6
Mai
2014

Sex, Feminismus, Schwerhörigkeit

In ausgebeulten Bananenkisten liegen vergilbte zwanzig Jahre Frauenforschung, von Shere Hite bis Julia Onken.



Ich stöbere fasziniert. Das ist ja alles so altmodisch geworden! Heute schreibt doch niemand mehr über den Körper, den Eros oder die Weiblichkeit. Heute findet man dafür eine inflationäre Menge von Schriften über Sex. Und wenn ich das Geschwätz dieser so genannten Sexpertinnen in irgendwelchen Gratisheften lese, werde ich gelegentlich etwas unlustig. Da kolumnieren diese Girls amüsiert über die unterschiedliche Schrumpeligkeit männlicher Vorhäute und die weibliche Genitalrasur, und ich denke: Verpassen diese jungen Dinger in ihrem Wettlauf um den Besitz des allerbesten Bodys nicht das Wichtigste an der ganzen Sache, das grosse Mysterium der Lust? Oder bin ich da - wie meine junge Freundin Wanda gelegentlich nahelegt - etwas altmodisch?

Aber anyway, ich drifte ab. Eigentlich wollte ich etwas ganz anderes erzählen. Wanda und ich stöbern durch diesen Flohmarkt einer gemeinsamen Bekannten, die ihre ganze alte Frauenliteratur entsorgt. Ich blättere in Benoîte Groult's Roman Leben will ich und finde diese Sätze über die alternde Mutter der Erzählerin: "Die Welt verlor in den Augen meiner Mutter in dem Mass an Sinn, wie es ihr nicht mehr gelang, sie wahrzunehmen, und was sie nicht mehr verstand, erschien ihr plötzlich absurd. Sobald sie nicht mehr erkennen konnte, wozu eine Gabel da war, verlor sie jegliches Interesse an diesem Gegenstand und liess sich mit aristokratischer Herablassung füttern... (Seite 10)."

Ich lachte laut und musste die paar Sätze gleich Wanda vorlesen. Ich beobachte ein ähnliches Phänomen gelegentlich bei schwerhörigen Bekannten und sogar bei mir selber: Wenn andere Leute durcheinanderreden und wir nichts verstehen, denken wir vornehm: "Ach, was diese Leute immer schwätzen!" Naja, was bleibt uns auch anderes übrig. Man kann sich nicht immer grämen, dass man nicht viel mitkommt.

Aber ich muss gestehen: Manchmal gräme ich mich doch. Wenn ich mit meinem Gottenbuben Tim (9) am See spaziere und er etwas über einen Katamaran plaudert und ich nach dreimal nachfragen immer noch nicht mehr als "Katamaran" verstanden habe. Wenn meine Kollegen in der Rauchpause von ihren legendärsten Abstürzen berichten und ich nur "Tequila" verstehe. Da tröstet es mich dann nur ein bisschen, dass ich selber auch eine, zwei Episoden beitragen kann.

Und ich gräme mich, dass ich Wanda (40) zwar laut und deutlich diese paar Sätze vorlesen und ihr erklären kann, wieso ich über sie lachen muss. Aber dass sie mich dann doch nur verständnislos anschaut.
logo

Journal einer Kussbereiten

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Suche

 

Impressum

LeserInnen seit dem 28. Mai 2007

Technorati-Claim

Archiv

Mai 2014
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 2 
 3 
 4 
 5 
 7 
 8 
 9 
10
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
29
30
31
 
 

Aktuelle Beiträge

Kommentar
Liebe Frau frogg, schauen Sie bitte bei WordPress...
Freni - 28. Nov, 20:21
Ein schreckliches Tal
Soglio im Bergell, Oktober 2013. Was habe ich Freunde...
diefrogg - 6. Okt, 20:27
Liebe Rosenherz
Danke für diesen Kommentar, eine sehr traurige Geschichte....
diefrogg - 11. Jan, 15:20
Ja, die selektive Wahrnehmung...
auch positives oder negatives Denken genannt. In den...
diefrogg - 9. Jan, 18:14
liebe frau frogg,
ein bisschen versuch ich es ja, mir alles widrige mit...
la-mamma - 5. Jan, 14:04

Status

Online seit 7157 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 17. Sep, 17:51

Credits


10 Songs
an der tagblattstrasse
auf reisen
bei freunden
das bin ich
hören
im meniere-land
in den kinos
in den kneipen
in den laeden
in frogg hall
kaputter sozialstaat
kulinarische reisen
luzern, luzern
mein kleiner
offene Briefe
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren