im meniere-land

5
Nov
2014

Gute Manieren

Seit Wochen kann ich nicht mehr mit meinen Kollegen essen gehen. Ich höre einfach nicht gut genug. So bringt das niemandem etwas. Auch sonst lebe ich zurzeit zurückgezogen. Allmählich frage ich mich: Wenn man seine Umgangsformen zu lange nicht trainiert - verliert man sie dann?

1
Nov
2014

Schwindel

Nachts habe ich Schwindelanfälle. Herr Menière schickt seine Grüsse. Wenn ich mich umdrehe, merke ich, wie die Welt unter meinem rechten Ohr wegfällt. Ich träume, ich sei an einer Ausstellung. Ich sehe ein Bild von Georges Braque, und es saugt mich wie ein Wirbel in seine Tiefen.



Ich falle wieder und wieder in dieses verdammte Bild hinein. Mir wird leicht übel. Seltsam, denke ich und noch um Traum merke ich mir den Titel der Ausstellung, damit ich später davon erzählen kann. Sie heisst "Braque - Picasso - Leger" oder war es "Braque - Picasso - Modigliani"? Ich bin nicht mehr sicher.

31
Okt
2014

Heute

Vor acht Jahren habe ich mein erstes Hörgerät erhalten. Für mein linkes Ohr. Im Herbst 2006. Wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass ich heute um ein zweites betteln würde - für mein rechtes Ohr - ich wäre gestorben vor Bestürzung und Angst.

Ich sage nicht, dass alles seither ein Sonntagsspaziergang gewesen ist.

Ich will bloss sagen: Es lohnt sich nicht, Angst zu haben. Das Unvorstellbare kommt, ob man sich davor fürchtet oder nicht.

25
Jun
2014

Spannungsgeladene Musik

Ich sitze bei der Musikhochschule auf einer Bank und geniesse die Aussicht. Hier oben sitze ich gern, um mich zu sammeln. Vor allem, wenn ich gerade wieder mal einen Schub habe. Und es ist nun mal so: Der neueste Schub dauert schon mehr als zwei Monate. Das heisst: Ich bin - ausser, wenn ich gerade einen guten Tag habe - mittelgradig schwerhörig auf beiden Ohren.

Wenn Herr T. Fussball-WM guckt, setze ich mich manchmal neben ihn, schalte mein Hörgerät aus und lese in aller Ruhe ein Buch. Den Kommentar höre ich schon gar nicht mehr, verstehen tue ich ihn erst recht nicht.

Wenn ich wirklich fernsehen will, brauche ich Untertitel. Das heisst: Ich gucke dann öffentlich rechtliche Sender, denn viele Privatsender haben keine Untertitel - übrigens auch Arte und 3sat nicht. Sehr ärgerlich.

Untertitel einzustellen ist an sich einfach: Auf den meisten Fernbedienungen gibts den Teletext-Knopf TXT. Den drückt man. Erst dann beginnt das Rätselraten: Drücke ich nun 777 (Schweizer Fernsehen, ORF, ZDF und übrigens auch BBC)? Oder ist es 150 (ARD)? Oder 149, wie bei PRO7. Naja, im Notfall weiss es Wikipedia.

Nun, die meisten Sender geben zu Beginn eines Films oben rechts an, ob ein Film untertitelt ist. Aber bis sie das endlich tun, haben sich ungeduldige Naturen wie ich meist selber schon auf Teletext verirrt. Sie verpassen dann jeweils die ersten, stimmungsvollen Bilder des Films, und manchmal noch mehr.

Dafür sorgen dann die Untertitel - wenn man sie einmal gefunden hat - selber für Stimmung. "Melancholische Musik" steht da etwa, wenn die Hörbehinderte nur lästiges Geigengeschmier hört. Trat einst Privatdetektiv Matula auf den Plan, wurde er stets von "spannungsvoller Musik" begleitet. Manchmal gibts auch aufschlussreiche Hinweise: "Sie weint" zum Beispiel. Dabei muss man, um so etwas zu merken, nicht einmal den geschulten Blick einer Hörbehinderten haben.

Nun ja, es ist unfair, wenn ich jetzt lästere. Fernsehen mit Untertiteln ist etwas wirklich Praktisches. Ich meine: Man stelle sich vor, man müsste sich als Schwerhörige sämtlichen Nachrichten am Radio oder aus der Zeitung besorgen wie unsere Vorfahren!

So sitze ich auf meiner Bank und sinniere und merke plötzlich, dass von der Musikhoschule her leise Töne an mein Ohr dringen. "Pling! Pling!" Sind es Geigen oder ist es ein Klavier? Ich weiss es nicht. Ist es fröhliche oder melancholische Musik? Keine Ahnung. Ich hätte jetzt gerne Untertitel.

28
Mai
2014

Schwärzeste Komik

Gelegentlich bin ich mit meiner Freundin Zoë unterwegs. Zusammen sind wir ein Team mit einem hohen Potenzial für Komik der schwärzesten Sorte. Sie hat Multiple Sklerose und sitzt im Rollstuhl. Ich höre immer noch grauenhaft schlecht.

Wir sassen im Gartenrestaurant und warteten auf unser Mittagessen. Ich hielt einen Zettel mit einem Nümmerchen in der Hand. Wenn die Nummer ausgerufen wird, muss man sein Essen abholen.

Nun sind Gartenrestaurants für Schwerhörige eine besondere Herausforderungen. Knirschendes Kies, vorbeifahrende Autos, klirrende Tassen, Gerede am Nebentisch, Wind in den Bäumen - alles erschwert die Kommunikation. Und Zoë spricht nicht besonders laut. Dabei hatten wir einander viel zu erzählen. Ich musste mich konzentrieren.

Plötzlich kommt eine Frau zu uns an den Tisch und beginnt auf mich einzureden. Das ist typisch. Wenn wir zusammen sind, dann reden die Leute zuerst mit mir - nicht mit Zoë. Als würden sie denken: "Aha, die Frau sitzt im Rollstuhl. Dann wird sie auch nichts sagen." Nur verstehe ich natürlich nicht, was die Leute sagen.

Ich sage also zu der Frau: "Sie müssen mit meiner Freundin reden. Ich höre schlecht." Da bückt sich die Frau zu Zoë und lärmt: "DER KELLNER SUCHT SIE!!! IHR ESSEN IST FERTIG!!!" Sogar ich habe jetzt verstanden.

Ich frage mich: Hat sie nun viel lauter geredet? Oder ist nur einfach ein Nebengeräusch verschwunden, das mich vorher daran gehindert hat, sie zu verstehen?

6
Mai
2014

Sex, Feminismus, Schwerhörigkeit

In ausgebeulten Bananenkisten liegen vergilbte zwanzig Jahre Frauenforschung, von Shere Hite bis Julia Onken.



Ich stöbere fasziniert. Das ist ja alles so altmodisch geworden! Heute schreibt doch niemand mehr über den Körper, den Eros oder die Weiblichkeit. Heute findet man dafür eine inflationäre Menge von Schriften über Sex. Und wenn ich das Geschwätz dieser so genannten Sexpertinnen in irgendwelchen Gratisheften lese, werde ich gelegentlich etwas unlustig. Da kolumnieren diese Girls amüsiert über die unterschiedliche Schrumpeligkeit männlicher Vorhäute und die weibliche Genitalrasur, und ich denke: Verpassen diese jungen Dinger in ihrem Wettlauf um den Besitz des allerbesten Bodys nicht das Wichtigste an der ganzen Sache, das grosse Mysterium der Lust? Oder bin ich da - wie meine junge Freundin Wanda gelegentlich nahelegt - etwas altmodisch?

Aber anyway, ich drifte ab. Eigentlich wollte ich etwas ganz anderes erzählen. Wanda und ich stöbern durch diesen Flohmarkt einer gemeinsamen Bekannten, die ihre ganze alte Frauenliteratur entsorgt. Ich blättere in Benoîte Groult's Roman Leben will ich und finde diese Sätze über die alternde Mutter der Erzählerin: "Die Welt verlor in den Augen meiner Mutter in dem Mass an Sinn, wie es ihr nicht mehr gelang, sie wahrzunehmen, und was sie nicht mehr verstand, erschien ihr plötzlich absurd. Sobald sie nicht mehr erkennen konnte, wozu eine Gabel da war, verlor sie jegliches Interesse an diesem Gegenstand und liess sich mit aristokratischer Herablassung füttern... (Seite 10)."

Ich lachte laut und musste die paar Sätze gleich Wanda vorlesen. Ich beobachte ein ähnliches Phänomen gelegentlich bei schwerhörigen Bekannten und sogar bei mir selber: Wenn andere Leute durcheinanderreden und wir nichts verstehen, denken wir vornehm: "Ach, was diese Leute immer schwätzen!" Naja, was bleibt uns auch anderes übrig. Man kann sich nicht immer grämen, dass man nicht viel mitkommt.

Aber ich muss gestehen: Manchmal gräme ich mich doch. Wenn ich mit meinem Gottenbuben Tim (9) am See spaziere und er etwas über einen Katamaran plaudert und ich nach dreimal nachfragen immer noch nicht mehr als "Katamaran" verstanden habe. Wenn meine Kollegen in der Rauchpause von ihren legendärsten Abstürzen berichten und ich nur "Tequila" verstehe. Da tröstet es mich dann nur ein bisschen, dass ich selber auch eine, zwei Episoden beitragen kann.

Und ich gräme mich, dass ich Wanda (40) zwar laut und deutlich diese paar Sätze vorlesen und ihr erklären kann, wieso ich über sie lachen muss. Aber dass sie mich dann doch nur verständnislos anschaut.

1
Mai
2014

Ich meide die anderen

Mit einer gewissen Faszination beobachte ich die Selbstzerstörung meines Gehörs. Wenn es ganz schlimm ist, dann höre ich die Stimmen am Fernseher nicht mehr. Dann höre ich das Knistern meiner Bettdecke nicht mehr. Dann höre ich die Zeitung nicht mehr rascheln. Das sind laute Geräusche. Das sind die bewährten Hörtests der Menière-Patientin. Wenn es soweit ist, dann heisst das wahrscheinlich: ungefähr minus 60 Dezibel auf dem guten Ohr. Auf fast allen Frequenzen. Das ist ziemlich viel. Da muss man sich dran gewöhnen. Ohne Hörgerät geht da fast gar nichts mehr.

Früher haben mich diese Stunden ohne Gehör entsetzt. Jetzt nicht mehr. Ich renne nicht einmal mehr zum Arzt deswegen. Ich weiss jetzt, was man alles noch kann, wenn man nicht mehr viel hört. Ich gehe durch die Stadt, ohne sie zu hören, und es macht mich beinahe stolz: Ich kann gehen, allein, aufrecht und mit einem Ziel. Ich kann über den See blicken. Zur Not kann ich mich sogar noch verständigen. Ich kann schreiben. Das muss reichen, für den Moment.

Am Mittag esse ich allein in meinem Büro. Ich meide die anderen. Ich glaube, dass ich damit das kleinere Übel wähle. Würde ich mit den anderen in diesem Lärm essen, so wüsste ich nicht, ob ich mich oder sie mehr verstöre. Aber es macht mir Sorgen. "Wo soll das noch hinführen?" denke ich. "So vereinsame ich doch", denke ich.

18
Apr
2014

Sprachlos

Meine Ohren donnern und quietschen. Meine Seele wütet und tobt. In diesem Sturm ist nichts, was man bloggen könnte.

Darum ist hier erst einmal Ruhe.

Bis bald!

5
Apr
2014

Es klopft

Gestern draussen im Wald hörte ich ein hektisches, hohles Klopfen. "Ach, ein Specht!" dachte ich. Aber es war kein Specht. Es war ein Helikopter.

Ich muss mich noch daran gewöhnen, dass ich wieder schwerhörig bin. Acht Monate lang habe ich wenigstens auf dem rechten Ohr gut gehört. Ich dachte schon, vielleicht sei ich jetzt dem Teufel endgültig vom Karren gefallen, und alles sei wieder wie früher.

Aber ich habe mich geirrt. Herr Menière ist auf Besuch, und wie.

Wenn ich etwas anfasse, macht es kein Geräusch. Das ist merkwürdig. Plötzlich sind die Dinge so weit weg.

In das Nacht kann ich hören, wie sich meine Innenohrschnecke mit Flüssigkeit füllt. Die Härchen, die darin überschwemmt werden, schreien vor Schreck laut auf. Man nennt das Tinnitus.

31
Mrz
2014

Inspirierende Behinderte

Behinderte in den Medien - das sind Menschen, die trotz ihrer Einschränkung strahlen. Sie leisten Überragendes und reden ihre Schwierigkeiten im Alltag klein. Und sie sind erst noch inspirierend - weil sie doch trotz ihrer misslichen Lage sooooo tapfer sind.

Ich kann Euch gar nicht sagen, wie ich auf einen Artikel gewartet habe, der das Phänomen einmal einer kritischen Analyse unterzieht! Bei Mia auf ivinfo gibt es jetzt einen solchen: Hier. Es heisst dort "Inspirations-Porno." Ein paar Auszüge aus dem Artikel von Stella Young in meiner Übersetzung:

"Lasst mich die Absicht dieses Inspirations-Pornos beim Namen nennen. Er ist da, damit Nicht-Behinderte ihre Sorgen relativieren können. Sie können sagen: 'Also, wenn dieses Kind keine Beine hat und trotzdem lächeln kann ... sollte ich mich niemals wegen meines Lebens schlecht fühlen.'

So machen diese Bilder jene zu Objekten und Ausnahmen, die sie darzustellen vorgeben. Sobald wir nur hinterfragen wie wir dargestellt werden, rutschen wir sofort ans andere Ende der Skala und werden 'bitter' und 'undankbar'. Wir versagen dabei, die Erwartungen der anderen zu erfüllen."

Die Behauptung 'die einzige Behinderung ist eine negative Einstellung' erlegt die Verantwortung für die Benachteiligung ... direkt den Menschen mit Behinderung selber auf. Doch damit beschuldigt sie die Opfer. Sie behauptet, dass wir komplette Kontrolle darüber, wie die Behinderung unser Leben beeinflusst. Dazu kann ich nur eins sagen: Fickt Euch ins Knie!"

Bravo! Bravo! Bravo!
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ein bisschen versuch ich es ja, mir alles widrige mit...
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