2
Mrz
2013

Freds verlogene Sentimentalität

Fred Feuerstein überlebte den Ansturm der Alliierten im Juni 1944. Er blieb an einem unbekannten Ort in Frankreich und schrieb weiter seiner Frau Erna in Deutschland. Nur das Papier wurde schlechter.

Hatte die Zeit in der Wehrmacht ihn wirklich zu einem Kritiker des Nazi-Unwesens gemacht, wie er später behauptete? Wenn ja, so wäre er jetzt wortkarg gewesen. Wegen der Zensur. Aber er wurde nicht wortkarg. Im Gegenteil. Er gibt dem Drang nach, die Lage neu zu beurteilen. Und er tut es auf eine Art, die meine Sympathie für ihn schwer beschädigt.

So lästert er am 11. Juni über zwei Nachbarn Ernas, die nicht an der Front sind: "Heute kommen die Egoisten an den Tag in der ernsten Stunde. Dass so ein Müller oder Meier noch zu Hause sitzt. Junge Leute, ohne Bresten, gesund und ausgeruht." Fred scheint zu vergessen: In Deutschland herrschte Allgemeine Wehrpflicht. Wer nicht an der Front ist, hat sehr gute Gründe. Oder er profitierte von einer korrupten Stelle im System.

Am 5. Juli hofft er noch immer auf den Sieg: "Ich höre gerade, dass die V-1-Waffe gegen England so schrecklich gewirkt hat und demnächst auch V-2 drankommt, noch stärker."

Ausserdem entdeckt er seinen Hass auf die Franzosen. "Sie haben ein schäbiges, erhabenes Lächeln, als ob sie sagen wollten: Jetzt geht’s …(unleserlich) mit Euch", schreibt er am 9. Juni. Und am 20. August kommt die Stelle, an der sich mir schier der Magen umdrehte: "Die Franzosen sind nun satanisch hasserfüllt feindlich. Und wir haben dieses Sauvolk mit Glacéhandschuhen angefasst und ihre Kriegsgefangenen bei uns so anständig behandelt. Das ist der Dank dafür, dass sie nun hinter Büschen und Mauern lauern und aus den Häusern schiessen auf alles, was deutsche Uniform trägt. So kann nur der Franzose hassen. Er wird uns auch gar nie verstehen lernen. Er will das auch nicht. Wir Deutsche sind doch gewiss keine Engel. Aber wenn wir Frauen und Kinder sehen, dann werden wir weich."

Nichts rechtfertigt die sentimentale Verlogenheit, den blanken Zynismus dieser Stelle. Es waren Deutsche, die 75000 jüdische Frauen, Kinder und Männer aus Frankreich deportierten. Aber vielleicht hat Fred ja nie nach ihrem Schicksal gefragt. Und, naja, vielleicht hatte ihm nie jemand vom Massaker von Oradour vom 10. Juni 1944 erzählt. Dort ermordeten Deutsche 642 Menschen. Die Frauen und Kinder trieben sie in eine Kirche und zündeten das Gotteshaus an.

Aber dass die V-1 Tausende Zivilisten tötete und verletzte, müsste er eigentlich gewusst haben.

Doch, nein: Fred wollte keine Tatsachen sehen. "Wer zum Mörder wird, entwickelt die Begabung, es nicht zu merken", ein Zitat von Julia Voss zu diesem Thema.

Fred schlägt lieber blind mit Worten um sich.

Bis Ende August der Strom seiner Briefe versickert.

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trox - 5. Mär, 23:06

War's das jetzt mit der Fred Geschichte ... dieser Anti-Klimax vom "Mörder der sich nicht mehr spürt?" Hat er denn gemordet oder ist er sensu Tucholsky als Soldat Mörder? Kommt jetzt die Feuerstein-Katharsis? Oder ein Nachwort zur Definitionsmacht von Kriegsverbrechen?

Auf jeden Fall thanks for sharing

diefrogg - 6. Mär, 15:11

Nein, nein, nein!

Trox, Du hast nicht aufgepasst ;) Die Geschichte ist noch nicht fertig! Da hängen noch mindestens zwei Handlungsstränge lose! Aber es freut mich, dass Du zu den Lesern gehörst, die begriffen haben, dass die Frage im Zentrum dieser Geschichte mit dieser Folge - beinahe - beantwortet ist.

Und, ja: Das Zitat ist im Sinne von Tucholsky zu verstehen. Auch wenn es sich im Original nicht auf den - vergleichsweise harmlosen - Fred Feuerstein bezieht, sondern auf den fiktiven Schlächter Maximilian von Aue in "Die Wohlgesinnten", einen ausgesprochen üblen Kerl. Ich meine: Ob Fred tatsächlich getötet hat, wissen wir nicht mit Sicherheit, können es aber vermuten. Schliesslich wurde er zum Schützen ausgebildet und ergo aufs Töten vorbereitet - also auch darauf, dem Töten keine grosse Bedeutung zuzumessen.
walküre - 6. Mär, 14:35

Ich hätte eine Läuterung vorgezogen, aber die war wohl auf weiten Strecken von dieser Generation nicht zu erwarten. Schade in jeder Beziehung.

(Danke nochmals fürs Teilhabenlassen, trotzdem. Oder genau deswegen.]

diefrogg - 6. Mär, 15:45

Danke für den...

Kommentar, Frau Walküre. Sie werfen da eine interessante Frage auf: Warum kann man diese Läuterung nicht erwarten? Weil der moderne Mensch einfach nicht zugeben kann, dass er sich geirrt hat? Weil er sich selber lieber als Opfer der Umstände darstellt?
walküre - 6. Mär, 16:40

Pfuuh, eine wahrhaft geistig schweißtreibende Frage, die Sie da stellen. Den Menschen, sofern sie als "arisch" galten, wurde ja damals eingeredet, etwas besseres zu sein. Etwas sehr viel besseres, um es präziser zu formulieren. Ich kann mir gut vorstellen, dass Bewusstsein, welches über Jahre hinweg mit allen möglichen Mittel der Propaganda überhöht wird, sich immens schwer damit tut, wieder auf ein realistisches Maß zu schrumpfen, geschweige denn, Fehler einzusehen und einzugestehen. Herrenmenschen pflegen nicht zu irren. Und denjenigen, die es wagten, das System in irgendeiner Form im Frage zu stellen, galten im Mindestfall als Nestbeschmutzer. Ich kann mich nur allzu gut daran erinnern, wie in meiner Kindheit im Innviertel über Franz Jägerstätter hergezogen wurde. Hätte er die Nazis überlebt, wäre er wahrscheinlich der Lynchjustiz zum Opfer gefallen, dabei hatte er doch nur das getan, was alle hätten tun sollen: Nachdenken.
diefrogg - 6. Mär, 17:33

Interessante Geschichte!

Ich hatte ja bislang eher den Eindruck, dass man nach dem Krieg den Mantel eines eher unbehaglichen Schweigens über die Dinge breitete, die sich vorher zugetragen hatten. Hierzulande war es jedenfalls so. In der Schweiz gab es ja auch nicht nur Leute, die wie die Teufel gegen braune Aggressoren gekämpft hätten, wenn sie denn gekommen wären. Von den finsteren Geschäften, die unsere Industrie und unsere Banken damals mit den Deutschen trieben mal ganz zu schweigen.

Deshalb möchte ich keinesfalls den Eindruck erwecken, dass ich mich besser verhalten hätte als Fred Feuerstein - was immer das heissen mag. Ich weiss, dass es Versuchungen gibt, denen auch ich erlegen wäre. Zum Glück blieb unsere Generation vor solchen Tests unserer Rechtschaffenheit verschont.

Aber nachher noch über einen so eigenständigen Geist herzuziehen - das ist schon ein starkes Stück.
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