18
Sep
2013

N wie Nordpol

Wenn ich von meinen Gehörproblemen erzähle, dann sagen hie und da Leute zu mir: "Willst Du nicht Gebärdensprache lernen?" Sie denken: Hördbehindert... Gebärdensprache... na, passt doch! Nun ja, man darf den Leuten solche gedankliche Kurzsichtigkeit nicht übel nehmen. Sie meinen es ja gut.

Aber es ist eben so: Wenn ich von Klein auf schwerhörig gewesen wäre, ja, dann würde mir die Gebärdensprache etwas nützen. Dann wäre ich in eine Schule für Menschen mit Hörbehinderung gegangen - und ich hätte ich viele Freunde, die auch gebärden. Bin ich aber nicht. Ich bin 48, habe erst seit ein paar Jahren Gehörprobleme und ganz wenige hörbehinderte Bekannte. Keiner von ihnen gebärdet.

Kurz: Wenn ich für den Alltag auf die Gebärdensprache angwiesen wäre, dann wäre ich so einsam wie auf dem Nordpol.

A propos Nordpol: Ähnlich wohlmeinende Ratschläge bekam ich kürzlich aus dezibel, der "Zeitschrift für Hören und Erleben". Ich muss hier vorausschicken: Ich bin dankbar, dass es dieses Magazin gibt. Es hat mir gewiss schon das Leben gerettet. Es zeigt mir immer wieder mit guten Porträts, dass ich nicht allein bin. Und es greift Themen auf, die uns Schlappohren* unmittelbar betreffen.

Vom Artikel über "Hörbehinderte Menschen am Telefon" (3/2013) war ich aber enttäuscht. Zunächst jedenfalls. Denn da steht zum Beispiel als Tipp: "Den Hörer so ans Ohr halten, dass die Verständlichkeit am besten ist." Also, Freunde, das habe ich nun wirklich selber schon gemerkt!

Ferner stand da: "Buchstabieren kann sich als sehr hilfreiche Unterstützung erweisen, insbesondere bei unbekannten ... Ausdrücken. Es empfiehlt sich, das Telefon-Alphabet zu verwenden." Ihr wisst schon: A wie Anton, N wie Nordpol (wobei es in der Schweiz 'N wie Niklaus' heisst, aber einerlei) und Z wie Zeppelin.

"Wozu soll das denn gut sein?!" fragte ich mich. "Die anderen müssen doch für mich buchstabieren, wenn ich nicht gut höre. Nicht ich für sie!" Ich stiess einen Schlappohren-Seufzer aus, diesen tiefen Seufzer des Nichtverstandenwerdens.

Aber ich wurde eines Besseren belehrt: Gestern hörte ich zwar ganz gut. Aber ich hatte ein Telefon von einem Kunden mit einem Sprachfehler. Er hiess Pfesch. Oder Zesch? Ganz sicher war ich mir nicht.

Sie meinen "P wie Paula und F wie Friedrich?" fragte ich höflich nach. Tatsächlich: Es klappte!

* Mit dem Begriff "Schlappohren" bezeichnen sich hier in Luzern einige Menschen mit Hörbehinderung. Wenn wir das selber tun, ist das natürlich ok und politisch korrekt!

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steppenhund - 19. Sep, 08:02

Ich verstehe schon, dass es nichts bringt, wenn man selber Gebärden benutzt, aber die, von denen man etwas hören will, sie nicht können. Da wäre der Nutzeffekt gleich null.
Trotzdem würde ich in der gleichen Situation auf alle Fälle die Gebärdensprache erlernen, weil es die Möglichkeit gibt, mit Leuten mit dem komplementären Handicap Kontakt aufzunehmen.
-
Im Übrigen müsste eigentlich ein Smartphone reichen. Dieses stellt man auf Spracheingabe und liest dann den Text ab. Die Dinger funktionieren zwar nicht bei jedem Wort, aber sie werden von Generation zu Generation besser. In 5 Jahren müsste das ein perfekter Ohrersatz für gesprochenen Text sein.
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Musik fällt dann leider flach. Außer man komponiert wie Beethoven und hört alles innerlich ohne es hören zu müssen.

diefrogg - 19. Sep, 21:51

Der Tipp mit dem...

Smartphone ist gut. Man müsste allerdings abklären, ob so ein Ding auch Schweizerdeutsch versteht ;)

Und, nein: Vorläufig werde ich eben nicht Gebärdensprache lernen, nur weil das Hörende für gut und richtig halten. Es gibt wahrlich Dringenderes. Ich pflege durchaus Kontakte mit einigen Menschen, die ebenfalls Gehörprobleme haben - und das ist mir sehr wichtig. Wenn ichs mir genau überlege, dann kann einer von ihnen wahrscheinlich sogar gebärden. Er hat aber ein Cochlea-Implantat. Es reicht, wenn wir einander anschauen beim Sprechen. Die anderen sind, wie ich, später im Leben schlappohrig geworden. Wir verständigen uns, indem wir einander schreiben - eine gute Freundin von mir kann ausgezeichnet Lippen lesen - sie ist diesbezüglich Autodidaktin. Oder wir suchen uns Orte zum Sprechen, wo wir einander verstehen.

Wären wir in den USA, so sähe es vielleicht etwas anders aus. Ich habe mir sagen lassen, dass dort viele Behördenmitarbeiter Gebärdensprache können müssen.
Schlappohr - 22. Sep, 00:00

jaja, telefonieren ist für uns Schlappohren* ein Fluch! Nie weiss man, ob ein Telefonat zum Desaster wird. Selber benutze ich ja gewisse technische Gimmicks um mit meinen Hörgeräten zu telefonieren. Das Micro dazu befindet sich dann unter dem Hemd. Meine Frau beklagt sich dann, dass meine Stimme "komisch" klinge, so als stünde ich utner der Dusche. Dann denke ich manchmal für mich: aber hallo, hauptsache ICH verstehe mit dem Teil (fast) alles klar und deutlich.


*ich darf das: Luzerner & audiologisch handicapiert. Wobei, handycapiert wäre bei dem Thema passender.

diefrogg - 22. Sep, 19:13

Willkommen,

Herr Lukullus (ich vermute, dass Du das bist und möchte uns hier ja nicht auf die Schlappohrigkeit beschränken, nicht wahr...) :)) Freut mich sehr, Dich hier zu begrüssen!

Um technische Hilfen werde ich mich früher oder später wohl auch kümmern. Im Moment schwankt aber mein Gehör so stark, dass es schwierig ist, überhaupt etwas anzupassen. Ich bin ja früher eine Telefon-Plaudertasche gewesen. Zurzeit meide ich das Telefonieren einfach, wenn ich eine schlechte Phase habe.

Und "handycapiert": ein sehr träfes Wortspiel! Die Erfindung des Handys und seine stete Verflachung und Verkürzung hat das Telefonieren für uns Schlappohren ja nicht unbedingt vereinfacht!
steppenhund - 22. Sep, 09:37

Als ich mit 16 Jahren als Austauschschüler in den USA war, fühlte ich mich ebenfalls durch das Telefon behindert. Ich konnte zwar bereits ausreichend Englisch, um mich im direkten Gespräch zu unterhalten. Wenn es aber um ein Telefonat ging, verstand ich nur ein Viertel. Nicht das Gesicht des anderen und seine Mundbewegungen sehen können, behinderte mich sehr stark.
Ein ähnliches Phänomen erlebe ich zur Zeit in Belgrad. Wenn ich ein Taxi bestelle, wird immer die Nummer des Taxis von der Telefonistin mitgeteilt. Diese Zahlen verstehe ich nie, obwohl Zahlen das Erste sind, was ich in jeder Sprache lerne. Allerdings wurde mir bestätigt, dass die Serben selbst nicht die Telefonistin verstehen. Es ist eine Frage des Tempos.
Das scheinen jetzt wirkliche Kleinigkeiten im Vergleich zur geschilderten Situation zu sein. Aber den Effekt, etwas nicht verstehen zu können, obwohl man es eigentlich verstehen sollte, kenne ich.

diefrogg - 22. Sep, 19:19

Ja, die Situation...

ist tatsächlich bis zu einem gewissen Grad vergleichbar. Ich habe ja mit 20 in einem Heim in England gearbeitet. Mit der Zeit konnte ich ziemlich gut Englisch, verstand auch Cockney und unsere beiden Schotten. Aber mein persönliches Horror-Szenario war immer, dass ich 999 anrufen müsste (die Notrufnummer für Unfälle und Feuersbrünste). Das hätte mich echt überfordert.

Bei der Schwerhörigkeit kommt halt dazu, dass man die eigene Muttersprache nicht mehr versteht. Das rührt - sicher in den ersten Jahren - immer an den eigenen Schmerz und bewirkt zumindest bei mir, dass ich mich fühle wie der letzte Depp.
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