6
Feb
2011

Diese ohnmächtige Wut

Alle paar Wochen treibt mir das Schicksal eine Frau über den Weg, die mich jedes Mal die Wände hochjagt. Ich erzähle nicht, was ich in meiner Phantasie nach unserem letzten Treffen mit ihr machte. Nur so viel: Marquis de Sade hätte sein Vergnügen daran.

Eine leichte Behinderung hat sie schon vor vielen Jahren zu einer Aussenseiterin in ihrem hinterwäldlerischen Milieu gemacht. Sie ist schlau, aber selber hinterwäldlerisch, boshaft und voller Hass. Sie erwartet mit jeder Faser ihres Körpers, dass man sie stets verarscht, enttäuscht, verstösst. Sie will sich rächen, quälen, demütigen. Man kann ihr keine Freude machen. Man kann sie nicht einmal zufrieden stellen. Alles was sie sagt ist getränkt von einem zerstörerischen Gift. Es macht jede Freundlichkeit zu einem notdürftig kaschierten Verrat. Es erstickt jedes Vertrauen im Keim und durchtränkt jede Zusammenarbeit mit Missgunst.

Ich kann ihr nicht ausweichen, aber meine Wut auf sie übersteigt das Mass des Gewöhnlichen. Sie ist eine einsame, bittere Frau und im Grunde nicht mein Problem. Doch da ist etwas in mir, was sie hassen will. Wo die Quelle dieser ohnmächtigen Wut liegt, will ich lieber gar nicht wissen.

3
Feb
2011

Im nebligen Land dazwischen

"Wenn man dabei ist, sein Gehör zu verlieren, ist man weder eine hörende noch eine taube Person. Für Hörgeschädigte gibt es den nebligen Ort dazwischen. Es erreichen uns Geräusche, die wir nicht bestimmen können. Wir merken vielleicht, dass jemand spricht, ... aber wir sind nicht in der Lage, mehr als hier und da ein Wort zu entziffern. Wir sind uns oft auch nicht sicher, aus welcher Richtung das Geräusch kommt, das wir fühlen."

Das schreibt Hannah Merker in diesem Buch*:

Die Idee vom nebligen Ort dazwischen scheint Menschen anzusprechen, die noch nie Gehörprobleme gehabt haben. Meine Freundin Ella, von der ich mir das Buch geliehen habe, hat den Absatz jedenfalls mit einem Ausrufezeichen versehen. Auch in Besprechungen des Werkes habe ich ihn schon erwähnt gesehen.

Mich irritieren diese Sätze. Es ist was dran, aber das genügt mir nicht. Vielleicht liegt es daran, dass ich schon so unzählige, lange Ausflüge ins Land dazwischen gemacht habe. Inzwischen nenne ich es das Menière-Land, nach der Krankheit, die ich habe. Ich habe schon so viel Zeit im Meniere-Land verbracht, dass man mich bestimmt inzischen automatisch eingebürgert hat. Zurzeit glaube ich zwar, im Land der Hörenden, der Gesunden zu leben. Aber zu meiner Rechten sehe ich immer den Grenzfluss - und manchmal bin ich fast überzeugt, dass ich gerade in einer Gegend bin, wo die Grenze links vom Fluss und von mir verläuft.

Es lebt sich im Meniere-Land nicht wie in einem heiteren, westlichen Land. Es gibt dort eine Art Schreckensstarre, die nicht nur mit dem Verlust des Gehörs zu tun hat - sondern auch mit dem, wozu er mich gemacht hat. Meine Reisen ins Meniere-Land haben alle Entscheide beeinflusst, die ich in den letzten Jahren getroffen habe: Dass ich keine Kinder habe. Dass ich dieses oder jenes berufliche Projekt nicht verwirklicht habe.

Aber ich will nicht klagen. Das Land dazwischen hat auch seine Kompensationen: das Glück unerwarteter Freundschaften; die Freiheit von Ambitionen; die Freude darüber, ein paar Stunden, Tage oder Monate in die Welt der Normalen zurückkehren zu dürfen.

Doch je tiefer man hineingeht, desto bizarrer werden die Schrecken, die es bereithält.

Ich möchte gar nicht wissen, wie das Land dahinter, das Land der Taubheit, aussieht.



*Hannah Merker: Eine Frau erkundet ihre verstummende Welt"; Hamburg, Ingrid Klein Verlag, ISBN 3-89521-027-7, S. 26.

1
Feb
2011

Frau Frogg und das Frauenstimmrecht

Klein Moni war sechs, als die Familie eines Tages nach der Sonntagsmesse einen Umweg machte. Es war 1971. Der Umweg führte zu einem Haus, das sonst nie jemand beachtete. An jenem Tag aber stand seine Tür offen und Leute gingen aus und ein. Auch Papa ging hinein. Mama blieb mit uns draussen. "Wo geht Papa hin?" fragte der kleine Bruder Andreas.

"Papa geht stemmen", sagte Mama. Natürlich meinte sie "stimmen", vielmehr "abstimmen". Aber das begriff Moni erst einige Zeit später. In unserem Dialekt ist ein kurzes "e" sehr ähnlich wie ein offenes "i".

Moni wusste schon, was "stemmen" war: eine Tätigkeit von Würde, eines dieser geheimnisvollen Rituale der Erwachsenen. Im Jahr zuvor hatte Mama es ihr erklärt, als Papa im Haus drin war. "Weisst Du, da gibt es ein paar Leute in der Schweiz. Die wollen, dass viele Ausländer das Land verlassen. Das heisst dann, dass Crispin vielleicht wieder zurück nach Portugal muss." Crispin war ein Kindergarten-Kamerad von mir, ein Einwandererkind. "Aber", sagte Mama, "in Portugal hat Crispins Papa ja keine Arbeit. Da wäre es doch eigentlich nicht in Ordnung, wenn er wieder zurück müsste, oder?" Ich gebe zu: Mutter Frogg's Art, uns zu die Politik beizubringen, war nicht ganz wertfrei. "Also, jedenfalls gehen jetzt alle Schweizer Männer deswegen stemmen. Das heisst: Sie dürfen auf einen Zettel schreiben, ob die Ausländer wieder aus der Schweiz weg müssen oder nicht." Dass Papa damals über die so genannte Überfremdungs-Initiative von James Schwarzenbach abstimmte, habe ich erst später gelernt.

Aber diesmal, in meinem sechsten Jahr, ging es um etwas anderes. Mama erklärte: "Jetzt entscheiden die Männer, ob die Frauen auch stemmen dürfen. Denn bis jetzt durften immer nur die Männer in dieses Haus hinein und einen Zettel ausfüllen. Aber viele finden, die Frauen sollten das auch dürfen. Jetzt schreiben die Männer da drin auf einen Zettel 'Ja' oder 'Nein'. Und wenn mehr als die Hälfte der Männer in der ganzen Schweiz 'Ja' schreibt, dürfen die Frauen auch stemmen."

"Und was schreibt Papa?" fragte Moni.

"Papa schreibt 'Ja"", sagte Mama.

Er war nicht der einzige. Am 7. Februar 1971 führte die Schweiz das Frauenstimmrecht ein - nach unzähligen Anläufen.

52 Jahre nach Deutschland.
41 Jahre nach der Türkei.

Am 7. Februar ist das 40 Jahre her. In diesen Jahren ist Moni Frogg erwachsen und älter geworden. Aber ich erinnere mich an diesen Sonntag. Er hat mich gelehrt:

- Die Direkte Demokratie mag eine gute Staatsform sein. Aber sie ist halt etwas langsam.
- Das Volk hat nicht immer beim ersten Anlauf recht.
- Nicht wegen jeder Veränderung fällt uns der Himmel auf den Kopf.
- Wer Steuern zahlt sollte auch mitbestimmen dürfen. Das ist fair und hat sich bewährt.

30
Jan
2011

Ich hasse Bergspitzen

Der Herr Kulturflaneur hat neuerdings eine Panorama-Obsession. Deshalb wollte er heute auf den Titlis. Ich setzte ihm keinen Widerstand entgegen. Ich hatte mich dieses Jahr erfolgreich gegen Skiferien gesträubt. Ich konnte ihm nicht alles vergällen. Und auf dem Titlis war ich noch nie gewesen. Die Reise würde mir gefallen.

Dachte ich. Doch ich erkannte schon im Zug nach Engelberg, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Frau Frogg, die Gedränge nicht mag, fand alle Waggons gerammelt voll vor. Kein Wunder: In den Niederungen hockt bei uns wieder mal der Hochnebel. Wer konnte, floh in die Berge. Zwar gab es diesmal keine nervötenden Alleinunterhalter im Zug. Die Fahrgäste verbarrikadierten sich still hinter ihren Sonntagszeitungen. Aber eng war es. Eng.

Und doch wurde unsere Reise auf den Titlis ein lehrreicher Ausflug. Ich weiss jetzt: Als der Humanist Petrarca 1336 eine Bergspitze erklomm, verschaffte er sich ein Abenteuer, ein neues Selbstbewusstsein und seiner Zeit wichtige Erkenntnisse. Das hat offensichtlich viele beeindruckt - mit Folgen, ob denen Petrarca die Haare zu Berge stehen würden: Wenn ein Mensch des Jahres 2011 eine Bergspitze erreicht, dann hat er sich bereits Klaustrophobie, eine Erkältung und einen leeren Geldbeutel* verschafft.

Wobei... vielleicht hasse ich gar nicht Bergspitzen, sondern Bergbahnen. Und wer auf den Titlis fährt, lernt gleich drei Bergbahnen kennen. In der ersten, bis Trübsee, war ich ja noch guten Mutes. Beim Umsteigen in die zweite steht man dann lange bei Gedränge an der Kälte und ich bekam kalte Füsse. Aber da hielt mich noch das Staunen über die unglaublichen Wimpern der Skifahrerin neben mir bei der Stange. Herr T. und ich stellten uns später vergnügt vor, wie die junge Schöne mit diesen Borsten ihre Sonnenbrille hochstemmt.

Später steigt man zum zweiten Mal um, in eine spektakuläre Gondel.

Sie ist weltberühmt: Sie dreht sich während der Fahrt um die eigene Achse und gewährt einen spektakulären Rundblick.

Doch als wir auf sie warteten, waren meine Füsse eisig. Ich dachte nicht an spektakuläre Ausblicke. Ich dachte an amputierte Zehen und das Beresina-Lied**.

Bei der Ankunft oben hörte ich ein deutsches Kind mit leidende Stimme seinen Vater fragen: "Können wir jetzt endlich skilaufen? Kommt jetzt keine Gondel mehr?" So ähnlich fühlte ich mich auch. Ich hätte mich gerne ein bisschen bewegt. Ich habe immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich eine Bergspitze erreiche, ohne einen Meter Steigung zu Fuss bewältigt zu haben.

Aber wir waren beide so durchfroren, dass wir erst mal ins Restaurant gingen und - ausgezeichnet - assen.

Erst danach stellte Frau Frogg mit Erleichterung fest, dass man auf dem Titlis auch ein paar Meter zu Fuss gehen kann. Wenn Herr T. gerade nicht fotografierte, spazierten wir also und unterhielten uns angeregt über Panoramen.

Ich muss sagen: Der Ausblick auf dem Titlis ist grandios. Das Dumme ist: Man sieht dort so viele Berggipfel. Und wenn der Kulturflaneur Berggipfel sieht, will er sie erkennen, benennen und mir zeigen. Alle. Einmal unterbrach er sich mitten im Satz und rief: "Schau mal, da drüben, der zerklüftete Gipfel! Das ist das Schärhorn!" Ich reckte den Hals aus dem Kragen, schaute und sah das Schärhorn. Da blies ein Windstoss mir eisige Gischt ins Gesicht und ich dachte: "Die Bedeutung von Bergspitzen wird einfach massiv überschätzt."

Das Merkwürdige ist: Rückblickend finde ich unseren Ausflug schon jetzt richtig grossartig.

* Eine Fahrt von Luzern auf den Titles (Halbtax) kostet 64 Franken.

** Für Nicht-Schweizer und junge Leute: Das Beresina-Lied erinnert an die Schweizer Soldaten, die mit Napoleon nach Russland zogen - und dort in Scharen den Kältetod starben oder Zehen und Finger der Kälte opferten.

28
Jan
2011

Horror-Buch

Als wir im Sommer in London waren, sah ich in der U-Bahn einen Mann mit einem Turban, der in diesem Buch las:

Ich musste ein schmunzeln, denn ich hatte den Roman in meinem Reisegepäck. Es lag seit Monaten bei mir herum. Jetzt wollte ich ihn endlich lesen. Ich wollte etwas mit dem Fremden in der U-Bahn teilen.

Als ich in Deutschland war, las ich es dann wirklich. Falls Ihr es mir nachtun wollt, seid gewarnt: Es ist wahrscheinlich die entsetzlichste Road Novel, die je geschrieben worden ist. Die Story ist schnell erzählt: Ein Mann und sein siebenjähriges Bub sind unterwegs nach Süden. Sie bewegen sich durch eine post-apokalyptische Landschaft. Alles verbrannt. Kein Fisch mehr im Wasser, kein Vogel auf den verkohlten Bäumen. Nichts. Auch kaum noch Menschen. Nur noch ein paar aus nacktem Hunger zu Kannibalen gewordene Menschen-Rudel, vor denen Vater und Sohn ständig auf der Hut sein müssen.

Doch die Sprache des Buchs hat einen unheimlichen, poetischen Sog. Ich las und las. Alles um mich wurde grau wie Asche, Staub biss mich in der Lunge. Ich war froh, wenn meine Freundin Helga mich ab und zu ablenkte.

Ich las das Buch in zwei Tagen.

Als ich die letzten Sätze las, begann ich zu weinen*. Ich muss dazu anmerken, dass ich selten weine beim Lesen. Aber diese paar Sätze zeichneten das berührendste Bild über die Grösse und Schönheit der Natur, das ich je gesehen habe. Über ihre Schönheit, ihre Zerbrechlichkeit und unsere Verantwortung.

Vor ein paar Tagen erwachte ich mitten in der Nacht aus einem furchtbaren Traum: Ich war in die Welt des Buches zurückgekehrt. Ich fragte mich, ob der Mann mit dem Turban auch solche Träume hat.


* Er lautet: "Once there were brook trout in the streams in the mountains. You could see them standing in the amber current where the white edges of their fins wimpled softly in the flow. They smelled of moss in your hand. Polished an muscular and torsional. On their backs were vermiculate patterns that were maps of the world in its becoming. Maps and mazes. Of a thing which could not be put back. Not be made right again. In the deep glens where they lived all things were older than man and they hummed of mystery." (Sorry, das kann ich nicht übersetzen)
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