26
Jan
2011

Wahre Gespenstergeschichte

Mein Grossvater war Bauer. Er war ein ehrgeiziger Mann. Er hatte Ambitionen für seine Kinder und sein Zuchtvieh. Er hatte in seiner Partei etwas zu sagen und war Präsident des örtlichen Käsereivereins und des Elektrizitätswerks Magdisee. Aber er hatte auch eine andere Seite: eine gewisse Affinität für das Übersinnliche - und keinerlei Berührungsängste gegenüber dem Jenseitigen. Mein Grossvater war der Frogg Köbu.

Er hatte einen Freund: den Luchseren Sepp. Eines Tages trafen die beiden eine Abmachung: Derjenige von beiden, der zuerst starb, würde sich beim anderen abmelden. Das heisst: Er würde ein Zeichen geben, dass er gestorben war. Aber der Frogg Köbu war ein vielbeschäftigter Mann. Er vergass die Sache bald.

Ein paar Jahre später sass er eines Nachmittags mit ein paar Kollegen in der Stube bei einem Jass. An der Wand hing ein Kreuz und eine Reproduktion von van Goghs Sämann. Bestimmt floss reichlich Kafi Träsch.

Es dunkelte gerade, als plötzlich das Kruzifix mit einem Knall von der Wand fiel. Die Männer erschraken. Der Köbu stand auf und hängte das Kreuz wieder auf. Er sass noch nicht wieder, als es nochmals zu Boden ging. Er hängte es nochmals auf. "So, jetzt müsste es halten", brummte er. Der Satz war kaum fertig, als es wieder knallte.

Wenig später kam die älteste Tochter des Luchseren Sepp vorbei und brachte die schlimme Nachricht: Der Luchseren Sepp war eben gestorben.

Da wusste mein Grossvater, weshalb das Kreuz gefallen war.

Wer noch mehr solche Geschichten hören will, sollte sich den Film "Arme Seelen" ansehen:



Die Löwenzahnwiese, die man im Trailer sieht, grenzt direkt an den Hof meines Grossvaters.

23
Jan
2011

Sturmgewehr in der Küche

In den neunziger Jahren war ich in Basel Untermieterin bei einem Kumpel namens Nino. Ich übernachtete in seiner Wohnung zwei, drei Nächte die Woche. Damit ich nicht jeden Tag drei Stunden pendeln musste. Nino lebte weit weg und war manchmal am Wochenende da. Ich schlief im Wohnzimmer, er hatte ein Schlafzimmer. Ich sah ihn nie.

Das Haus lag in einer heruntergekommenen Gegend. Es wartete sterbensmüde auf den Abbruchhammer. Dieser konnte wegen der geplanten, neuen Schnellstrasse jeden Tag auffahren. Die Wohnungen waren billig und schlecht unterhalten. Ninos Absteige dämmerte wie eine verwahrloste Alte dem Ende entgegen. Zum Gefühl allgemeiner Verkommenheit trug bei, dass Nino sein Sturmgewehr* gut sichtbar in der Küche aufbewahrte.

Mich störte das nicht sehr. Als Journalistin teile ich mit vielen meiner Berufskollegen ein bemerkenswertes Desinteresse an Fragen der Innendekoration. Anders meine Freundin, die Stauffacherin. Sie ist Bildhauerin und puncto Raumgestaltung eine Autorität - ästhetisch wie moralisch. "Ich besuche Dich nicht mehr, wenn diese Knarre weiter in Deiner Küche rumsteht", sagte sie.

Also schrieb ich Nino einen Zettel: "Lieber Nino, Könntest Du bitte Dein Sturmgewehr aus der Küche nehmen? Es stört meine Gäste. Herzliche Grüsse und ein schönes Wochenende, Frau Frogg".

Das Gewehr verschwand, und ich vergass es sofort.

Wochen später kam mein Freund English zu Besuch. Er schlief im Bett von Nino im anderen Zimmer.

Am Morgen kam er in die Küche, in seinen Augen eine Mischung aus Schrecken und Faszination. Er sagte: "There's a gun in my bedroom." Aha. Nino hatte jetzt also sein Sturmgewehr im Schlafzimmer abgestellt.

English fürchtete sich echt ein bisschen. Ich meine: Er war mit Schweizer Gepflogenheiten nicht vertraut und kannte Nino ja nicht. Wie konnte er wissen, ob der Herr dieser verslummten Absteige nicht plötzlich auftauchen und ein bisschen herumballern würde?

Am 13. Februar stimmen wir darüber ab, ob unsere Männer ihre Waffen künftig im Zeughaus deponieren sollen. Ich werde Ja stimmen, ohne deswegen Herzblut zu vergiessen. Ich hatte zum Glück nie einen schiesswütigen oder suizidalen Mann, Freund oder MItbewohner. Ich finde einfach, Sturmgewehre in Privatwohnungen passten schon nicht in die neunziger Jahre. In unsere Zeit passen sie noch viel weniger.



* Für nichtschweizer Leser: Die meisten Schweizer Männer meiner Generation waren auch Soldaten. Damals mussten sie zwischen Einsätzen ihr Gewehr mit nach Hause nehmen. Heute kann mann es im Zeughaus lassen. Die Norm ist aber immer noch, dass mann es nach Hause nimmt.

21
Jan
2011

In der Bahn entjungfert

In letzter Zeit finde ich bahnfahren unerträglich.

- Es ärgert mich, wenn ein 16-jähriges Tusseli meinen Gesprächspartner T. von unserer Konversation ablenkt - weil es seiner Freundin am Handy unbedingt erzählen muss, wer es entjungfert hat. So laut, dass man sich fragt, wieso es überhaupt ein Handy braucht. Man könnte es in China hören.
- Ich kann es nicht ausstehen, wenn ich drei Tusselis zuhören muss, die von Zürich bis Baar ihre Handy-Töne vergleichen - lautes Gefurze inklusiv.
- Mich irritieren samstagnachmittägliche Trinkgelage in Nachbarabteilen.

Und damit jetzt niemand denkt, nur junge Leute würden mich ärgern:

- Ich mag es auch nicht, wenn ältere Herren einen ganzen Bahnwagen über die Schwächen des SBB-Fahrplans zwischen Rapperswil und Winterthur belehren.
- Oder wenn ältere Damen laut über die rasch fortschreitende Multiple Sklerose ihrer jetzt im Pflegeheim wohnenden Ex-Nachbarin lamentieren.
- Und ich will eigentlich nicht dabeisein, wenn der forsche, deutsche Manager im Nebenabteil die Lehrerin seiner Tochter durchs Handy anbrüllt.

Auch früher haben haben solche Gratis-Unterhalter ganze Zugwaggons geärgert. Aber das Handy hat der Verluderung der Sitten enormen Vorschub geleistet. Die meisten Leute wissen, dass ihre Mitpassagiere sie hören. Sie lärmen aus lauter Selbstgefälligkeit. Sie halten sich für interessant.

Mir reichts. Künftig bin ich militant. Ich werde auf jede Bahnfart meinen im Waffenladen erstandenen Peltor-Kopfhörer mitnehmen. Und ihn bei Quassel-Angriff demonstrativ aufsetzen.



Und ansonsten gilt:

19
Jan
2011

Die Frau in Rot

Es war ein Apero mit Dutzenden sympathischen Menschen. Von denen ich leider - ausser dem Geburtstagskind - keinen einzigen kannte. Früher hätte ich in einer solchen Lebenslagen schnell jemanden kennen gelernt. Ich hätte mich gut amüsiert, dem Sekt ordentlich zugesprochen und wäre fast als Letzte nach Hause gegangen.

Und eigentlich habe ich partymässig Nachholbedarf. Im vergangenen Jahr habe ich ja zeitweise wie eine Einsiedlerin gelebt. Aber gestern Abend tat sich in mir plötzlich ein bodenloser Abgrund von Müdigkeit auf. Ich konnte nur noch an die anderthalbstündige Heimreise denken, die Herrn T. und mir bevorstand.

Aber es gibt immer einen Moment, eine Person, die die Party rettet. Diesmal war es die Frau in Rot. War es scharlachrot?



Oder zinnoberrot?



Oder karminrot?



Ja, ich glaube, es war karminrot. Jedenfalls trug sie einen roten Lippenstift, rote Ohrringe und eine rote Jacke. Alles im selben Ton, der wunderbar zu ihrem blassen Teint passte. Und als Kontrast eine grüne Mütze. Eine eigensinnige Aufmachung. Sie war jung und brachte von draussen einen Hauch frische Zürcher Oberländer Luft herein. Der Gastgeber servierte gerade einen Teller Austern. Sie war eine der ersten, die probierten. Ein paar von uns standen neugierig um sie herum. Die meisten von uns hatten noch nie Austern gegessen. Sie löste das Fleisch sorgfältig mit der Gabel, schlürfte die Muschel aus. Dann schüttelte sie sich ausgiebig von oben bis unten.

"Also, man muss einfach fest dran denken, dass Austern ein totales Luxusgut sind", empfahl sie mit verzogenem Gesicht.

Später probierte ich auch eine. Um ehrlich zu sein: Es schmeckte, als habe man die arme Kreatur in einem brackigen Hafen von einem alten Böötliboden gekratzt.

"Na, wie wars?" fragte die Frau in Rot.

"Naja, Venus soll ja aus so einem Ding geboren sein", sagte ich, "Aber ich möchte lieber nicht so genau wissen, wie man das nennt, was sie darin zurückgelassen hat."

Zehn Sekunden lang waren wir Freundinnen.

15
Jan
2011

Liegt ein Flirt drin?

Bevor ich im Herbst 2009 mein Gehör verlor, hörte ich oft diese innere Stimme. "Du lebst über Deine Kräfte", sagte sie. Sie sagte es, als Herr T. und ich wie gehetzte Affen durch Kroatien jagten. Als ich im Büro auf Hochtouren mit einem Kollegen flirtete, obwohl Termine drängten. Als ich an meinem einzigen nicht durch Schichtarbeit besetzten Abend an eine Party ging. Das Verhängnisvolle war: Meine innere Stimme meldete sich immer im unpassendsten Moment.

"Who cares?" antwortete ich ihr dann jeweils. "Wenn ich eh taub werde, dann geniesse ich das Leben jetzt besser noch."

Aber die innere Stimme meldete sich trotzdem und wurde manchmal zur bösen Vorahnung.

Heute frage ich mich oft, wie die Vorahnung mit dem wirklichen Ereignis zusammenhing. War es wirklich eine Vorahnung? Oder hatte ich die Hörstürze mit meinen Vorahnungen gewissermassen heraufbeschworen? Hingen die beiden zusammen wie Ursache und Wirkung? Ich meine: Tim Parks schreibt in diesem Buch:

"Jede Krankheit ist eine Erzählung. Es kommt einzig drauf an, welche Version man sich selber erzählt." (S. 35, Übersetzung von mir).

2010 nahm ich die innere Stimme ernst. Sehr ernst. Ich versuchte, mit so wenig Stress wie irgend möglich zu geben. Um mein Gehör zu behalten. Aber seit Anfang Jahr arbeite ich wieder mehr. Im Moment arbeite ich beruflich an einem Projekt, das mich an ein ganzes Dreiländereck von Grenzen bringt. Wenn sich meine innere Stimme meldet, verspreche ich ihr einen Fernsehabend. Oder ein ruhiges Wochenende. Bis jetzt hat das gereicht.

Und eben denke ich über eine andere Möglichkeit nach. Tim Parks merkt an, dass sowohl D. H. Lawrence, als auch Thomas Bernhard schwer krank waren. "Lawrence ... verneinte seine Krankheit. ... Bernhards Genie bestand darin, es mit der Krankheit aufzunehmen, indem er sie erzählte... Doch beide Männer taten mehr als ein Mensch normalerweise tut, weil sie fürchteten, die Krankheit würde sie davon abhalten, überhaupt etwas zu tun." (35) Ich muss ja nicht unbedingt mehr tun als ein normaler Mensch. Von diesem Ehrgeiz hat meine Krankheit mich geheilt. Aber vielleicht liegt sogar wieder mal ein Flirt drin.

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