4
Mrz
2010

Wir Vorstadtkinder

Als ich neun Jahre alt war, zogen wir in unser nigelnagelneues Vorstadt-Häuschen am Hügel. Es war okkerfarben, eines von 50 Stück derselben Bauart. Wir hatten es uns am Mund abgespart und taten das auch noch ein paar weitere Jahre. Mein Vater war ein kleiner Beamter mit (noch) intakten Aufstiegschancen. Drei oder vier unserer direkten Nachbarn waren anders als wir: Die Eltern waren Oberstufen-Lehrer. Der sicht- und hörbarste Unterschied war, dass auch die Erwachsenen lange Sommerferien hatten. Die verbrachten sie in ihren nigelnagelneuen Vorgärten in einer Geselligkeit, die wir nicht kannten.

Weiter vorne in derselben Siedlung wohnten aber durchaus andere kleine Beamte und ein paar Kleinunternehmer. Die Anwälte, Zahnärzte und Gynäkologen wohnten in einer anderen Siedlung. Dort waren die Häuser türkisfarben und etwas grösser.

Aber alle hatten Kinder im Schulalter, die dasselbe Primarschulhaus besuchten. Deshalb bin ich bestens qualifiziert, hier ein bisschen über die Soziologie von uns Mittelschichtskindern der 70-er Jahre zu dilettieren. Ein Kommentar von Herrn Bräunlein hat mich dazu inspiriert. jueb schreibt: "dass nämlich in ... unserer Generation... alle so gut ausgebildet sind, studiert, verakademisiert, dass da doch ganz dolle exorbitante Karrieren zu erwarten gewesen wären bei dieser unglaublichen Nachkriegs-Klugheit und Bildung, und wenn man sich zu einer solchen daran anknüpfenden Karriere nicht aufschwingt, dann hat man eben versagt - ganz egal ob mal Haarausfall hat, Pickel oder behindert ist. Aber das ist ein Irrtum. Es ist die große Kränkung dieser Generation, dass sie ihre Eltern finanziell nicht einholen können. Trotz Bildung, Eifer und Überstunden."

Erst stimmte ich ihm ja enthusiastisch zu. Aber dann begann ich darüber nachzudenken, was aus meinen Schulgspänli von damals geworden ist. Und ich komme zu anderen Ergebnissen.

Festzuhalten ist:

1) Die Lehrerkinder wurden wieder Lehrer. Dieser Beruf schien ihnen genügend Glücksversprechen zu enthalten. Und wirklich: Sie brachten es zu Wohlstand und etwas grösseren, neuen Häusern am selben Hügel.

2) Mit viel mehr Hunger gingen die Kinder der kleinen Beamten und Kleinunternehmer in die Welt hinaus. Sie folgten ihren Träumen und Idealen. Sie studierten Fächer mit wenig lukrativen Perspektiven. Sie wurden Schauspielerinnen. Sie wanderten aus. Für die meisten zahlte es sich irgendwie aus. Und wenn es das nicht tat, weiss man es gut zu verbergen. Ich kenne keinen einzigen Taxi fahrenden Germanisten. Es gibt im Quartier meiner Eltern ganz wenige missratene Töchter und Söhne. Eine ist psychisch krank, einer hat sich das Leben genommen. Das sind peinliche, beunruhigende Geschichten, über die man ungern spricht.

3) Die Kinder der Anwälte, Zahnärzte und Gynäkologen studierten selber wieder, wenn sie dafür intelligent genug waren. Wenn nicht, wurden sie Banker. Sie verdienen heute sogar mehr als ihre intellektuellen Geschwister und sind allesamt in steuergünstige Nachbarkantone gezogen.

Kann es sein, dass die Situation in Deutschland anders ist als bei uns?

2
Mrz
2010

Grossvater verlobt sich

Er hatte nichts. Nichts als die Gier, mehr vom Leben zu bekommen als die armselige Chrampferei als Knecht. Nichts als die Gewissheit: Er taugte mehr als manch ein anderer. Er war eines von neun Kindern. Geboren 1901, auf einem Bauernhof tief hinten in einem der vielen Täler am Nordhang des Berges. Den Hof bekam sein ältester Bruder. Er bekam Arbeit als Knecht für einen Franken im Tag auf einem Hof im Tal nebenan.

Er war schon 27, als ihm endlich das Glück lachte. Von seinem Arbeitsort aus sah er die Winterweid, einen stattlichen Bauernhof. Der Bauer hatte zwei Töchter. Er lernte die Ältere kennen. Er schrieb ihr Briefe.

Sie war ein schönes Mädchen. 21, herb und herzig zugleich. Meinen Cousinen vererbte sie eine Augenpartie mit einem Zug ins Slawische.

War sie in meinen Grossvater verliebt? Romantisch, gedankenlos, ein kleines Mädchen? Oder schaute sie genau hin? Dachte sie darüber nach, ob er das Zeug hatte, die Winterweid zu führen? Redete sie abends in der Stube mit ihrem Vater über die Zukunft des Hofs? Über die Mitgift für ihre jüngere Schwester?

Ich werde es nie wissen. Sie starb am Tag meiner Geburt, nur 58 Jahre alt.

Eines Morgens im eisigen Winter 1929 zog er los, um mit ihr die Ringe zu tauschen. Wenn ich daran denke ist mir, als sässe mir das Glück und die Kälte jenes Morgens in den Knochen.

Ob er ahnte, wie hart es werden würde?

27
Feb
2010

Pures Glück

Gestern Abend sass ich mit dem Poeten in der Beiz. Nach 20 Uhr füllte sich das Lokal und der Geräuschpegel stieg beträchtlich. Da merkte ich plötzlich: Der Lärm störte mich nicht. Ich brauchte keine wächsernen Freunde, keine Ohropax. Hörte keine Tauchsieder. Ich konnte mich bestens verständigen.

Was für ein Glück!

26
Feb
2010

Song für Herrn T.

Es gibt keinen klaren Siegersong meiner kleinen Umfrage. Das heisst: Es gibt ihn doch, und es ist "Mystery Train" von Elvis Presley. Denn für Fred Buscaglione hat unter anderem Herr T. gestimmt, bei einem Test-Durchlauf. Und das gilt ja nicht, denn Herr T. ist befangen. Schliesslich ist Buscagliones Song der Song von Herrn T. Dennoch schreibe ich hier erst einmal über Buscaglione.



Das hat drei Gründe:

1) Eine abergläubische Furcht hat Frau Frogg gepackt: Sie fürchtet, mit Taubheit geschlagen zu werden, sobald sie die Rubrik "10 Songs" abschliesst. Um das von ihr abzuwenden, werde ich hier vielleicht nie über Elvis schreiben. Sondern über Dutzende andere Songs - ohne die Sammlung je umzutaufen. Well, wir werden sehen...

2) Herr T. zeigte sich etwas gekränkt darüber, dass er in "10 Songs" nicht vorkommt - wo es darin doch Liebesgeschichten à gogo gibt.

3) Der Song hat sich mit seinem lateinischen, etwas ältlichen Schalk einen Platz in meinem Herzen erobert. Er lässt mich auch an meinen geliebten Grossvater Walholz denken.

Und, ja, es ist der Song von Herrn T.

Nun ist es erstaunlich, dass Herr T. überhaupt einen Song hat. Denn er ist im Grunde überhaupt nicht musikalisch. Okay, er mag den Jazztrompeter Peter Schärli (zu Recht). Aber das hat eher berufliche Gründe. Und wenn ich wegen irgendeines alten Songs leuchtende Augen bekomme, ist er jeweils eher peinlich berührt. Aber das stört mich nicht, denn es hat grosse Vorteile: Herr T. wird nie herkommen und behaupten, Bob Dylan sei Gott. Andere Liebhaber der Rockmusik tun das noch mit 50, und das wiederum berührt Frau Frogg jeweils ein wenig peinlich.

Herr T. besitzt nur wenige Platten, die meisten Punk-Scheiben aus den 70-er und 80-er Jahren. Einfach, weil man damals in seiner Szene Häuser besetzte und dabei Punk-Scheiben hörte. Und er besitzt ein paar wenige CDs. Wie diese hier ihren Platz in seiner bescheidenen Sammlung fand, wird mir für ewig ein Rätsel bleiben.



Denn Herr T. ist keiner, dem zu alten Songs immer alte Geschichten einfallen. Und wenn ihm doch eine einfällt, hat er sie mir vielleicht nie erzählt, weil die Platte ihn an eine alte Flamme erinnert oder so. Wer weiss. Jedenfalls war sie da, die CD. Und wir hörten sie auch hie und da, etwa, wenn wir für Gäste kochten oder zum Apero. Obwohl ich zunächst nicht viel mit ihr anzufangen wusste.

Doch sie hat die rätselhafte Angewohnheit, an den überraschendsten Orten aufzutauchen. Zum Beispiel auf der Harddisk meines Computers. Ich habe sie nicht dorthin getan. Und Herr T. behauptet steif und fest, er sei es auch nicht gewesen. Aber von der Harddisk meines Computers hat sich Buscaglione ohne zu fragen auch auf meinen MP3-Player geschlichen. Zusammen mit ein paar Dutzend Fotos, die ich dort nie wollte. Die Fotos habe ich dann gelöscht.

"Il dritto di Chicago" liess ich stehen. Ich muss immer schmunzeln, wenn mein MP3-Player den Song hervorshuffelt.

24
Feb
2010

Song No. 10: Umfrage

Die Vervollständigung meiner Rubrik 10 Songs steht bevor: 9 1/2 Songs sind aufgelistet und damit zu Essentials in der Frogg'schen Musikbiografie erklärt. Nun muss ein würdiger Abschluss her. Aber ich kann mich nicht entscheiden. Ich habe noch mindestens fünf Kandidaten auf der Liste. Also lasse ich Euch Leser auswählen:

1) Elvis: "Mystery Train" (Weil alle grossen Stories über den Rock 'n' Roll mit Elvis anfangen und enden. Auch meine)
width=50%

2) Robert Plant & Allison Krauss: "Killing The Blues" (Über ein stilles Jahrzehnt)

3) van Halen: "Jump" (Weil manche Songs lange Geschichten haben)

4) Massive Attack: "Safe from Harm" (Der Sound der Grossstadt)

5) Fred Buscaglione: "Il dritto di Chicago" (Ein Song für Herrn T.)


Also, versuchen wirs mal: hier ist die Umfrage. Es funktioniert!
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