10
Jan
2011

Verdächtige Stille

Gestern Abend war mein rechtes Ohr unerwartet still. Merkwürdig. Ich habe mich dran gewöhnt, dass es nach 17 Uhr zu schwächeln beginnt. Es dröhnt, ich spüre das Innenohr wie eine Wattekugel im Kopf und das Gehör lässt ein bisschen nach. Solche Beschwerden gehören zu meiner Krankheit. Manchmal renkt sich das nach dem Abendessen wieder ein. Manchmal auch nicht. Ich habe gelernt, dass ich deswegen nicht jedes Mal einen Nervenzusammenbruch bekommen muss. Aber irritierend ist es schon.

Gestern war das Ohr abends ganz still. Ich hörte normal, alles paletti. Natürlich hätte ich mich darüber freuen können. Ich meine: Alles paletti, das ist doch gut. Besser kann es gar nicht werden.

Ich freute mich auch. Aber nicht nur. Ich war auch ein bisschen beunruhigt. Denn eins haben mir meine Ohren beigebracht: Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.

Ich sollte recht behalten. Zur Schlafenszeit ging das Gedröhn dann so richtig los. Da war ich erst recht verwirrt. Sollte ich jetzt erleichtert sein? Oder doch noch panisch werden?

8
Jan
2011

Quicklebendiger Untoter

Jean-Martin Büttner schrieb über dieses Buch*:

"Keith Richards redet, wie er Gitarre spielt. Immer im Takt, kein Ton zu viel. Unverkennbar, unbeeindruckt, unverwechselbar." Ich halte Büttner für einen der besten Journalisten der Schweiz. Deshalb wunderte ich mich nach den ersten 100 Seiten ein wenig. "Vielleicht hat Büttner doch ein anderes Buch gelesen als ich", dachte ich. Denn den Prolog zu "Life" fand ich überhaupt nicht lakonisch. Richards schildert, wie er mit ein paar Kollegen in einem gottvergessenen Kaff in Arkansas von der Polizei hochgenommen wird - mit einem Auto voller Drogen. Das las sich - mit Verlaub - wie das Geleier eines Junkies. Mir wurde nie ganz klar, was an der Geschichte prologwürdig sein soll.

Dann kommt die Kindheit des späteren Rolling Stones-Gitarristen. Er wuchs als Büezer-Sohn im Nachkriegs-England auf. Das ist zwar nicht gerade langweilig. Und doch schien es mir, als hätte Co-Autor James Fox gelegentlich Mühe, die Story auf der Spur zu halten.

Aber dann bekommt der junge Keith den Stimmbruch. Er wird aus dem Schulchor geschmissen, für den er ein ganzes Schuljahr geopfert hat. Da beschliesst er, Rebell zu werden. Und hier hebt das Buch ab. Plötzlich ist der Rock-Veteran quicklebendig, verdammt eloquent, erzählerisch zielbewusst. Und er hat Humor.

Er hat ein paar intellgente Dinge über das Dasein als Star zu sagen. Souverän haucht er den grossen, alten Legenden der Stones-Geschichte neues Leben ein: den Aufstieg als die bösen Brüder der Beatles, Anita Pallenberg, den Tod von Brian Jones, Altamont, Heroin, alles da. Sogar über Gitarren spricht Keith so simpel und ergreifend, dass auch die - relative - Laiin dabei hellwach bleibt.

Wirklich. Lesenswert. Und hier der grosse Untote der Rockgeschichte in Person - für einmal ohne Gitarre:



*Im "Tagesanzeiger" vom 30. Oktober 2010; S. 37

5
Jan
2011

Im Café Sarajevo

Glaubt mir: Das Café Sarajevo steht nicht in einer einladenden Gegend. An der Strasse gibt es zwar mindestens fünf Gaststätten. Doch an jeder einzelnen hängt an diesem ungastlichen Winter-Nachmittag ein riesiges Schild mit der Aufschrift: "Achtung, nicht betreten! Wahrscheinlich gefährlich!" Oder so fühlt es sich jedenfalls an.

Ich hoffte, das Café Sarajevo wäre geschlossen. Dann hätte ich mein Versprechen nicht halten müssen. Aber das Lokal war geöffnet. Es gab kein Zurück.

Unter Aufbietung meines ganzen Mutes drückte ich auf die Türklinke. Ich betrat ein Lokal aus lauter hellem Holz. Sauber. Freundlich. Wenig Schnickschnack. Einfach eine Cevapcici-Bude. An einem Tisch sass ein einziger Gast reglos wie eine Wachsfigur.

Eine zierliche Frau stand am Tresen. Sie war noch jung. Aber sie sah aus, als hätte das Leben ihr schon allerhand Unannehmlichkeiten zugefügt. Doch als sie mich anlächelte, ahnte ich: Hier würde ich mich vielleicht doch noch wohl fühlen. Es war ein Lächeln wie man es in der Türkei häufig sieht. Ein Lächeln, für das mir nur ein Adjektiv einfällt: leuchtend. Ja, ich glaube, das ist der Unterschied zwischen einem Lächeln im Westen und einem Lächeln im Osten: Im Okzident strahlen die Leute. Im Orient leuchten sie.

Ich wollte nur eine Tasse Tee zum Aufwärmen. Wir radebrechten. Sie konnte nicht gut Deutsch. Sie sah, dass ich unsicher war. Da tat sie etwas, was ein Schweizer in einer Fast Food-Bude nie tun würde: Sie kam hinter dem Tresen hervor, berührte mich einen Moment zart am Arm und zeigte mir den Weg zu einem Tischchen.

Es war direkt beim Fernseher. Dieser Sender lief:

4
Jan
2011

Tag des Selbstmitleids

Es gibt einen Internationalen Tag der Händehygiene (12.Mai). Einen Tag des Europäischen Notrufs 112 (11. Februar). Sogar einen Tag des chronischen Erschöpfungssyndroms (12. Mai). Einen internationalen Tag des Selbstmitleids gibts nicht. Das ist ein Manko, finde ich. Ein gelegentlicher Anfall von Selbstmitleid ist gut für die Psychohygiene und schärft den Blick auf die Realität. Deshalb erkläre ich hiermit den 4. Januar zum internationalen Tag des Selbstmitleids. Ich habe allen Grund dazu, wie dieser Überblick zeigt:

7.30 Uhr: Als ich nach dem Aufstehen meine Nachttischlampe löschen will, knalle ich mit der Birne gegen das Schrägdach. Aua!

7.35 Uhr: Ein Blick auf die Waage bestätigt meine schlimmsten Befürchtungen: Nie, nie wieder werde ich dieses elende Pfund los, das ich über die Feiertage angesetzt habe!

10 Uhr: Heute habe ich schwierige Kunden. Ich muss mich von einer Kuh beleidigen lassen, die etwa einen halb so hohen IQ hat wie ich. Kann man noch tiefer sinken?

10.30 Uhr: Ich brauche Hilfe bei einer Kleinigkeit und gehe zum Kollegen Räucherstäbchen. Einer feiner Mensch, der hier Tag für Tag einen Job ausführt, mit dem er der Weltöffentlichkeit nicht auffällt. Nicht mehr jung. Gefangen in seiner beruflichen Tretmühle. Er greift zur Computer-Tastatur. Seine Hände zittern. Seltsam. Wenig später scheint mir, als steige leichter Träschgeruch aus dem Becher auf seinem Pult. Horror! Ich arbeite in einer Bude, in der Menschen still dem Alkohol anheim fallen! Ich muss hier noch zwanzig Jahre arbeiten. Ich verdiene hier mein Gnadenbrot!

14 Uhr: Man kann noch tiefer sinken. Es gibt Dinge, von denen ich mir geschworen habe, dass sie nie durch meine Hand in eine Zeitung gelangen werden. Eines von ihnen wird morgen die Seite 22 unseres Blatts zieren. Ich habe es dorthin gestellt. Naja, niemand wird deswegen sterben oder unschuldig ins Gefängnis kommen. Aber trotzdem! Ich weiss jetzt: Man kann bodenlos tief sinken.

Der Tag ist zum Glück bald vorbei. Morgen überlege ich mir, ob ich etwas für meinen Kollegen Räucherstäbchen tun kann. Wäre gut, wenn ichs bis am 24. Januar wüsste. Dann ist Welttag der sozialen Kommunikation.

1
Jan
2011

Auf ein zielloses 2011!

Heute Mittag stand ich an einer wichtigen Verzweigung in meinem Leben. Äusserlich war sie nicht besonders spektakulär. Ich stand unten am See. Zu meiner Rechten lag das Gewässer, am Rand von einer dünnen Eisschischt überzogen. Zu meiner Linken der Weg zum Café Sarajevo.

Es zog mich mit aller Macht zum See. Nichts fasziniert mich mehr, als wenn ein See zufriert. Aber geplant hatte ich einen Besuch im Café Sarajevo. Erstens wollte ich das Versprechen an meine Leser einlösen, das Lokal bald zu besuchen. Zweitens hatte ich weiter gehende Pläne: Würde ich dort interessantes Material finden, könnte ich das auch für die geplante Restaurant-Serie unserer Zeitung gebrauchen. Ich muss nämlich wieder mehr arbeiten.

Ich erinnere mich gut an die Zeit, als ich viel arbeitete. Jede meiner Handlungen hatte einen Zweck. Ich arbeitete schon, wenn ich morgens die Zeitung las. Und meine letzten Gedanken abends galten oft dem Büro. Überhaupt: Ich dachte viel. Dachte mit Absicht und Zweck. Es war keine schlechte Zeit. Ich hielt meine Arbeit für wichtig. Sie machte mir oft Spass. Aber rückblickend kann ich mich manchmal des Gedankens nicht erwehren, dass ich damals etwas falsch gemacht habe.

Seit meinen Hörstürzen habe ich das Leben anders kennen gelernt. Ich hatte viel Freizeit. Anfangs fand ich diesen Alltag entsetzlich. Diese langen Abende ohne Aufgabe. Ich fühlte mich wie ein Krüppel, weil ich nicht mehr malochen konnte. Dann begann ich zu spazieren. Häufig streifte ich ziellos durch die Gegend. Liess mich durch irgend einen Reiz in eine unerwartete Richtung locken. Es war gerade die Ziellosigkeit, die mich glücklich machte. Die unerwarten Entdeckungen an unerwarteten Ecken. Die unerwartete Grösse meiner kleinen Welt.

Und jetzt?

Sollte ich meine Route wieder durch Pläne und Ziele bestimmen lassen? Nein, entschied ich. Das kann warten bis morgen. Ich wandte mich dem See zu. Ein Weilchen spazierte ich dem Ufer entlang, besah das schüttere Eis. Bleib stehen. Und kehrte um. Ich konnte nicht anders. Da hatte eine Frau Frogg das Kommando übernommen, die ich kaum noch kannte. Eine Frau Frogg, die ein Ziel will.

Ich ging Richtung Café Sarajevo. Unterwegs diskutierte ich heftig mit dieser mir fremd gewordenen Frau Frogg. Sie machte mir Angst. "Ich will nicht mehr so leben wie früher", sagte ich.

Auf dem Weg in die Vorstadt ging ich ein Stück dem Fluss entlang. Der Wasserpegel war gesunken. Kiesbänke waren aus dem Wasser aufgetaucht. Die Sonne schien. Ich ging hinaus aufs Kies und blinzelte ins Licht. Sammelte flache Steine und schieferte sie hinaus ins Wasser. Ich konnte es nicht mehr, aber das war egal. Bestimmt eine Viertelstunde lang. Ich fand einen hübschen, kleinen Kiesel.

kiesel 001

Ich fand meine Ziellosigkeit wieder.

Ich will sie im kommenden Jahr behalten. So viel davon wie möglich. Euch allen wünsche ich sie auch. Sie hat etwas sehr Befreiendes.

Vom Café Sarajevo erzähle ich Euch ein andermal.
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