20
Feb
2013

Als die Amerikaner kamen

Der 6. Juni 1944 ist ein Wendepunkt in der Geschichte Europas. An jenem Tag landeten die Alliierten an der Küste der Normandie. Der Sieg über die Hitler rückte in Griffnähe. Es ist ein fürchterlicher Tag: Gegen 4500 junge Amerikaner, Briten und Kanadier und zwischen 5000 und 9000 Deutsche verlieren ihr Leben. Es war ein Dienstag.

Dass die Invasion drohte, wusste Fred Feuerstein, der als deutscher Gefreiter* irgendwo an der Westfront sass. Doch wann? "Möglicherweise kommt der Thommy überhaupt nicht", schreibt er noch, als er am 4. Juni wie jeden Sonntagabend einen Brief für seine Frau Erna beginnt. Bis er richtig loslegen kann, wird es diesmal Montag. Er berichtet: "Schau, ich wollte gestern den Sonntagnachmittag mit Briefeschreiben verbringen. Erst musste ich mich rasieren, waschen und vom Mittagsschlaf bin ich erst um 16.30 Uhr erwacht. Abendbrotstülle essen und schon ist es aus mit der Freizeit. Da schreit einer: 'Gefreiter Brodmann, sofort aufs Büro!' Dolmetschen. Wie ich zurückkomme, fragt schon der Zweite Kompanie-Offizier: 'Feuerstein, schauen Sie mal, wo ich etwas Schönes zu fressen kriege.' Also wieder ins Dorf. Er geht aber gleich mit. Weil er niemanden hat, schleppt er mich zu einer Tournée von Kneipe zu Kneipe. Und wies die pommerschen Schnapspreussen haben: zu jedem Glas Wein einen grossen Cognac."

Auch die französischen Besatzten fanden wohl diese Trinkgewohnheiten etwas merkwürdig.

Fred versucht nüchtern zu bleiben. Doch die Zumutungen gehen noch weiter: "Dann musste ich ihm Gesellschaft leisten beim Essen, aber selber zahlen! Die Getränke hat er freilich gezahlt … der Herr Oberleutnant war blau, blau. Nun muss ich in der Früh um sechs Uhr wieder aufstehen und heute Nacht wieder Wache schieben, während der Monsieur, einem guten, fabelhaften Franzosenbett schlafen kann bis am Vormittag."

Dann schimpft Fred über Kleinkram und Papierkrieg - bis der Brief, bislang sorgsam mit blauem Füller geschrieben, plötzlich abbricht.

Die letzte Seite beginnt er neu. Er schreibt hastig und mit Bleistift - offenbar am Morgen des 6. Juni: "Liebste Erna! Herzallerliebste Ernestina**! Diese Wache-Nacht gabs Alarm. Wie Ihr vernommen habt, ist der Thommy am Angreifen und wie. Es wird hart auf hart gehen. Ich schreibe an vorderster Linie, wo ich den Chef hinbegleitet habe. Nun verlasse ich mich aufs Glück. Solltet Ihr vielleicht später lange nichts hören, dann soll Dorli*** beim Roten Kreuz anfragen in Genf. Habt mich lieb, wie ich Euch bis zum letzten Pulsschlag liebe und nochmals innig küsse, Euer Pappa, Dein Fred."



* Die Bedeutung der Tatsache, dass Fred 1944 schon seit längerer Zeit Gefreiter ist, wurde mir erst bei der zweiten Lektüre der Briefe klar. Das heisst: Wenn seine "wehrkraftzersetzenden Äusserungen" überhaupt je stattgefunden haben, dann viel früher. Fred wäre nicht aufgestiegen, wenn er sich nicht angepasst verhalten hätte - oder mehr. Noch im Frühjahr 1944 bemüht er sich um eine weitere Beförderung. Die wird ihm jedoch verweigert - wegen der kritischen Lage werde zurzeit niemand mehr befördert, lässt man ihn wissen.

** Ernestina ist Fred Feuersteins Tochter, die Mutter von Herrn T.

*** Herrn T.s Grosstante Dora, Schwester von Erna Feuerstein. Sie war - wie Erna - Schweizerin.

16
Feb
2013

Fastenzeit

Seit dem letzten Mittwoch ist in der kaholischen Welt theoretisch Fastenzeit. Es ist vorbei ist mit dem Genuss von Fasnachtschüechli, Schenkeli (Bild)


(Quelle: www.lemenu.ch)

und anderen Kalorienbomben aller Art, inklusive Schoggi.

Theoretisch. In der Praxis quellen im Supermarkt längst die Ostereili-Säckchen aus den Regalen.

Die 40-tägige Askese im Frühjahr soll ja eine spirituelle Wirkung haben: Der Verzicht soll den Menschen empfindsam machen für die österliche Offenbarung. Auch das Teilen ist in der Fastenzeit ein grosses Thema. Noch immer gibts in der Schweiz die violetten - ökumenischen - Fastenopfer-Tütchen, in die man in der Fastenzeit Geld für Soziales legen kann. Wahrscheinlich landen sie nicht nur im Hause Frogg im Altpapier.

Und doch bedient die Idee des Fastens zwei Bedürfnisse der modernen Europäerin: jenes nach schlankeren Hüften und jenes nach dem wohligen Gefühl, etwas für seine Spiritualität zu tun. Die Folge: Wellness-Fasten-Wochen und Saftkuren sind schwer im Trend und in verschiedenen Preisklassen zu haben.

Ich habe dem ganzen Fasten-Klimbim stets misstraut. Wegen meinem Hang zu ausladenden Hüften habe ich früher viel gefastet. Eine tiefere spirituelle Empfänglichkeit habe ich davon nie bekommen. Nur Hunger und zittrige Knie.

Dieses Jahr habe ich eine neue Theorie, weshalb die katholischen Kirchenväter in grauer Vorzeit das Fasten im Februar erfanden: Wahrscheinlich machten sie aus der Not eine Tugend. Ich meine: Im Februar muss früher sowieso Schmalhans Küchenchef gewesen sein. Die Vorräte gingen zur Neige, aber die Böden gaben erst im März etwas Neues her - und zwar höchstens Bärlauch und Löwenzahn. Ein Freund, der während der Rubel-Krise eine Sägerei in Russland reorganisierte, hat mir einmal erzählt: "Am meisten Särge bauen wir im Februar". Grund: "Gegen das Winterende gehen bei den alten Leuten das Feuerholz und die Lebensmittelvorräte aus. Weil sie nichts mehr zu essen haben, fehlt ihnen die Kraft, Feuerholz zu suchen. Dann erfrieren und verhungern sie.»

Das würde auch erklären, warum zum Fasten das Teilen gehörte: Was man noch hatte, sollte man den Bedürftigen geben, damit möglichst viele überlebten. Wenn ich heute lese, dass wieder Kinder in Südeuropa hungern, dann überlege ich mir, ob ich wenigstens die Idee des Teilens etwas näher betrachten sollte.

Was das Fasten betrifft: Am Mittwochabend hatte ich nach einem Schneespaziergang doch wieder ordentlich Lust auf Fettgebackenes. Ich freute mich, als Herr T. sein letztes Schenkeli mit mir teilte.

13
Feb
2013

Dürre und düstere Wolken

Wir erinnern uns: Noch am 11. Mai 1944 berichtete Soldat Fred Feuerstein (42) gut gelaunt von einer Einkaufstour in Paris. Doch innert zwei Wochen veränderte sich seine Stimmung dramatisch. Was er am 28. Mai 1944 seiner Frau Erna schreibt, ist ein eindrückliches Dokument des Unbehagens: „Nun ist heute ein Pfingstsonntag hell und klar und heiss, dass man im Schatten dauernd schwitzt. Die wenigen Bauern, die noch Weiden haben, sind mitten im 'Heuet' drin. Es ist seit Tagen wahnsinnig trocken. Immer etwas Wind und klare Sonne, so dass nichts mehr wachsen kann vor Dürre.

Es gibt kein Gemüse mehr, das alte ist weg und das Neue sollte Regen, Regen haben. Die Civiles haben seit vier Wochen nun kein Brot. Die alten Kartoffeln sind ziemlich alle fertig und da fressen die Bauern halt die Eier selber. Es ist eine grosse Misere. Seit vielen Tagen hat man auch keinen Strom, also kein Radio, keinen Kocher, nichts. 'Scheisse'. Keine Limonade, kein Bier, weil die Maschinen nicht laufen ohne Strom. Trinkwasser gibt’s keines. Alles Zisternenwasser ist zu gefährlich. Wir sind wieder gegen Cholera gespritzt worden. Ich habe heute leichtes Fieber davon.

... Von wegen Urlaub hört man schon gar nichts. Es wird auf lange Sicht gesperrt bleiben. Die Transporte sind ja heute soo schwierig, der Thommy hat nun eine neue Taktik, indem er die Bahnanlagen vorwiegend in Arsch haut, um in ganz Europa die Misere zu fördern und unseren Nachschub zu stören. Aber glücklicherweise ist die Verkehrsdichte sehr, sehr gross, so dass auf Umwegen immer mal durchzukommen ist. Aber nach Hause käme ich eben schon nur langsamer wie früher.

Nun liegt ja schon seit Tagen eine Spannung auf Führung und Truppe, weil die „Hunde“ nicht kommen. Jeden Tag wird unsere Abwehr stärker, aber das in den Kleidern schlafen wird schon auch zu bunt. Ich kann nicht mehr einkaufen fahren. Die Kantine ist langsam leergekauft."

Am Schluss versucht er dann doch noch, wieder Normalität zu etablieren - aber es gelingt ihm nicht: "Die Badehauben habe ich noch nicht holen können, weil ich nicht nach Rennes hin konnte. Möglicherweise komme ich demnächst doch noch einmal auf Fahrt, wenn der Thommy nicht kommen sollte und wieder etwas lockerere Bestimmungen sein werden. … Wir haben neue Leute, Volksliste III erhalten, aber gute Kämpfer, die meisten mit Auszeichnungen, zum Teil Cassino-Kämpfer aus Italien. Wir müssen Leute abgegeben, auch keine schlechten Soldaten."

Acht Tage später wird sich die Spannung entladen - mit der Landung der Alliierten in der Normandie. Mehr darüber später.

9
Feb
2013

Französin mit Chic

Was tat Fred Feuerstein eigentlich 1944 in Frankreich? Wo war er stationiert? Herr T. hatte seinem Grossvater nie solche Fragen gestellt. Nur an eine Geschichte erinnert sich mein Liebster. Fred muss sie seinen Enkeln gern erzählt haben: Einmal habe er drüben in Frankreich unter Kollegen seine Meinung zu laut herausposaunt. Er habe ja so lange in der Schweiz gelebt. Da habe er sich eben nicht daran gewöhnen können, dass man unter Deutschen gewisse Dinge nicht sagen durfte. Zur Strafe sei zur Minenräum-Truppe befohlen worden - ein Selbstmordkommando. Nur weil einem Offizier das Leben rettete, sei er da wieder rausgekommen. Klar, warum er die Story so gern erzählte: Sie macht ihn zum Helden und entlastete ihn vom Verdacht, ein Nazi gewesen zu sein.

Die Briefe aus dem Frühjahr 1944 zeigen uns aber ein anderes Bild von Fred: Zu jener Zeit war er als Fahrer und Dolmetscher tätig - er hatte ja in der Schweiz Französisch gelernt.

Und noch am 11. Mai schwelgte er in den Freuden des Eroberer-Daseins. Er schreibt seiner Frau Erna nach einem Aufenthalt, wahrscheinlich in Paris*: "Kurz vor meiner Abreise habe ich ... einen fabelhaften, schweren Seiden-Brokat-Stoff gekauft. Zwei Meter in frais-rouge. Ich glaube, dass es fast zwei Blousen gibt. Es ist eine so schwere Qualität wie man sonst nirgends mehr findet. Ich hätte es als ‚Boche‘** nicht erhalten, ausser zu einem noch viel höheren Preis. Eine Demoiselle, die in Mode schwimmt, aus reichem Hause, chic, distinguée…, hat ihn für sich kaufen müssen. Ich habe das Paketchen einem Kameraden hinterlassen zur Mitnahme in die Heimat.“

Die Passage erinnert frappant an Bertolt Brechts Ballade Was bekam des Soldaten Weib:



Fred kannte das Lied sehr wahrscheinlich nicht. Brecht hatte es 1943 im amerikanischen Exil verfasst - in Deutschland bekam man es wohl nicht zu hören. Fred kannte demnach auch den düsteren Schluss nicht. Doch auch er sah dunkle Wolken heraufziehen. Er mahnte Erna - vorsichtig - zur Mässigung bei ihren Bestellungen. Er habe ihr auch einen Füllfederhalter für eine Nachbarin, Nagellacke, Augenbrauenstift, Lavendel in Beuteln, eine feine Seife und einen Rasierpinsel - wohl für einen Nachbarn - gekauft, schrieb er. Aber nun war es genug: "Du hast nun sehr viele Wünsche, allerdings lauter nützliche Dinge, die man in der Grosssstadt noch erhält, obzwar alles wahnsinnig teuer ist ... Ich mache, was ich kann…"

Und er orakelt: "Aber eben, es kommt ja doch noch zuerst eine ganz grosse Sache, eine Schlächterei, bevor unsere Feinde fertig sind. ... Sie getrauen sich vielleicht gar nicht, auf dem Lande zu kämpfen. In der Luft sind sie jetzt schon saufrech. Sie hauen schon die französischen Städte in Trümmer.“

Wir, die wir die Gnade der späten Geburt haben, wissen: Im Bezug auf die "Feinde" irrte er sich. Doch darüber später mehr.

* Wo er stationiert war, fanden wir zunächst nicht heraus. Alle Briefe waren mit "O. u." oder "am alten Ort" datiert - die Soldaten durften nicht schreiben, wo sie waren.
** Französisches Schimpfwort für die deutschen Besatzer.

6
Feb
2013

Bordelle und eheliches Vertrauen

Ich näherte mich Fred Feuersteins Briefen aus dem Zweiten Weltkrieg mit grossem Respekt. Er hatte sie ja nicht für die neugierige Nachwelt verfasst. Sondern für seine Frau - und auch für seine 1944 zehnjährige Tochter.

Vor allzu intimen Geständnissen würde dies wohl ihn und mich schützen, dachte ich. Zusammen mit dem Umstand, dass damals Zensurstellen über die Äusserungen der deutschen Soldaten wachten. Fred wusste das sicher. Mich machte es misstrauisch. "Wie aussagekräftig sind solche Dokumente überhaupt?" fragte ich mich. Und auf Nazi-Gerede wollte ich mich sowieso nicht einlassen.

Schliesslich war die Neugier stärker. Ich griff nach dem obersten Brief im Stoss. Schnell stellte ich fest: Fred konnte schreiben. Schon im ersten Brief vom 19. März 1944 wartete er mit happigem Stoff auf. Er berichtet: "Gestern habe ich Rennes einen Kameraden der Schreibstube im Krankenlazarett besucht. Er ist in der Abteilung Geschlechtskrankheiten. Du, da stehen einem die Haare fast zu Berge, wie da junge Männer, Burschen fast, auf allen Vieren daherkriechen vor Schmerzen. Selten einer kann aufrecht gehen. Einfach schauderhaft, ekelhaft und belehrend. Das sind meistens Leute, die sich mit einer wilden Dirne einliessen und infiziert wurden. In allen Städten hat es doch die kontrollierten Häuser für die Säue. Mich ekelt heute solches Leben geradezu an." Dann versichert er seine Frau kurz seiner Treue. Das eheliche Vertrauen scheint intakt gewesen zu sein.

Eine kurze Recherche im Internet zum Thema ist nichts für sensible Gemüter: Gegen eine Million deutsche Soldaten zogen sich im Zweiten Weltkrieg Geschlechtskrankheiten. Sie verbreiteten sie weiter unter den bedauernswerten Frauen, die sich in den besetzten Gebieten prostituierten. Die Alliierten hatten dagegen Penicillin - für die Soldaten. Die Deutschen offenbar nicht. Hier ein Link. Und der Begriff "wilde Dirnen" stammt durchaus aus dem nationalsozialistischen Sprachgebrauch - er bezeichnete Frauen, die nicht in den von Nazis ärztlich versorgten Bordellen anschafften.

Genug davon.

Als Kontrastprogramm hier noch ein Link: Der Tagesanzeiger berichtet über 22 ostschweizer Schulmädchen, die dem Bundesrat 1942 einen Protestbrief schrieben. Sie kritisierten, dass die Schweiz damals Juden an der Grenze zurückwies - hat uns heute ein Enkel von Fred Feuerstein gemailt. Das waren Mädchen mit Zivilcourage!
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