weiss nur: Ich langweilte mich. Auf einem Bildschirm lief EuroSport. Gäääähn! Da erinnerte ich mich an einen Trick, den der Europa-Wanderer Patrick Leigh Fermor auf seinen ödesten Wanderstrecken anwandte: Er sagte sich alles auf, was er auswendig konnte. Das machte ich auch. Das heisst: Das Vaterunser liess ich aus, dafür kann ich einen Psalm und einen halben Hamlet-Monolog. Am besten passte eine lyrische Studie über die Sinnlosigkeit des Amerikaners James Tate namens The Blue Booby.

Die kann ich auch nur bis zur Hälfte. Leigh kam mit dem Aufsagen von Versen durch die ganze Oberrheinische Tiefebene. Ich kam nur bis zur Minute 11.

Ich machte dann doch noch ohne Gedichte weiter bis Minute 15. Auf dem Nachhauseweg sah ich ständig dieses Bild vor meinem geistigen Auge:



Jetzt ahne ich, womit sich die Muskeln in meinen Beinen auffüllen wollten: mit Streuselkuchen.

18
Sep
2013

N wie Nordpol

Wenn ich von meinen Gehörproblemen erzähle, dann sagen hie und da Leute zu mir: "Willst Du nicht Gebärdensprache lernen?" Sie denken: Hördbehindert... Gebärdensprache... na, passt doch! Nun ja, man darf den Leuten solche gedankliche Kurzsichtigkeit nicht übel nehmen. Sie meinen es ja gut.

Aber es ist eben so: Wenn ich von Klein auf schwerhörig gewesen wäre, ja, dann würde mir die Gebärdensprache etwas nützen. Dann wäre ich in eine Schule für Menschen mit Hörbehinderung gegangen - und ich hätte ich viele Freunde, die auch gebärden. Bin ich aber nicht. Ich bin 48, habe erst seit ein paar Jahren Gehörprobleme und ganz wenige hörbehinderte Bekannte. Keiner von ihnen gebärdet.

Kurz: Wenn ich für den Alltag auf die Gebärdensprache angwiesen wäre, dann wäre ich so einsam wie auf dem Nordpol.

A propos Nordpol: Ähnlich wohlmeinende Ratschläge bekam ich kürzlich aus dezibel, der "Zeitschrift für Hören und Erleben". Ich muss hier vorausschicken: Ich bin dankbar, dass es dieses Magazin gibt. Es hat mir gewiss schon das Leben gerettet. Es zeigt mir immer wieder mit guten Porträts, dass ich nicht allein bin. Und es greift Themen auf, die uns Schlappohren* unmittelbar betreffen.

Vom Artikel über "Hörbehinderte Menschen am Telefon" (3/2013) war ich aber enttäuscht. Zunächst jedenfalls. Denn da steht zum Beispiel als Tipp: "Den Hörer so ans Ohr halten, dass die Verständlichkeit am besten ist." Also, Freunde, das habe ich nun wirklich selber schon gemerkt!

Ferner stand da: "Buchstabieren kann sich als sehr hilfreiche Unterstützung erweisen, insbesondere bei unbekannten ... Ausdrücken. Es empfiehlt sich, das Telefon-Alphabet zu verwenden." Ihr wisst schon: A wie Anton, N wie Nordpol (wobei es in der Schweiz 'N wie Niklaus' heisst, aber einerlei) und Z wie Zeppelin.

"Wozu soll das denn gut sein?!" fragte ich mich. "Die anderen müssen doch für mich buchstabieren, wenn ich nicht gut höre. Nicht ich für sie!" Ich stiess einen Schlappohren-Seufzer aus, diesen tiefen Seufzer des Nichtverstandenwerdens.

Aber ich wurde eines Besseren belehrt: Gestern hörte ich zwar ganz gut. Aber ich hatte ein Telefon von einem Kunden mit einem Sprachfehler. Er hiess Pfesch. Oder Zesch? Ganz sicher war ich mir nicht.

Sie meinen "P wie Paula und F wie Friedrich?" fragte ich höflich nach. Tatsächlich: Es klappte!

* Mit dem Begriff "Schlappohren" bezeichnen sich hier in Luzern einige Menschen mit Hörbehinderung. Wenn wir das selber tun, ist das natürlich ok und politisch korrekt!

14
Sep
2013

Daheim geblieben

Als sie näher kam, sah ich: Es war Iri, also, Irene. Sie sah noch genau gleich aus wie vor 30 Jahren, als wir zusammen zur Schule gingen. Fröhlich. Nur ein paar kaum sichtbare Lachfältchen verrieten, dass sie auch so Mitte vierzig ist.

Sie ist hiergeblieben, wohnt nur 200 Meter und einen Bach entfernt vom Haus ihrer Eltern, vom Haus meiner Eltern. Sie hat zwei Kinder, 12 und 16. Sie ist Lehrerin geworden, wie viele hier. Sie sieht glücklich aus.

Während wir plaudern, studiere ich ihr Gesicht wie ich früher das Gesicht eines Interviewpartners mit verblüffenden Ideen studiert hätte. Ich suche nach Zeichen. Zeichen, die mir erklären, warum sie geblieben ist.

Klar, es ist schön hier. Perfekt. Aber hat sie keinen Hunger auf die Welt da draussen gehabt? Hat sie keinen Durst danach gehabt, sich selber zu erfinden?

Früher hätte ich sie ein bisschen dafür verachtet, dass sie nicht weggegangen ist. Ich ging, so früh ich konnte. Und an jenem stillen Septembertag daheim begriff ich, dass mich nicht nur der Hunger getrieben hat. Getrieben hat mich auch die schiere Perfektion dieser Gegend an einem stillen Septembertag. Es hätte mich zu viel Kraft gekostet, diese Perfektion zu wahren. Ich floh. Ich musste mich selber erfinden. Immer ein bisschen hungrig. Immer ein bisschen wild. Manchmal verzweifelt.

Leben heisst Risiken eingehen, mit Unerwartetem zurechtkommen müssen. Ich bin nicht uneingeschränkt stolz auf den Ort, an dem ich mich heute befinde. Aber ich bin stolz darauf, dass ich - bis jetzt - einen Weg gefunden habe.

Heute verachte ich Iri nicht. Im Gegenteil: Ich empfinde Respekt dafür, dass sie die Kraft aufgebracht hat, zu bleiben. Ich frage mich, wo sie sie hergenommen hat.

11
Sep
2013

Daheim

Beim Kompost treffe ich Franz-Xaver. Wenn ich Franz Xaver überhaupt je treffe, dann beim Kompost. Er ist Chef der Kompost-Gruppe im Quartier meiner Eltern. "Wie geht es?" frage ich.

"Besser", sagt er mit Grabesstimme. Erst jetzt fällt mir ein, dass das eine verfängliche Frage ist. Letzte Woche fuhr mein Vater Franz-Xaver in die Notaufnahme - ein Altersgebrechen war ausser Kontrolle geraten, Blut floss reichlich. Ich drücke mein Mitgefühl aus. Ich bin mit Franz-Xavers Sohn durch diese Gegend gestreift, als sie noch eine Baustelle war. Franz-Xaver steht da und zittert. Der Alterstremor.

Es ist ein leuchtender Tag. Alles ist blau und golden. Die Zeit scheint stillzustehen, alles scheint stillzustehen.

Ich gehe weiter zum Haus meiner Eltern. Aus der Tür nebenan kommt Schorsch. "Wie geht es?" frage ich.

"Na, Du weisst wohl, was mit Hilde los ist", sagt er. Ja, ich weiss es. Hilde ist seine Frau, und sie weiss seit einem Monat, dass sie Krebs hat. "Also, Hilde ist seit gestern wieder im Spital. Wieder ein Absturz. Von der Chemo." Schorsch ist immer eine Autoritätsperson gewesen, ein Turm von einem Mann, stark, laut, integer. Und wie mein Vater schien er nie zu altern - ein Mittvierziger, seit ich mich erinnern kann. Jetzt ist er gealtert, um Jahrzehnte, scheint mir.

Ich gehe ins Haus meiner Eltern. Sie sind in den Ferien. Das Haus ist still und aufgeräumt.

Die Schriststellerin Zsuzsanne Gahse ist einmal hier in der Gegend gewesen. 1996 schrieb sie über ein Quartier hier: "Unterhalb der Weiden beginnen die Häuser, neue Häuser, die gerade angefangen haben, Häuser zu sein, und da gibt es Vorplätze, Gärten, Kinder, für die Kinder gibt es Fahrräder, Schlitten, Rutschen, Sandkästen, in den Gärten stehen die jungen Eltern. Sie werden an diesem Südhang wohnen bleiben, sie beginnen damit, ich kann ein Lineal nehmen und fünfzig Zentimeter für die nächsten fünfzig Jahre abstecken, in dieser Zeit werden die Eltern alt geworden sein, jetzt fangen sie ihr Leben an am Südhang. Ich weiss nicht, ob sie anfangen oder abschliessen."*

Hier bin ich aufgewachsen.

Ich erledige, was ich erledigen muss. Dann mache ich mich auf den Weg nach Hause. Nach ein paar Schritten kommt mir Iri entgegen, also Irene. Mit ihr bin ich zur Schule gegangen. Das heisst: Im Gegenlicht bin ich gar nicht sicher, ob es wirklich Irene ist, oder vielleicht ihre Tochter. Sie sieht genauso aus wie Iri vor 30 Jahren.


*Aus dem Kellnerroman.

8
Sep
2013

Merkwürdige Sitten

Kürzlich lud meine tamilische Nachbarin Mahika Herrn T. und mich zu einem Tandoori Chicken ein. Was für ein Fest, nur schon für die Augen! Der ganze Tisch war voll von kleinen Schüsseln mit Gemüse: Karotten und Fenchel in Kokosmilch, Kohlgemüse, Spinat mit einem Hauch Kreuzkümmel, dazu Reis - und dann das Hühnchen! Ein Gedicht!

Natürlich gab ich am nächsten Tag bei drei Kollegen damit an. Ich erwähnte dummerweise auch, dass das Dessert nicht ganz mein Fall gewesen war: frittierte Teigbällchen mit einer Frischkäsefüllug - Zigerkugeln nicht unähnlich, aber mit reichlich Zuckersirup übergossen. Für den westlichen Gaumen eine Spur zu süss, eine Spur zu nahrhaft.

"Na, dann hättest Du es doch nicht essen müssen!" sagten die drei, zwei von ihnen Mamas Küche kaum entwachsen, alle drei sportliche, schmale Würfe. "Niemand muss eine Nachspeise essen, wenn er keine Lust drauf hat!" Das fanden die drei ganz selbstverständlich.

Ich war sprachlos. Ist da in den Nullerjahren ein neues Kapitel Knigge an mir vorbei gegangen? Nie würde ich bei einem Gastmahl einen Gang ausschlagen! Erst recht nicht, wenn ich sehen kann, dass die Köchin mindestens drei Stunden in der Küche verbracht hat, um ein festliches Essen herbeizuzaubern!

Die spinnen, diese jungen Männer!
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