9
Mrz
2013

Fred, der Unbeugsame

Nach Recherchen im Internet verstanden wir endlich, wo Fred Feuerstein den wortkargen Herbst 1944 verbrachte: in einem Dorf namens Plouharnel an der Südküste der Bretagne. Sein Bunker gehörte zur Festung Lorient. Dort harrten 10000 Deutsche aus, als die Alliierten die Bretagne längst besetzt hatten (hier mehr darüber). Das gallische Dorf der Unbeugsamen sozusagen - nur gehörte es nicht Asterix und Obelix, und auch von Wildschweinen ist nie die Rede. Die Deutschen stehlen Essen von den Bauern der Nachbarschaft. Und dann und wann kamen ein paar Rationen per U-Boot übers Meer.

In einem Brief vom 6. Januar 1945 schildert Fred, wie es mit ihm soweit gekommen ist - wobei die Reichszensurstelle eine wahrscheinlich hoch interessante Passage mit grünblauem Farbstift dick durchstrich. Danach schreibt er: "Ich war doch am 4. August mit meinem Zweiten Kompanie-Offizier mit dem Wagen auf Dienstfahrt..., und sind wir beide als die Gefangenen der Franzosen erklärt worden, gemeinsam mit ein paar anderen Deutschen. Auf meine Initiative sind wir zwei aber in den richtigen fünf Minuten eines französischen Gequassels ausgerissen und zu unseren deutschen Kameraden und Dienststellen zurückgekehrt. Und in dem Moment, wo das Gefecht in unserem Ort stattfand, waren wir wiederum für eine Sonderaufgabe mit dem Wagen unterwegs, sonst hätte mich der Amerikaner eventuell geschnappt. Aber meine ganzen privaten Sachen sind den Feinden in Erdeven in die Hände gefallen."

Fred hätte also die Gelegenheit gehabt, sich zu ergeben und so einen bescheidenen Beitrag zur Verkürzung des Krieges zu leisten. Aber er tat es nicht. Fürchtete er, Ehefrau Erna und Tochter Ernestina würden dafür bestraft? Eine Stelle in einem Brief vom 2. Dezember legt dies nahe: "Ich hatte in den vergangenen 90 Tagen viele Grübelstunden, und dann bin ich trotzdem nicht übergelaufen. Obschon Kameraden, die abhauten, mich mitnehmen wollten. Ich denke dabei immer an Euer Schicksal. So verlockend oft die Sicherheit in der Gefangenschaft wirkt, so denke ich doch immer an Euer Schicksal, das aus einem solchen gefährlichen Schritte resultieren könnte. Und wenn ich nicht mehr mit dem Leben davonkomme, so könnt Ihr doch annehmen, dass ich die Pflicht Euch gegenüber im Rahmen des nur möglichen erfüllt habe."

Der letzte Soldatenbrief, den Erna von Fred erhielt, trägt den Datumsstempel vom 25. Februar. Noch dauerte es mehr als zwei Monate bis zum Ende des Krieges. Die Deutschen kapitulieren am 8. Mai 1945. Doch die Männer in Plouharnel harren weiter aus.

6
Mrz
2013

Eingeschlossen

Herr T. und ich arbeiteten uns in einer finsteren Winternacht durch die Briefe von Fred Feuerstein. Wir lasen fieberhaft. Herr T.s Grossvater sprach zu uns wie ein Geist. Eilig griffen wir die Umschläge vom Sommer 1944 und danach heraus. Wo war Fred damals? Was erzählt er?

Es muss ihm etwas Merkwürdiges passiert sein. Am 20. August 1944 schreibt er seiner Frau Erna noch ohne Ortsangabe: "Es ist nun schon 16 Tage her, seit wir abgeschnitten sind und acht Tage, seit wir zur Übergabe aufgefordert wurden durch einen Parlamentär. Noch sind wir immer gut verpflegt, wenn auch nur noch der gefahrvolle Seeweg offen ist. Um uns herausnehmen zu können, fehlen die Mittel... Andererseits haben wir Befehl zum Ausharren bis zum letzten Schuss und zum letzten Blutstropfen. … Einige wenige Kameraden sind desertiert... Es ist weit bis zu den anderen Deutschen hinter uns und erst bis zur Reichsgrenze. … Eines ist sicher: dass es nach Abschluss hier für die Überlebenden nur noch die Gefangenschaft gibt."

Dann bricht der Strom seiner Briefe ab.

Abgeschnitten? Nur über den Seeweg erreichbar? Rätselhaft. Und das Schweigen dauert.

Der nächste Brief ist vom 2. Dezember. Auf dem Umschlag klebt ein Streifen mit Hakenkreuz und der Aufschrift: "Geöffnet von der Reichszensurstelle". Fred schreibt jetzt mit Bleistift auf grobfasriges Papier: „Es sind nun 117 Tage, seit wir wie Gefangene eingeschlossen sind." Und er hat seit dem 21. Juni keine Nachricht von Erna. Mehr als fünf Monate.

Im Dezember 1944 folgen mehrere Briefe einander. Sie haben alle Kleber von der Reichszensurstelle, sind alle ähnlichen Inhalts. Fred ist eingeschlossen. Er wartet auf Briefe von Erna. Er ist hungrig. "Man ist halt ab und zu ausgebrochen und hat sich Kartoffeln, Geflügel und Vieh vor der Nase der Feinde bei den französischen Bauern kurzerhand geholt. In der Not wird der Krieger zum Dieb. Freilich gabs dabei auch mal Zünder, aber wir haben ja auch Waffen und Blei."

Seine Isolation versteht er als Sühne für das, was er seiner Familie angetan hat.

Diese Briefe tragen wenigstens eine - nicht sehr gut leserliche - Ortsangabe: Er hat sie in an einem Ort namens Plouhamel oder Plouharnel geschrieben. Am 21. Dezember dann eine Karte mit einem gedruckten Text. Fred darf Weihnachtsgrüsse in die Heimat schicken: „Nachstehende Nachricht wurde durch Funk aus der eingeschlossenen Festung L’Orient am 10. Dezember übermittelt."

Wir griffen nach Google und Wikipedia.

2
Mrz
2013

Freds verlogene Sentimentalität

Fred Feuerstein überlebte den Ansturm der Alliierten im Juni 1944. Er blieb an einem unbekannten Ort in Frankreich und schrieb weiter seiner Frau Erna in Deutschland. Nur das Papier wurde schlechter.

Hatte die Zeit in der Wehrmacht ihn wirklich zu einem Kritiker des Nazi-Unwesens gemacht, wie er später behauptete? Wenn ja, so wäre er jetzt wortkarg gewesen. Wegen der Zensur. Aber er wurde nicht wortkarg. Im Gegenteil. Er gibt dem Drang nach, die Lage neu zu beurteilen. Und er tut es auf eine Art, die meine Sympathie für ihn schwer beschädigt.

So lästert er am 11. Juni über zwei Nachbarn Ernas, die nicht an der Front sind: "Heute kommen die Egoisten an den Tag in der ernsten Stunde. Dass so ein Müller oder Meier noch zu Hause sitzt. Junge Leute, ohne Bresten, gesund und ausgeruht." Fred scheint zu vergessen: In Deutschland herrschte Allgemeine Wehrpflicht. Wer nicht an der Front ist, hat sehr gute Gründe. Oder er profitierte von einer korrupten Stelle im System.

Am 5. Juli hofft er noch immer auf den Sieg: "Ich höre gerade, dass die V-1-Waffe gegen England so schrecklich gewirkt hat und demnächst auch V-2 drankommt, noch stärker."

Ausserdem entdeckt er seinen Hass auf die Franzosen. "Sie haben ein schäbiges, erhabenes Lächeln, als ob sie sagen wollten: Jetzt geht’s …(unleserlich) mit Euch", schreibt er am 9. Juni. Und am 20. August kommt die Stelle, an der sich mir schier der Magen umdrehte: "Die Franzosen sind nun satanisch hasserfüllt feindlich. Und wir haben dieses Sauvolk mit Glacéhandschuhen angefasst und ihre Kriegsgefangenen bei uns so anständig behandelt. Das ist der Dank dafür, dass sie nun hinter Büschen und Mauern lauern und aus den Häusern schiessen auf alles, was deutsche Uniform trägt. So kann nur der Franzose hassen. Er wird uns auch gar nie verstehen lernen. Er will das auch nicht. Wir Deutsche sind doch gewiss keine Engel. Aber wenn wir Frauen und Kinder sehen, dann werden wir weich."

Nichts rechtfertigt die sentimentale Verlogenheit, den blanken Zynismus dieser Stelle. Es waren Deutsche, die 75000 jüdische Frauen, Kinder und Männer aus Frankreich deportierten. Aber vielleicht hat Fred ja nie nach ihrem Schicksal gefragt. Und, naja, vielleicht hatte ihm nie jemand vom Massaker von Oradour vom 10. Juni 1944 erzählt. Dort ermordeten Deutsche 642 Menschen. Die Frauen und Kinder trieben sie in eine Kirche und zündeten das Gotteshaus an.

Aber dass die V-1 Tausende Zivilisten tötete und verletzte, müsste er eigentlich gewusst haben.

Doch, nein: Fred wollte keine Tatsachen sehen. "Wer zum Mörder wird, entwickelt die Begabung, es nicht zu merken", ein Zitat von Julia Voss zu diesem Thema.

Fred schlägt lieber blind mit Worten um sich.

Bis Ende August der Strom seiner Briefe versickert.

27
Feb
2013

Entsetzen in der Holzfabrik

Heute Morgen ist in einer Holzfabrik in der Nähe von Luzern ein Mann Amok gelaufen (Hier mehr). Als ich die Nachricht sah, musste ich zuersst an den scheusslischsten Alptraum meiner Kindheit denken.

Die Holzfabrik in Menznau spielte darin die Hauptrolle. Wir fuhren auf dem Weg zu Verwandten oft mit dem Auto dort vorbei. Es war ein riesiges, düsteres Haus weit draussen auf dem Land. Manchmal steig dicker Rauch aus dem Kamin. Über die Strasse führte eine Eisenbahnschiene. Mit einer Metallschranke konnte man die Strasse sperren, wenn ein Zug kam.

In meinem Alptraum war es Nacht, und die Strasse war gesperrt. Und Papa donnerte mit dem Auto ungebremst auf alles zu. Ich erwachte voller Entsetzen und habe dieses Bild nie vergessen: die schwach erleuchtete Fabrik, die Schranke, die Schienen. Noch als Erwachsene hatte ich ein ungutes Gefühl, wenn ich dort vorbeifuhr.

Obwohl die Fabrik heute viel freundlicher aussieht. Eine Fabrik eben, mit viel hellem Metall gebaut. Einmal fuhr ich mit einem gut gelaunten Wirtschaftsredaktor durch die Gegend. Er zeigte auf jedes grosse Gewerbegebäude und erzählte ein bisschen über die Firma darin. "Da drüben ist die Kronospan", sagte er. Für die Gegend ein bedeutender Arbeitgeber.

Das, was heute dort passiert ist, übersteigt mein Fassungsvermögen für Entsetzen bei weitem.

24
Feb
2013

Er schliesst mit dem Leben ab

Als die Alliierten am 6. Juni 1944 französischen Boden betraten, konnte der deutsche Gefreite Fred Feuerstein nur noch eine kurze Notiz an seine Frau und seine Tochter verfassen (hier nachzulesen).

Dass seiner Welt der Zusammenbruch drohte, hatte er aber bereits im Mai erkannt. Am 21. Mai 1944 schliesst er in einem Brief an seine Frau mit dem Leben ab. Ihn plagen Schuldgefühle: "'mea culpa‘ muss ich mir immer wieder sagen. Wahrhaftig eine harte Sühne. … Ich möchte jetzt nicht gerne scheiden und bei meiner Familie einen Berg von Schuld hinterlassen, ungesühnt und nicht wieder gut gemacht wie ein trauriger Lump, dem alles gleich ist. Sollte mir ein Leid geschehen, … so nehme Du, meine innigst geliebte … meinen herzlichen, tiefgefühlten Dank für alles, aber auch restlos alles, was Du vom ersten Tag an unserer jungen Liebe über die 20 Jahre hinweg mir und meinem Kinde geopfert hast. … Sollte ich nicht wiederkehren, dann bitte ich Dich, dem Kinde eine gute Erziehung und Schulung angedeihen zu lassen und dass in ihm nur meine guten Tugenden fortleben werden, nicht aber etwaige Erbansätze negativer Art auswachsen können."

Was ist es, was Fred nun so bitter bereut? Genau können wir es nicht sagen. Sicher ist, dass er in der Schweiz geschäftlich gescheitert war und einen Berg Schulden hinterliess. Er suchte in Grossdeutschland mit Frau und Tochter ein neues Auskommen - was in der Familie nicht auf ungeteilten Begeisterung stiess. So schreibt der 41-jährige Fred am 11. März 1943 aus der soldatischen Schnellbleiche irgendwo in Österreich: "Die Briefe von (Deiner) Mutter in Aarau sind ja recht blöd und ein Teil der Zeilen von Dorli* auch. Wenn die glauben, Dich und Ernestinli hinein (in die Schweiz) zu lotsen, dann mögen sie es tun. Ich glaube zwar kaum, dass Du neugierig wärest... der Mutter den "Holmer"** zu machen und dann noch die materiellen Sorgen. Die Mutter jammert ja selber im gleichen Brief über die Teuerung. Lies einmal richtig die Inkonsequenz im Brief! ... Gib ihnen doch einmal klar und deutlich zu verstehen, dass Du es hier doch trotz des Krieges materiell sorgenfrei hast."

Nur eben: Ein Jahr später war es mit der Sorglosigkeit vorbei. Ehefrau Erna und Tochter Ernestina lebten in einer Stadt, auf die 1944 Bomben fielen. Fred begriff, dass seine Emigration aus der Schweiz ein Fehler gewesen war.

Er muss verzweifelt gewesen sein, voller Scham - und wütend. Gegen wen aber richtete sich seine Wut? Gegen den so genannten Führer? Gegen die Ideologie, der er aufgesessen war? Noch stellt er offenbar die nationalsozialistische Vererbungslehre nicht in Frage. Und sonst?

Wir werden sehen.

* Schwester von Erna
** "Holmer" ist schweizerdeutsch und kommt von "Hol mir". Der "Holmer" ist etwas ähnliches wie der Schani: Einer, der für den Chef unbequeme Arbeiten erledigt.
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Journal einer Kussbereiten

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