17
Jul
2008

Katastrophe

Verdammt, ich fühlte mich so normal! So stark! Fast alles schien wieder möglich! Und jetzt das: Gestern Abend im Büro beginnt mein Kopf zu dröhnen. Zu dröhnen, als gehe eine Starkstromleitung durch ihn hindurch. Dafür höre ich das Surren meines Computers nicht mehr. Sogar die Stimmen im anderen Büro, wo die Kollegen "10 vor 10" schauen, klingen seltsam piepsig.

Tieftöne weg, auch im rechten Ohr. Auf dem linken Ohr höre ich sowieso nur noch gerade knapp bis zum Hörgerät.

Der Heimweg ist seltsam still. Da ist nur das Dröhnen in meinem Kopf.

Zu Hause werfe ich mir 100 mg. Cortison ein.

Jetzt hat der Starkstrom nachgelassen. Aber ich bin noch nicht wieder ok. Für heute entfällt eine weitere Folge aus meinem Türkei-Epos. Muss zum Ohrenarzt.

16
Jul
2008

Kurdischer Teppichverkäufer

Herr T. steht an der Strassenkreuzung und dreht den Stadtplan von Istanbul in der Hand herum. Wir stehen irgendwo zwischen dem grossen Markt (Kapalı Çarşı) und der blauen Moschee. Mitten im Touristenland. Und doch sind wir schon seit mindestens zwei Minuten von keinem Lederwarenhändler und keinem Wirt, von keinem Teppichhändler, keinem Kioskhalter und keinem Silberschmied mehr angemacht worden. Ich prüfe vorsichtig meine Kleidung. Vielleicht stimmt etwas nicht mit uns. Da fragt jemand*: "Haben Sie sich sich verirrt?"* Ein grossgewachsener Türke in Jeans und T-Shirt steht da.
Frau F., (abwehrend): "Oh nein, nein!"
Der Türke (grinst): "Sie Sie auch ganz sicher, dass Sie sich nicht ein ganz klein wenig verirrt haben?"
Frau F: "Ja, ganz sicher." (Deutet auf Herrn T.) "Er weiss, wo's langgeht."
Herr T. nickt.
Der Türke: "Woher kommen Sie?"
Frau F.: "Aus der Schweiz."
Der Türke: "Oh, aus der Schweiz kenne ich jemanden. Jean Ziegler. Kennen Sie ihn auch?"
Frau F. (freut sich): "Oh ja, den kenne ich." (Und in einem leicht ironischen Tonfall): "Haben Sie mit ihm gesprochen?"
Der Türke (grinst): "Ja, er ist mein Freund. Er besucht mich manchmal. Aber Schweizer halten ihn für einen Spinner, oder?"
Frau F.: "Ja, das stimmt. Aber ich nicht. Ich finde, viele Schweizer haben keine Ahnung, was in der Welt so vor sich geht. Es ist gut, wenn jemand es ab und zu sagt."
Herr T. bringt das Gespräch auf Fussball. Es ist zwei Tage nach dem Spiel der Spiele.
Der Türke: "Ach, wissen Sie... Ich schaue mir keine Fussballspiele an. Ich bin auch nicht für die Türken.Ich bin nämlich Kurde. Ausserdem finde ich das einfach wahnsinnig. Fath Terim verdient 15 Mal mehr als unser Staatspräsident. Finden Sie nicht auch, dass das nicht normal ist?"
Herr T. und Frau F. nicken.
Der Kurde: "Wissen Sie, in diesem Land ist sowieso vieles nicht normal. Vorneherum sieht ja alles nett aus. Aber wenn man hier lebt... ach, übrigens, wollen Sie nicht auf eine Tasse Tee zu mir kommen? Ich habe einen hübschen, kleinen Teppichladen gleich dort drüben."
Frau F. lacht: "Das habe ich mir doch gedacht! Ich habe mich schon gefragt, wo Ihr Laden wohl ist. Nein, tut uns Leid, wir brauchen keinen Teppich."
Der Kurde insistiert. Herr T. wird unsicher.
Frau F.: "Oh, nein, vielen Dank. Aber wir können leider wirklich keinen Teppich gebrauchen. Wir reisen morgen weiter nach Çanakkale."
Der Kurde: "Oh wirklich! Was wollen Sie denn in Çanakkale? Etwa Troja besuchen?"
Herr T. und Frau F. nicken.
Der Kurde: "Oh, in Troja können Sie etwas lernen! Da können Sie lernen, wie hier im Osten betrogen wird. Ich meine, die Sache mit dem Pferd..."
Frau F.: Aber das Pferd haben doch die Griechen gebaut, und die kamen aus dem Westen!
Der Kurde: "Ja, aber die waren zehn Jahre hier in der Gegend gewesen. Die hatten etwas gelernt! Jetzt kommen Sie aber in meinen Laden! Sie müssen ja nichts kaufen!"
Frau F. (augenzwinkernd): "Eben haben Sie doch gesagt, hier wird man ständig betrogen! Nein, nein, es tut mir leid, wir müssen weiter."

Wir verabschieden uns freundlich und gehen. Ich habe mich später mehr als einmal gefragt, ob wir nicht doch hätten mitgehen sollen. Es war eines der spannendsten Gespräche, die ich in der Türkei geführt habe. Vielleicht hätten wir tatsächlich keinen Teppich kaufen müssen.

* Die Konversation spielte sich in ausgesprochen flüssigem Englisch ab.

12
Jul
2008

Zwischenspiel: Stöckchen

Bevor ich mit meinem Türkei-Epos weiterfahre, möchte ich mich hier einem Stöckchen widmen, das Frau Acqua mit zugeworfen hat. Es heisst Sätze vervollständigen.

Ich höre gerade...
...die Bässe der unaufgeregten Pop- oder Rockmusik meiner Nachbarin. Und im linken Ohr leise den Bahnschranken-Tinnitus. Sehr beruhigend. Wirklich.

Vielleicht sollte ich...
...mein Türkei-Fotoalbum doch stillschweigend selber zusammenstellen und nicht darauf hoffen, dass Herr T. es eines Tages hinkriegen wird.

Ich liebe...
...es, an einem Hochsommertag durch die von allen Sonntagsspaziergängern und Hündelern verlassenen, grün und gelb gefluteten Felder zu gehen und mich dabei mit Hitze volllaufen zu lassen.

Meine besten Freunde sind...
...jene, die mich nicht im Stich lassen, wenn ich einen Schwindelanfall habe.

Mein/e Ex...
puuh... Das ist lange her.

Ich verstehe nicht...
...warum alle jahrelang so getan haben, als würde der US-Hypothekencrash nie passieren. Jeder hat es doch gewusst.

Ich habe keinen Respekt vor...
...PR-Menschen. Ausser, wenn ich selber als solcher auftrete.

Ich hasse...
...es, wenn die Temperaturen im Juli unter 20 Grad sinken. Ich empfinde das als Betrug an den Daheimgebliebenen.

Mein Nickname...
...ist pilemon frogg, auch filomena frogg. Das hat im Grunde nichts mit Fröschen zu tun. Sondern mit meinem geistigen Ziehvater.

Liebe ist...
...die am meisten überstrapazierte und missverstandene Emotion, die es gibt. Jawoll.

Irgendwo ist irgendjemand...
...der mir hilft, mein zweitgeheimstes Problem zu lösen.

Ich werde immer...
...haariger. Ehrlich. Das hätte einen ganzen Eintrag verdient. Kommt ein andermal...

Ewigkeit ist wie...
wie ein Hochsommertag im Grünen (siehe oben). Oder vielleicht doch wie ein Pfarrer, der beim Sonntagsgottesdienst (katholisch) noch nicht einmal mit der Predigt fertig ist?

Was ich niemals verlieren möchte, ist...
...meine Zurechnungsfähigkeit. Wobei... ich glaube, eben habe ich sie für eine Viertelstunde verloren. Aber das ist eine komplizierte Geschichte...

Darf ich das Stöckchen nun meiner hoch geschätzten Madame katiza zuwerfen? Ferner meiner grossartigen Neuleserin baldrian.goodnight sowie Madame canela mit dem unübertreflichen Hang zur sinnlichen Poesie?

9
Jul
2008

Kopftuch 2

Nach frogg'scher Schätzung geht ein Drittel der Frauen in der Westtürkei im Kopftuch. Ich habe sie angesehen, diese Frauen, und mir Fragen gestellt: Was denken sie? Wo gehen sie hin? Wie halten sie in ihren langen Mänteln die Hitze aus? Was ist das für ein Strumpf, den viele unter dem Kopftuch tragen und der ihr Haar verdeckt? Wann und wo ziehen diese Frauen ihre Rüstung aus? Ich wünschte mir, türkisch zu können. Ich wünschte mir, sie ausfragen zu dürfen. Bestimmt habe ich sie manchmal angestarrt.

Ich begann, sie in Kategorien einzuteilen:

Die Kleinbürgerinnen: Frauen mit viel Arbeit und Kindern, aber ohne Allüren. Und doch vergessen sie nicht, sich ein bisschen nett anzuziehen. Ihre Kleidung, meist unprätenziös im Schnitt, ist stets in gut assortierten Farben gehalten: zum grünen, langen Mantel tragen sie ein grünrosa gemustertes Kopftuch (oder das alles in Blau, Beige oder Pink).

Die Wohlanständigen: Die meisten von ihnen sind jung, schmal wie Frühlinszweige und verbringen am Morgen Zeit mit Schminken. Ihre Mäntel sind adrett, oder gar elegant: silberweiss oder schwarz, ihre Kopftücher schwarz, grau oder weiss mit Pastellmustern. Sie halten sich stets kerzengerade. In der Gegenwart von Touristen bekommen sie manchmal einen überlegenen Gesichtsausdruck. Sie wirken irgendwie militant und passen optisch gut zu den vielen neuen Moscheen in Edremit mit ihren silbern schimmernden Minarettspitzen (die wir in einem Anflug schwarzen Humors Qassam-Raketen nannten. Weil sie über der Westküste sassen wie islamische Abwehrgeschütze). Doch es ist nicht alles wie es scheint: Einmal, in Pamukkale, sahen wir an einem Sonntagabend in in der Lobby unseres Familienmotels eine junge Wohlanständige, 17 vielleicht, eine der zahlreichen Verwandten unseres Wirtes: Sie sass am Computer und hörte mit einer Freundin ohne Kopftuch englischen Grufty-Rock. Die einzige englische Rockmusik, die ich drei Wochen Türkei gehört habe.

Die Entehrten: Frauen, die irgendeiner erniedrigenden Arbeit nachgingen, meist Toilettenfrauen. Das Kopftuch gab ihnen ihre Würde zurück.

Die schwarzen Mareien: Meist ältere Frauen in schwarzen Tüchern, die alles verhüllten ausser der Nasenspitze, dem Kinn und den Fäusten. Sie sahen aus, als kämen sie aus einer anderen Zeit. Sie sahen arm und wütend aus.

Die Landfrauen: Frauen, die das Kopftuch als Arbeitskleidung trugen. So selbstverständlich wie Generationen von Frauen vor ihnen. Unsere Wirtin in Pamukkale war so eine Frau. Eine Frau, wie man sie im Westen selten sieht. Eine Frau, die so aussah, als sei sie genau dort, wo sie hingehöre und glücklich darüber. Eine Frau ohne Ängste, so schien es. Die Sonne in ihrem komplexen Familiensystem. Von den wenigen Türkinnen, mit denen wir sprechen konnten, konnte sie am besten Englisch.

Die Individualistinnen: Sie trugen ihre bunten Kopftücher mit kurzen oder halblangen Jacken. Mit langen, neonfarbigen Röcken und Jeans. Ihre Kleidung war eine kreative Mischung aus Ost und West. Die Freaks unter den Musliminnen.

Ja, und dann sah ich Tausende von Frauen, die sich in ihrem Aussehen kaum von Westlerinnen unterscheiden. Und am Busbahnhof von Aydın habe ich eine junge Türkin in einem eng anliegenden T-Shirt gesehen, auf dessen Brust breit stand: "You will beg for it". Ich kenne keine einzige Westlerin, die so etwas tun würde. Sie stand - natürlich - nicht weit von einer Wohlanständigen.

8
Jul
2008

Kopftuch

"Zuerst lehnte ich das Kopftuch ab. Doch dann begann ich es zu tragen und ich merkte: Ich kam mit Kopftuch einfach besser zurecht. Man betrachtete mich als denkende Person. Und ich wurde nicht mehr dauernd angemacht. Das Kopftuch gab mir Würde und Raum zu sein, wer ich war." Das pflegte meine Freundin Mascha zu sagen. Sie war aus einer gut katholischen Familie und, weiss Gott, eine Hardcore-Feministin. Mit 18 aber verbrachte sie ein Jahr in einer muslimischen Familie in Kenia, wo sie das Kopftuch schätzen lernte. Zu Hause trug sie es dann nicht mehr. Nein. Später ging sie sogar eine Weile kahlgeschoren.

Das ist lange her. Aber es hat meine Haltung zum Kopftuch geprägt. Jedenfalls lehne ich es nicht rundweg ab, schreie nicht nach einem Kopftuchverbot. Bin mir nicht sicher, ob das Kopftuch wirklich ein Symbol für die Unterwerfung der Frau ist.

Zumal ich festgestellt habe, dass es selbst in kleineren Städten im Westen Musliminnen gibt, die ihr Kopftuch und das dazugehörige Mäntelchen durchaus mit Modebewusstsein, ja mit einem gewissen urbanen chic tragen. Das sind keine gehorsamen Arbeitstiere, die sich nach getaner Arbeit pflichtschuldigst unter ihren Ehemann legen.

Wie komplex die Frage ist, zeigt die Situation in der Türkei. Dort ist der Kopftuchstreit Symptom eines Problems, das sich bald zur Staatskrise ausweiten könnte.

Kurz bevor wir hinreisten, flammte er erneut auf.

Das Kopftucherbot an den türkische Unis sei in den 80-er Jahren unter der Militärregierung eingeführt worden, las ich in einer Agenturmeldung. Um die Islamisierung der Gesellschaft zu verhindern, hiess es. Um sicher zu stellen, dass die Türkei ein säkulärer, nach Westen orientierter und damit freiheitlicher Staat bleibe. Nur: Regierende Generäle gelten in der Regel nicht gerade als Hüter der Freiheit und der Rechte von Frauen. Und: Ist es nicht paradox, ausgerechnet jenen Frauen Kleiderverbote aufzuerlegen, die an der Uni zu selbständig denkenden Menschen werden sollen?

"Weisst Du, es gibt viele Gründe, das Kopftuch zu tragen", sagte unser Freund, der Istanbuliker. "Manche jungen Mädchen tragen es nur, weil sie das säkuläre Mami ärgern wollen."

Also: Was tut Frau, wenn sie aufgefordert wird, sich ein Kopftuch umzulegen, bevor sie die blaue Moschee betritt?

Ich jedenfalls legte es um und behielt es auch unter der grossen Kuppel um, als die Türhüter nicht mehr hinschauten. Warum? Vielleicht aus Solidarität mit all jenen Frauen, die das Kopftuch tragen, weil sie auf Identitätssuche sind. Vielleicht aus Respekt einer fremden Religion gegenüber.

Ich war die einzige westliche Touristin, die es so hielt. Die anderen nahmen in der Moschee ihre Tüchlein wieder ab und grinsten kokett ihre Männer oder Freundinnen an, bevor sie ihren Blick bewundernd über die blauen Kacheln schweifen liessen.

Sie waren frei. Sie hatten diesen Mullah-Türhütern ein Schnippchen geschlagen!
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