17
Mai
2012

Wo nachts die Huren stehen

Die Riedstrasse liegt keine 500 Meter von unserem Haus entfernt - aber bis vor kurzer Zeit kannte ich sie so gut wie gar nicht. Das hat zwei Gründe: Erstens war sie lange Zeit fest in der Hand der Schreber..., pardon, Familiengärtner. Und diese wissen Fremdlingen gut zu verstehen zu geben, dass sie hier nichts verloren haben. Zum Beispiel mit blickdichten Hecken wie im Mittelgrund des Bildes:

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Zweitens liegt die Gegend hinter einem mit Fussgängerstreifen nur sehr spärlich bestückten Autobahnzubringer. Aber in letzter Zeit hat auch der Verkehr die Gärtner nicht vor Unruhe bewahrt. Vor einiger Zeit zog gar der Strassenstrich vom neuen Mittelstandsquartier Tribschenstadt hierher. Als ich das in der Zeitung las, erwachte mein Interesse. Ich wollte die Gegend sehen - nicht mit den Augen der argwöhnischen Anwohnerin. Auch nicht als Voyeurin - weshalb ich einen verregneten Sonntagnachmittag für meinen Ausflug wählte. Ich ging einfach als Flaneurin mit offenen Augen hin. Und fand einen menschenleeren Stadtteil voller düsterer Wunder.

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Etwa diesen riesigen Tunnel. Ein Bekannter von mir behauptet, es handle sich um einen Lärmschutztunnel-Prototyp für die Autobahn. Aus den siebziger Jahren. Soll sich als völlig nutzlos erwiesen haben. Ich weiss nicht, ob das stimmt. Mich erinnert der Bau eher an die mächtigen Gewächshäuser in den Kew Gardens von London - die allerdings wohl erst nach der Apokalypse so aussehen werden.

Der Bau, umgeben von Komposthaufen, liegt am Reuss-Rotsee Kanal - unter dem man sich aber kein schiffbares Gewässer vorstellen sollte.

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Er ist vielmehr ein munterer Bach, der lediglich der künstlichen Bewässerung des Rotsees dient. Der See liegt auf der besseren Seite des Autobahnzubringers und ist bei Spaziergängern sehr beliebt. Was man vom Kanal nicht behaupten kann. Es gibt hier zwar ein paar Naturpfad-Tafeln, die Flora und Geographie erklären. Doch bin ich wahrscheinlich die erste Spaziergängerin, die diese Tafel überhaupt gesehen hat. Schade, denn da stehen ein paar interessante Dinge. Zum Beispiel: Vor der letzten Eiszeit floss die Reuss hier Richtung Aargau. Aber am Ende der letzten Eiszeit blieb Toteis wie ein Deckel über dem Tal liegen. Deshalb suchte sich der Fluss einen anderen Weg. Feucht ists geblieben. Davon zeugt schon der Name "Riedstrasse".

Ebenfalls am Kanal liegen die WCs der Familiengärtner. Dass man sie nicht für die Weltöffentlichkeit gebaut hat, legen die Schildchen auf der Tür nahe - sie müssen aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts stammen.

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Am Häuschen hängt auch dieser Cartoon:

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Er ist beredtes Zeugnis dafür, dass die Familiengärtner hier nicht nur gute Zeiten gesehen haben. Offenbar war hier früher eine Mülldeponie. Die Stadt hat zwar die Böden einmal saniert. Das heisst: "Sie haben einfach einen halben Meter Erde über den alten Boden gekippt", hat mir einmal ein Familiengärtner erzählt. Kommt noch dazu, dass einige der Gärtner bald weichen müssen. Denn die Stadt will hier bauen. Die Rede ist von einem Park mit durchgehendem Spazierweg bis zur Reuss.

Ja, und zuhinterst im Tal liegt das ferne Ende des Friedhofs - ein malerischer Ort mit gepflegtem Rasen und asphaltierten Wegen. Aber ebenfalls vollkommen still, mit vergessenen Grabsteinen aus den siebziger Jahren - im Hintergrund weiden Schafe.

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Neben dem Friedhof gibt es einen Parkplatz, wahrscheinlich der einzige, der oft so gut wie leer ist. Das weiss ich, weil ich hier meine erste Fahrstunden hatte. Motor anmachen, Fuss von der Kupplung, Gas geben. Heute ist er wahrscheinlich Hauptschauplatz des neuen Nachtbetriebs. Das legt jedenfalls dieses Bild nahe:

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Aufgenommen an der Riedstrasse in der Nähe des Friedhof-Parkplatzes.

Nicht nur die Familiengärtner sind über den Einzug der Prostitution in "ihr" Areal irritiert. Auch die städtische Linke findet den Ort für solche Geschäfte ungeeignet: Die Frauen seien in dieser verlassenen und schwer zugänglichen Gegend weniger sicher als in der Innenstadt und müssten sich von Zuhältern herfahren und "beschützen" lassen. Ein Argument, das ich gut nachvollziehen kann.

16
Mai
2012

Kind auf dem Friedhof

Anatol (8, bald 9) hat ein ausgeprägtes Flair für Zahlen. Wie besessen studiert er die Ranglisten von Sportereignissen - sehr zur Verwunderung seines an Sport eher desinteressierten Vaters. Auch Frau Frogg's neuer Schrittzähler weckte sofort sein Interesse.

Bei einem Spaziergang kamen wir mit ihm über dem Friedhof. Nun, ich gebe zu: Es gibt kindgerechtere Spaziergänge als jenen durch unseren städtischen Hauptfriedhof. Aber Anatol schien unsere Routenwahl überhaupt nicht zu stören. Im Gegenteil: Ständig blieb er stehen, rechnete, wies auf einen Grabstein und rief fröhlich: "Schau mal: Der ist 73-jährig geworden!" Oder, beim Gemeinschaftsgrab eines Nonnenordens: "Guck, die Frau da wurde 103 Jahre alt!" - Tatsächlich: Da lag eine Nonne, die von 1856 bis 1959 gelebt hatte. Ganz nebenbei lernten wir Erwachsenen: Das Klosterleben muss schon früher aussergewöhnlich gesund gewesen sein.

Und ich fragte mich: Sind solche Rechnereien für einen Achtjährigen einfach nur Rechnereien - oder sind sie erste Versuche, das Leben irgendwie zu ermessen?

12
Mai
2012

Dazugehören

In meiner Zeit als Lokaljournalistin habe ich, weiss Gott, eine Menge Vereinsversammlungen gesehen. Aber jene, bei der ich kürzlich war, war die Aussergewöhnlichste. Im Saal sassen rund 50 Frauen - etwa ein Drittel von ihnen im Rollstuhl. Unter zwei Stühlen ruhten Blindenhunde - und vorne gestikulierten zwei Gebärdendolmetscher. Die Präsidentin, stark schwerhörig, führte mit zwei Mikrofonen souverän und selbstbewusst durch den Anlass. Es war die Jubiläumsfeier eines Netzwerks für Frauen mit Behinderung.

Am Eingang drückte man mir nicht nur den Jahresbericht in die Hand, sondern auch einen Stimmrechtsausweis. Das heisst: Ich gehöre zu diesem Verein. Mit einem unerwarteten Glücksgefühl griff ich nach dem gelben Zettel. Ich bin sonst kein Vereinsmeier. Während meiner Zeit als Journalistin beobachtete ich solche Anlässe liebend gerne still und machte mir so meine Notizen. Aber diesmal nahm ich den Ausweis nicht nur. Ich reckte ihn auch freudig in die Höhe, wenn wir - meist einstimmig - über ein Traktandum abstimmten.

In den Pausen diskutierten und plauderten wir. Die Frauen sind klug, viele gut ausgebildet, viele abgeklärt. Viele haben mehr durchgemacht als ich. Und doch erlauben sie sich zu denken, stehen sie im Leben. Ich ahnte: Irgendwo gibt es etwas anderes als diese perspektivearme Existenz in meinem düsteren Bürokabäuschen, die ich zurzeit führe.

Doch dann kehrte ich zurück in mein Städtchen, zurück zu meinen einsamen Spaziergängen, zurück in mein Bürokabäuschen. Und mir wurde klar: Ich habe keine Ahnung, wie ich aus dieser Existenz wieder herauskomme. Vielleicht, dachte ich plötzlich, vielleicht will ich sie sogar.

Da verging mir sogar die Lust aufs Bloggen.

Flaschengrüne Aussichten

Es ist kein gutes Zeichen, wenn ich keine Lust zum Bloggen habe. Schreiben gibt mir Kraft. Es ist bei mir wie bei diesem kampflwütigen Riesen in der griechischen Mythologie: Er bekam seine Kraft von Mutter Erde. So lange er sie berührte, war er unbezwingbar. Antaios hiess er. Als Herkules ihn besiegen wollte, hob er ihn in die Luft.


(Bild von Antonio Pollaiuolo ca. 1478)

Da war es aus mit dem Riesen. Wenn ich nicht schreibe, dann fühle ich mich wie Antaios in den Armen von Herakles. Ich schwebe in der Luft, aber ich kann nicht mehr atmen. Das Licht ist weich und flaschengrün, und es erstickt mich. Manchmal denke ich, nur schreibend könnte ich überhaupt zur Riesin werden.

2
Mai
2012

Flucht vor sich selber

Albert Nobbs ist mit Sicherheit der traurigste Film, den ich je gesehen habe. So tief bedrückt wie nach diesem Streifen habe ich das Kino noch nie verlassen. Und dennoch: Wer bereit ist, einen Abend lang zu leiden, um durch die Kunst die menschliche Seele besser zu verstehen, sollte ihn sich ansehen.

Wenn uns die griechischen Philosophen die Jahrhunderte herunter zurufen: Werde der Du bist, so tut Albert Nobbs genau das Gegenteil: Er ist und bleibt viel zu lange, was er nicht ist - und zeigt, wie tragisch das ist.



Denn Albert Nobbs ist eine Frau. Aber das darf niemand wissen, weil Nobbs (Glenn Close) sich eine Existenz als Mann aufgebaut hat: Er kellnert in einem versnobbten Hotel im Dublin des späten 19. Jahrunderts. Schon ein Fleck auf seiner Krawatte könnte diese Existenz zerstören und ihn ins Elend draussen stürzen. Was, wenn erst noch auskäme, dass er eine Frau ist!? So ist er penibel, still und stets bemüht, nicht gesehen zu werden.

Nun kann eine Frau, die sich als Mann ausgibt, durchaus glücklich werden. Das zeigt eine andere Frau im Film, die sich als Mann ganz offensichtlich sehr wohl fühlt. Doch die Lage von Albert ist viel schwieriger. Er hat seine Weiblichkeit nicht nur für eine berufliche Existenz weggeworfen: Vieles an seinem zutiefst verklemmtem Wesen legt nahe, dass er sie einfach nicht mehr ertragen hat. Kein Wunder, erfährt man: Er wurde als Vierzehnjährige von einer ganzen Männerrotte vergewaltigt.

So sitzen wir im Kinostuhl, und Alberts Angst macht uns ganz angespannt. In jeder unendlich langsam gefilmten Einstellung sehen wir diese Angst. Ausser ihr hat er nicht viel. Naja, er hat ein kleines Vermögen in seinem Personalzimmer versteckt. Und er hat - scheinbar - einen Traum. Er will einen kleinen Tabakladen kaufen. Und heiraten. Dabei bekommt er Hustenanfälle vom Rauchen. Und wie er der süssen Helen den Hof zu machen versucht, ist einfach nur qualvoll mitanzusehen.

Er ist besessen von seinem Geld - auch, weil es in seinem Leben nichts anderes gibt.

Natürlich endet das tragisch. Es kann gar nicht anders enden.

Nur erwarten wir als Kinogänger, dass uns der Film wenigstens einen Hoffnungsschimmer auf den Heimweg gibt. Dass er uns die bittere Pille mit einem Spritzer Sinn versüsst. Und auf seine eigene Art tut er das auch. Aber seid gewarnt: Es ist ein sehr kleiner, sehr zweifelhafter Spritzer für eine sehr bittere Pille.

30
Apr
2012

Sturm

Ein Föhnsturm brettert über den Vierwaldstättersee
Im Hafen wirft er Boote auf und ab
Sie quieken wie mechanische Säue

Metall knallt auf Metall
Die Glocken einer manischen Kuhherde

Drüben irrlichtert die Sturmwarnung
Und irgendwo wird geschossen, scheint es

Ein Schauspiel! Ein Hörspiel! Grossartig!
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Journal einer Kussbereiten

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Freni - 28. Nov, 20:21
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Liebe Rosenherz
Danke für diesen Kommentar, eine sehr traurige Geschichte....
diefrogg - 11. Jan, 15:20
Ja, die selektive Wahrnehmung...
auch positives oder negatives Denken genannt. In den...
diefrogg - 9. Jan, 18:14
liebe frau frogg,
ein bisschen versuch ich es ja, mir alles widrige mit...
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