hören

6
Aug
2014

England hören

England hat miesen Kaffee. Es hat miese Klempner. Und es hat miese Hotels. Aber es hat eine wunderschöne Sprache. Eine Sprache, die ich sprechen gelernt habe, indem ich den Leuten zuhörte - bei der Arbeit, im Café, in der Eisenbahn. Ich spreche ziemlich gut Englisch. Englisch ist die Sprache, in der ich mich einmal beinahe neu erfunden hätte.

Deshalb wollte ich trotz der miesen Hotels noch einmal nach England, bevor ich noch tauber werde. Und in den ersten Tagen schien das Projekt "England hören" ganz leidlich zu funktionieren. Ich hatte sogar ein paar lustige Konversationen mit Leuten, mit denen ich früher nie ins Gespräch gekommen wäre.

Aber am fünften Tag war es mit Hören vorbei - abgesehen von ein paar passablen Stunden, meist zwischen 12 und 16 Uhr. Es wurde offenkundig: Ich hatte meine Kräfte überschätzt. Wenn ich mich konzentrierte, konnte ich ein Gespräch führen. Sonst war ich hinreichend damit beschäftigt zu reisen, meinen Tinnitus zu überhören - und manchmal damit, einfach nur das Gleichgewicht zu halten.

Ich war nicht einmal frustriert oder traurig. Dazu hatte ich auch keine Zeit. Erst in Liverpool wusste ich: Diese Stadt sollte man hörend besuchen. Wenigstens hörte ich die Lachmöwen am Bahnhof, eine merkwürdige Begrüssung. Aber später am Hafen fragte Herr T. einmal fassungslos: "Hast Du die Schiffshupe nicht gehört?!" Und er ärgerte sich wiederholt über den Hafenkran, der angeblich vor unserem Zimmer piepte (den überhörte ich, weil er genau gleich klingt wie eines meiner Ohrengeräusche). Und als wir nach Hause kamen, erzählte er Freunden: "Und wisst Ihr, in jedem Café liefen Beatles-Songs!" Da wollte ich zwar widersprechen - ich hörte von diskretem Hintergrundgedüdel ja höchstens noch die Drums, wenn überhaupt. Aber bitte! Ich kann doch einen Breakbeat von Ringo Starr unterscheiden!

Ich widersprach dann doch nicht. Meine Datenbasis war einfach zu dünn, obwohl ich - weiss Gott - als Teenager jeden einzelnen Beatles-Song kannte. Mitsamt dem Album, auf dem er erschienen ist. Wahrscheinlich kann Herr T. sich glücklich schätzen, dass ich nichts hörte. Ich hätte ihn bei jedem Song zugetextet wie eine von miesem Kaffee besoffene Enzyklopädie.

Dennoch: Kann mir bitte einmal jemand erklären, wozu man all dieses Zeug lernt und liebt, wenn man es dann sowieso nicht mehr brauchen kann?

9
Apr
2014

Schmierig

"Bohnenallergiker können aufatmen", sagte gestern der Mann vom Wetterbericht am Schweizer Fernsehen. Er war dabei, eine nahende Kaltfront anzukündigen. Nein, er sagte natürlich nicht "Bohnenallergiker". Er sagte Pollenallergiker. Ich hatte mich verhört - so ein typischer Mondegreen eines allzu flinken Schwerhörigen-Gehirns. Hier ein ausführlicherer Text von mir über das Phänomen.

Und noch ein Frogg'scher Mondegreen von gestern: "Ich glaube, Plankton hat einmal gesagt, der Dummheit der Menschen komme man nie auf den Grund." (Aus der deutschen Fassung der Fernsehdoku Presumption über Jane Austen). Nein, nicht Plankton sprach diese weisen Worte - es war Platon.

Und zu guter Letzt ein Zitat aus irgendeinem Radio-Interview von neulich: "Es war ein langer und ein schmieriger Prozess".

Ich habe wieder angefangen, mir solche Sachen aufzuschreiben. Wenn ich in der richtigen Stimmung bin, kann ich darüber sehr laut lachen. Ich lache jetzt meistens ziemlich laut, damit ich mich selber dabei höre.

24
Dez
2013

Frohe Weihnachten

20
Mai
2013

Er sagte laut: "Grüezi!"

Neulich begegnete ich in einem Schweizer Zug einem merkwürdigen Kondukteur*. Er sagt zu jedem Fahrgast ausserordentlich laut: "Grüezi!" oder "Billette bitte!" oder "Danke!"

Die Passagiere drehten sich nach ihm um. Sie hofften wohl, eine Spasskanone vor sich zu haben. Solche Menschen trifft man hierzulande gelegentlich im öffentlichen Dienst: Sie betrachten ihren Arbeitsplatz als Bühne für ihr mehr oder weniger sympathisches komödiantisches Talent und begegnen jedem Kunden mit einem blöden Spruch. Sie erfreuen sich erstaunlicher Beliebtheit. Es scheint einen stillen Konsens darüber zu geben: Man sollte jeden belohnen, der wenigstens versucht, unseren angeblich so stieren Alltag mit Humor zu beleben.

Aber dieser Schaffner war keine Spasskanone. Er sagte einfach nur sehr vernehmlich das Übliche. Er war seltsam. Er zog Aufmerksamkeit auf sich und belohnte sie nicht. Er war laut und blieb doch verschlossen.

Erst bei seinem zweiten Durchgang sah ich, dass er Hörgeräte trug.

Da wuchs meine Hochachtung für den Mann. Erst recht, als er einem englischsprachen Fahrgast eine Frage in gutem Englisch beantwortete. Und auch mein Respekt vor seinem Arbeitgeber wuchs. Ich habe selber lernen müssen: Zunehmende Schwerhörigkeit ist ein Hürdenlauf mit höchst sturzgefährlichen Hindernissen - gerade in einer Branche mit viel Kundenkontakt.

* auf Hochdeutsch: Schaffner.

30
Jan
2013

Unfassbar glücklich

Wer auf meine Weise das Gehör verliert, hört eine Menge Lärm. Musik eiert oder scherbelt oder klingt einfach - pardon - beschissen. Alltagsgeräusche sind entweder nicht mehr da, schwer zu identifizieren oder tun in den Ohren weh. Läuft der Computer? Keine Ahnung. Muss erst auf die Lämpchen schauen. Brennt das Essen an? Ja, man riecht es. Autos rieseln - oder sie tun weh. Flüsse chirbschen - oder sie tun weh.

Also habe ich im letzten halben Jahr das Weghören gelernt. Ich habe Untertitel gelesen. Lippen gelesen. Überhaupt: gelesen. Man kann so leben. Aber es war ein dumpfes Leben, ein Leben im emotionalen Dauerhochnebel - graubraun.

Vor lauter Weghören fiel mir kaum auf, dass ich in den letzten Tagen beim Fernsehen die Untertitel nicht mehr brauchte. Erst als Herr T. heute Mittag das Radio einschaltete, merkte ich, dass etwas Merkwürdiges passiert ist. Eigentlich finde ich es eine Zumutung, wenn er das Radio einschaltet. Ich verstehe entweder kein Wort, oder alles tut mir in den Ohren weh. Aber dann erklang dieser Song:



Und etwas Grossartiges geschah: Euphorie durchströmte mich wie ein Schaft Sonnenlicht, der durch eine Wolkenbank bricht. Nun ja, der Song ist so konzipiert ist, dass einen beim Hören eine Mischung aus Euphorie und Abschiedsschmerz durchströmen soll. Aber doch nicht mich! Und doch... der Song eierte nur ein wenig in den Bässen. Er klang nicht falsch. Er machte mich glücklich. Fazit: Ich höre wieder besser.

Es ist nur eine Verschnaufpause, ich weiss es. Aber trotzdem: Ich bin unfassbar glücklich. Erst beim zweiten Hinhören spürte ich den Abschiedsschmerz im Song.

10
Okt
2012

Kindheitserinnerung

Ich war damals noch nicht neun Jahre alt. Das weiss ich. Denn es geschah am Hang vor unserer ersten Wohnung. Ein Hang, der in meiner Erinnerung so unglaublich grün und so voller Wasebürsteli* ist.


(Quelle: www.blackstein.de)

Der Hang gehörte zu den Grünflächen zwischen den Wohnblöcken unseres Quartiers. Ganze Kinderscharen durchstreiften sie und spielten in den Hecken verstecken. Doch wehe, wenn wir in die Rosenbüsche trampelten oder einen Mucks zu viel machten! Dann bekamen wir Ärger mit zwei alten Männern.

Der eine war unser Abwart - Gott habe ihn selig. Er hiess Haessig, und das ist wahr. Und er konfiszierte gerne unsere Dreiräder. Der andere hiess Laut und schimpfte viel. Er schimpft heute noch - als Sprachrohr der ultrakonservativen Katholiken in den Leserbriefspalten unserer Lokalzeitung. Er muss so alt wie Methusalem sein.

Meine Eltern hatten irgendwann genug von Laut und Haessig. Als ich neun war, zogen wir weg. Es muss also vorher passiert sein. Aber ich erinnere mich noch sehr genau daran: Ich stand an jenem Hang, allein. Ich blickte hinüber zu einem Grüppchen anderer Kinder. Ich hörte sie spielen. Und plötzlich hatte ich das Gefühl, sie mit dem linken Ohr nicht mehr richtig zu hören. Es war ein düsterer Moment. Die Ahnung eines grossen Unglücks streifte mich.

Ich weiss noch: Ich entschied mich für einen merkwürdigen Hörtest. Ich warf mich uns Gras und legte mein rechtes Ohr auf die Erde. Ich wollte wissen, ob ich meine Gspänli dann mit dem linken Ohr noch hören konnte.

Doch. Ich konnte sie noch hören. Ich war sehr erleichtert.


* Wasebürschteli (Vasenbürsten) haben in der Schweiz ein gutes Dutzend Namen, zum Beispiel Margritli - zu Deutsch heissen sie wohl Massliebchen

1
Jun
2012

Du bist schön!

Neulich verschlug es mich schon wieder an eine Goldküste - diesmal am Zürichsee. Ein Steuerparadies. Seit den neunziger Jahren herrscht hier explosionsartige Bautätigkeit. Der Ort ist reine Agglomeration. Wenn er ein Gesicht hat, dann habe ich es nicht gesehen. Sondern nur das hier.

Freienbach_Pfäffikon 003

Ich spazierte von Bahnhof hinunter Richtung See. Es war ein heisser Tag, und als ich zu einer Sportanlage kam, hatte ich genug. Ich brauchte etwas zu trinken. Der Sportplatz war offen. Ich ging hinein, bestellte ein Wasser und suchte die Damentoilette auf. Vor den Spiegeln drängelten frisch erblühte Sport-Prinzessinnen mit zarten Wangen, brünetten Locken bis zu den Hüften und T-Shirts in der Siegerfarbe des Gemeindewappens.

"Du bist schön, Kiki!" hörte ich eines der Mädchen rufen, als ich in der Kabine war.

Sie klang wie ein entnervter Teenager. Vielleicht besetzte Kiki schon zu lange mit dem Lidstift in der Hand einen Platz vor dem Spiegel. Vielleicht brauchte Kiki Bestätigung, dass ihr Lip Gloss die richtige Farbe hatte. Aber die Stimme des Mädchens war noch mit etwas anderem aufgeladen, mit etwas sehr Intensivem. War es echte Bewunderung? Begehren? Ich werde es nie wissen. Aber ich habe den Satz lange in mir nachklingen lassen.

30
Apr
2012

Sturm

Ein Föhnsturm brettert über den Vierwaldstättersee
Im Hafen wirft er Boote auf und ab
Sie quieken wie mechanische Säue

Metall knallt auf Metall
Die Glocken einer manischen Kuhherde

Drüben irrlichtert die Sturmwarnung
Und irgendwo wird geschossen, scheint es

Ein Schauspiel! Ein Hörspiel! Grossartig!

29
Apr
2012

Furz

Zu Unrecht ist Die Asche meiner Mutter von Frank McCourt beinahe vergessen.

In den Neunzigern war die Autobiografie eines irischen Amerikaners ein Megaseller, ein wuchtiges, lyrisches und sehr witziges Buch. Am Mittwoch schaute ich mir die DVD zum ersten Mal an. Eine Szene fand ich ausgesprochen merkwürdig: Held Frank (11) liegt schwer krank im Spital in Limerick. Er bekommt vom Priester die letzte Ölung. "Das heisst, das ich sterben werde", erzählt der Held aus dem Off. "Und es machte mir nichts aus. Aber dann kam Doktor Campbell herein und hielt meine Hand. Da wusste ich, dass es mir bald besser gehen würde."

Hier sieht man im Bild den Arzt auf dem Stuhl herumrücken. Frau Frogg - an jenem Tag merklich schwerhörig - runzelte die Stirn über die lange Pause an dieser Stelle. Endlich kam eine Erklärung: "Denn ein Arzt würde nie in in der Gegenwart eines sterbenden Kindes furzen". Da begriff Frau Frogg und wartete auf den Furz. Der kam aber nicht.

Am Freitag schaute ich mir den Film nochmals an. Nicht, weil er ein Meisterwerk ist. Es regnet darin sogar für meinen Geschmack zu viel. Aber ich hörte plötzlich besser und wollte mir nochmals das wunderbare Englisch der zwei Hauptdarsteller Emily Watson und Robert Carlyle anhören.

Diesmal hörte ich auch den Furz von Doktor Campbell - an der dramaturgisch exakt richtigen Stelle.



Da wusste ich, dass es mir wieder besser geht.

Eigentlich sollte ich das gar nicht erzählen. Erstens schreiben Damen nicht über Fürze, und zweitens kann mein Ohr schon heute wieder absaufen.

Ich tue es trotzdem. Man kann Hörenden gar nicht oft genug erklären, was man im Leben verpasst, wenn man nicht hört. Es ist ist nicht immer etwas Lebenswichtiges. Manchmal ist es nur ein Fürzchen. Aber manchmal ist es genau der Ton, der die Musik macht.

15
Mrz
2012

Ich höre

Ich höre unten im Tal den Zug vorbeiklappern
den Widerhall meiner Schritte auf den Fliesen
Ich höre wie das Wasser in der Heizung singt

Ich höre!!!

Die Welt ist voller Geräusche
und hell wie ein Sommertag

Einstweilen
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ein bisschen versuch ich es ja, mir alles widrige mit...
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