11
Sep
2013

Daheim

Beim Kompost treffe ich Franz-Xaver. Wenn ich Franz Xaver überhaupt je treffe, dann beim Kompost. Er ist Chef der Kompost-Gruppe im Quartier meiner Eltern. "Wie geht es?" frage ich.

"Besser", sagt er mit Grabesstimme. Erst jetzt fällt mir ein, dass das eine verfängliche Frage ist. Letzte Woche fuhr mein Vater Franz-Xaver in die Notaufnahme - ein Altersgebrechen war ausser Kontrolle geraten, Blut floss reichlich. Ich drücke mein Mitgefühl aus. Ich bin mit Franz-Xavers Sohn durch diese Gegend gestreift, als sie noch eine Baustelle war. Franz-Xaver steht da und zittert. Der Alterstremor.

Es ist ein leuchtender Tag. Alles ist blau und golden. Die Zeit scheint stillzustehen, alles scheint stillzustehen.

Ich gehe weiter zum Haus meiner Eltern. Aus der Tür nebenan kommt Schorsch. "Wie geht es?" frage ich.

"Na, Du weisst wohl, was mit Hilde los ist", sagt er. Ja, ich weiss es. Hilde ist seine Frau, und sie weiss seit einem Monat, dass sie Krebs hat. "Also, Hilde ist seit gestern wieder im Spital. Wieder ein Absturz. Von der Chemo." Schorsch ist immer eine Autoritätsperson gewesen, ein Turm von einem Mann, stark, laut, integer. Und wie mein Vater schien er nie zu altern - ein Mittvierziger, seit ich mich erinnern kann. Jetzt ist er gealtert, um Jahrzehnte, scheint mir.

Ich gehe ins Haus meiner Eltern. Sie sind in den Ferien. Das Haus ist still und aufgeräumt.

Die Schriststellerin Zsuzsanne Gahse ist einmal hier in der Gegend gewesen. 1996 schrieb sie über ein Quartier hier: "Unterhalb der Weiden beginnen die Häuser, neue Häuser, die gerade angefangen haben, Häuser zu sein, und da gibt es Vorplätze, Gärten, Kinder, für die Kinder gibt es Fahrräder, Schlitten, Rutschen, Sandkästen, in den Gärten stehen die jungen Eltern. Sie werden an diesem Südhang wohnen bleiben, sie beginnen damit, ich kann ein Lineal nehmen und fünfzig Zentimeter für die nächsten fünfzig Jahre abstecken, in dieser Zeit werden die Eltern alt geworden sein, jetzt fangen sie ihr Leben an am Südhang. Ich weiss nicht, ob sie anfangen oder abschliessen."*

Hier bin ich aufgewachsen.

Ich erledige, was ich erledigen muss. Dann mache ich mich auf den Weg nach Hause. Nach ein paar Schritten kommt mir Iri entgegen, also Irene. Mit ihr bin ich zur Schule gegangen. Das heisst: Im Gegenlicht bin ich gar nicht sicher, ob es wirklich Irene ist, oder vielleicht ihre Tochter. Sie sieht genauso aus wie Iri vor 30 Jahren.


*Aus dem Kellnerroman.
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