Ja, ich geb's zu: Ich habe mich in den letzten Wochen dem Selbstmitleid anheim fallen lassen. Bei Frau Nachtschwester habe ich Medizin dagegen gefunden.
Es ist neun Uhr morgens, mitten unter der Woche. Ich sitze da und habe noch ein bisschen Zeit zum Lesen. Ich lese dieses Buch. Es hat seinen Weg jetzt auch zu mir gefunden. Es ist ein sehr berührendes Buch, eine gelungene Kreuzung zwischen Four Weddings and a Funeral und The Love Song of J. Alfred Prufrock und Love Story. Für meinen Jahrgang. Genau für meinen Jahrgang. Oh, wie ich den jungen Dexter und die junge Emma wiedererkenne als Prototypen meines Jahrgangs!
Meine Freundin Helga fällt mir ein. Sie ist in einer ähnlichen Situation wie ich und gar nicht so unglücklich darüber. "Ich meine, überleg mal", hat sie neulich gesagt, "wer ausser uns hat Zeit um neun Uhr morgens ein Buch zu lesen." Sie geniesst das. Ich versuche mich davon zu überzeugen, dass ich es auch geniesse. Es gelingt mir. Beinahe.
Die meisten Mittvierziger haben ja keine Zeit, sich so genannte Lebensfragen zu stellen. Sie haben genug damit zu tun, ihre Kinder durch den Tag zu bringen und ihre Karriere am Laufen zu halten.
Ich habe Zeit, mir Fragen zu stellen. Ich stelle mir die Frage, die sich wohl die meisten Mittvierziger stellen würden, wenn sie Zeit hätten.
Sie lautet: Bin ich glücklich?
Ich muss anmerken, dass mit dieser Frage eine Erwartung verbunden ist: Ich erwarte von mir, glücklich zu sein.
Nicht glücklich zu sein würde ich als die perfideste Form des Scheiterns empfinden.
Eines Tages im Frühjahr 1995 sah Michelangelo diese Schallplatte in meinem Regal:
Er bekam sofort Stielaugen. Michelangelo war ein grosser Kenner der Rockmusik. Er sammelte Vinyl. Er hatte Hunderte Platten. Doch diese Scheibe kannte er noch nicht einmal. Er hielt sie für eine Rarität. Wir hörten sie uns zusammen an. Beim zweiten Song sah ich ihm an: Er wollte sie. Er wollte sie unbedingt.
Ich hätte sie ihm schenken sollen. Denn ich liebte Michelangelo (glaubte ich wenigstens). Aber ich zögerte.
Ich hatte sie Mitte der achtziger Jahre im angesagten Plattenladen unseres Städtchens gekauft. Für eine Rarität hätte ich sie nie gehalten, denn dort standen davon immer ein paar Stück herum. Der Typ im Plattenladen muss sie gemocht haben. Ich sparte mir meine Platten immer vom Geld ab, das mir meine Mutter fürs Mittagessen in der Schule mitgab. Wir Mädchen waren ja damals schon alle essgestört. Aber etwas Kleines musste ich jeweils doch essen. Deshalb war Geld knapp, und ich erwog jeden Kauf sorgfältig. Was mich schliesslich für „English Rose“ einnahm, weiss ich nicht mehr. Doch so schwer ich mich mit dem Kauf der Scheibe getan hatte, so schwer tat ich mich jetzt mit der Trennung davon.
Ich zögerte noch, als Michelangelo mich verliess. Es war das beste, was er tun konnte. Noch besser wäre gewesen, ich hätte ihn verlassen. Wir passten einfach nicht zusammen.
Aber damals sah ich das noch nicht so. Damals brach mir die Sache schier das Herz. Als er mir zwei Monate später irgendeinen saublöden Brief schrieb, rastete ich aus: Er solle mich in Ruhe lassen, schrieb ich zurück. Ich würde mich schon wieder melden, wenn ich die Zeit für gekommen hielte.
Das ist 15 Jahre her. Ich habe ihn seither nicht mehr gesehen. Anfangs ärgerte ihn meine Zurückweisung, das weiss ich von gemeinsamen Bekannten. Später verlor ich die auch aus den Augen.
Ich hörte auch kaum noch Platten.
Aber als Frau Frogg im Winter krank war, verspürte sie das Bedürfnis, offene Rechnungen zu begleichen. „Ich könnte ihm die Platte ja jetzt schenken“, dachte sie. Ohne grossen Kommentar, vielleicht irgendetwas im Sinne von „no hard feelings. All the best.“. Kein Wunsch, die alten Fäden wieder anzuknüpfen. Einfach ein anständiger Schlusspunkt. „Ich werde ja sowieso taub“, dachte sie, „Ich werde die Scheibe nicht mehr brauchen.“
Frau Frogg überlegte schon hin und her, wie man Schallplatten per Post verschicken kann. Dann hörte ich wieder viel besser. Und dann dachte ich: „Ich höre sie mir besser noch einmal an, bevor ich sie weggebe. Dann weiss ich später wenigstens, wie sie klang.“
Am Sonntag legte ich sie auf .
Sie ist ein herzzerreissendes, simples, wunderschönes, oh so very britisches Blues-Album mit einem grossartigen Gitarristen.
Hier eine kleine Kostprobe:
Ich glaube nicht, dass ich mich davon trennen kann.
Und doch glauben Sie,... dass die Pest auch ihr Gutes hat, dass sie die Augen öffnet, dass sie zum Denken zwingt!"
Der Arzt schüttelte ungeduldig den Kopf.
"Wie alle Krankheiten auf dieser Erde. Aber was für die Übel dieser Welt gilt, das gilt auch für die Pest. Das kann ein paar wenigen dazu verhelfen, grösser zu werden. Wer jedoch das Elend und den Schmerz sieht, die die Pest bringt, muss wahnsinnig, blind oder feige sein, um sich mit ihr abzufinden."
Aus Albert Camus: Die Pest
Hamburg, Rowohlt Taschenbuch 1991, S. 83.