29
Apr
2012

Furz

Zu Unrecht ist Die Asche meiner Mutter von Frank McCourt beinahe vergessen.

In den Neunzigern war die Autobiografie eines irischen Amerikaners ein Megaseller, ein wuchtiges, lyrisches und sehr witziges Buch. Am Mittwoch schaute ich mir die DVD zum ersten Mal an. Eine Szene fand ich ausgesprochen merkwürdig: Held Frank (11) liegt schwer krank im Spital in Limerick. Er bekommt vom Priester die letzte Ölung. "Das heisst, das ich sterben werde", erzählt der Held aus dem Off. "Und es machte mir nichts aus. Aber dann kam Doktor Campbell herein und hielt meine Hand. Da wusste ich, dass es mir bald besser gehen würde."

Hier sieht man im Bild den Arzt auf dem Stuhl herumrücken. Frau Frogg - an jenem Tag merklich schwerhörig - runzelte die Stirn über die lange Pause an dieser Stelle. Endlich kam eine Erklärung: "Denn ein Arzt würde nie in in der Gegenwart eines sterbenden Kindes furzen". Da begriff Frau Frogg und wartete auf den Furz. Der kam aber nicht.

Am Freitag schaute ich mir den Film nochmals an. Nicht, weil er ein Meisterwerk ist. Es regnet darin sogar für meinen Geschmack zu viel. Aber ich hörte plötzlich besser und wollte mir nochmals das wunderbare Englisch der zwei Hauptdarsteller Emily Watson und Robert Carlyle anhören.

Diesmal hörte ich auch den Furz von Doktor Campbell - an der dramaturgisch exakt richtigen Stelle.



Da wusste ich, dass es mir wieder besser geht.

Eigentlich sollte ich das gar nicht erzählen. Erstens schreiben Damen nicht über Fürze, und zweitens kann mein Ohr schon heute wieder absaufen.

Ich tue es trotzdem. Man kann Hörenden gar nicht oft genug erklären, was man im Leben verpasst, wenn man nicht hört. Es ist ist nicht immer etwas Lebenswichtiges. Manchmal ist es nur ein Fürzchen. Aber manchmal ist es genau der Ton, der die Musik macht.

25
Apr
2012

Ich muss mich verhört haben!

"Wird wohl nichts mit skifahren heute!" sagte Herr T. "Skifahren?! Hä?!" sagte Frau Frogg. Wir waren im Tessin, am Spazieren. Weit und breit kein Schnee. Unter uns glänzte bleifarben der Luganersee. Ja, es war kalt. Aber Skifahren? Davon war bislang nie die Rede gewesen. Herr T. brüllte: "Ich sagte Schifffahren! Es wird heute nichts mit Schifffahren auf dem Luganersee! Weil es bald regnen wird!"

Aha. Ich hatte mich verhört. Wieder mal. Ich verhöre mich oft in letzter Zeit. Das gehört zu den - manchmal - amüsanteren Aspekten meiner Schwerhörigkeit. Es muss ja schnell gehen beim Hören. Spricht B zu A, so registriert das Gehirn von A zunächst einen Haufen Laute und reiht sie dann blitzschnell zu einem Satz zusammen. Versteht A nicht genug, fragt er nach. Kann er nicht nachfragen (oder traut er sich nicht), so zieht er Kontextwissen bei - oder er assoziiert möglichst intelligent.

Bei mir gehts immer noch ziemlich schnell. Es muss schnell gehen, vor allem, wenn ich Radio höre oder fernsehe. Sonst kann ich nicht mehr folgen. Aber wegen meiner Schwerhörigkeit muss ich mir Sätze mit einer ziemlich schmalen Datenbasis zusammenreimen - was manchmal leicht surreal herauskommt, aber oft doch eine tiefere Wahrheit enthüllt. So sagte Philipp Müller, der neue Schweizer FDP-Präsident, am Sonntagabend am Fernsehen: "Ich will die FDP spartanischer und mit mehr Emotionen in die Zukunft führen." "Spartanisch", das macht doch Sinn: Die FDP spart schliesslich satanisch bei den Staatsausgaben, besonders bei den sozial benachteiligten Untertanen.

Aber, nein: Er hatte natürlich "spontaner" gesagt. Dafür profitierte Radrennfahrer Geraint Thomas gestern an der Tour de Romande "von trunkenen Bedingungen". War flüssiges Doping im Spiel? Nein, ein Verhörer, es waren "trockene Bedingungen". Natürlich: Auch so ist das kein richtiger deutscher Satz. Bedingungen können gut, schlecht oder schwierig sein. Aber nicht trocken oder nass. Aber so reden die am Schweizer Fernsehen, glaubt mir. Das macht es für mich einfacher. Ich meine: Muss man alles verstehen, wenn die Leute nicht mal richtig Deutsch können?

Auch am deutschen Fernsehen ist es nicht besser: Da führen Krankenhäuser "Fernlungen", nein, natürlich "Verhandlungen" - mit wem? Weiss ich nicht mehr. Aber die Assoziation ist hübsch, nicht?

Nur wie ich aus "Bergungsflügen" in den Radio-Nachrichten neulich "Erdnussflüge" gemacht habe, kann ich mir immer noch nicht erklären.

22
Apr
2012

Überflüssige Sorge

Gestern fuhr ich mit dem Zug nach Zürich, um eine Bekannte zu treffen. Ich war in grosser Sorge, weil Zugslärm mir oft furchtbar wehtut in den Ohren. Meine Ohropax waren griffbereit. Doch meine Sorge erwies sich als vollkommen überflüssig: Im Zug sitzend konnte ich ihn auch in voller Fahrt gar nicht mehr hören - oder nur noch dann ein bisschen, wenn er über eine Weiche fuhr oder sich stark in die Kurve legte. Als ich das merkte, war ich sicher, dass ich einen schlechten Tag hatte.

Vor dem Treffen besuchte ich die englische Buchhandlung an der Bahnhofstrasse. Ein kleines Problem gabs an der Kasse. Ich wusste: Die Buchhändler hier sind absolut zweisprachig. Nun ist es so, dass ich früher ein akzentfreies Estuary English gesprochen habe - und zwar bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Am liebsten verwirrte ich damit Amerikaner bei der Frage über meine Herkunft. Aber gestern verunsicherte es mich schon masslos, nicht zu wissen, in welcher Sprache man mich ansprechen würde.

Der Mann an der Kasse sagte zuerst "Grüezi" und dann noch etwas. Ich verstand nicht. Da hielt er mich für englischsprachig und wollte die Sprache wechseln. Ich musste ihm sagen, dass ich nicht gut höre. Was dann kam, war eine angenehme Überraschung: Der junge Mann hob freundlich eine Tüte hoch als er mich fragte, ob ich eine brauche. Ich sah, was er meinte, ohne ihn verstehen zu müssen. Genau solche Kleinigkeiten meine ich, wenn ich schreibe: Ich will kein Mitleid. Aber bin froh, wenn ich verstanden werde.

Als ich den Buchladen verliess, begann plötzlich ein Tinnitus laut wie eine Kreissäge meinen Kopf zu halbieren. Ich kenne ihn mittlerweile. Er sagt mir, dass ich bald besser hören werde. Und in der Tat verlief das Treffen mit meiner Bekannten ganz angenehm. Auf dem Heimweg hörte ich sogar den Zug wieder. Jedenfalls am Anfang. Dann soff mein Ohr wieder ab.

18
Apr
2012

Brilliante Behinderte

Wenn Menschen eine Behinderung haben und daneben Herausragendes leisten, dann sind sie bewunderte Stars - die gut aussehenden Rollstuhl-Sportler; die brillianten blinden Pianisten. "Es muss toll sein, so einen Menschen zu kennen", sagt meine Freundin Wanda, ein an sich gesunder, aber gequälter Mensch. "Bestimmt richtet einen das auf."

Ich habe ihr von Zelda erzählt - jener Frau, die ich neulich am Waldrand kennen gelernt habe. Wir haben uns wieder getroffen. Zelda hat einen Sohn allein gross gezogen und absolviert gerade ein Literatur-Studium. Sie ist 40 und geht mühsam an zwei Stöcken. Ja, es ist toll, sie zu kennen. Aber auf eine andere Art als Wanda es sich vorstellt.

Zelda sagt: "Weisst Du, ich bin ausgeglichener als früher. Ich bin einmal sehr verzweifelt gewesen." Sie hebt die Hand und führt den ausgestreckten Zeigefinger bis hinunter zur Tischplatte. "Dann bin ich am Grund der Verzweiflung angekommen. Seither gehe ich einfach weiter. Und es geht." Wenn ich in ihre hellen, unruhigen Augen schaue, dann sehe ich hinein in den Abgrund. Dann weiss ich: Es ist ein Abgrund von einer Tiefe, die ich nicht kenne. Die ich - Irrtum vorbehalten - nie kennen lernen werde. Ich bin zu oberflächlich und für einmal froh darüber.

Aber ich empfinde ein tiefes Gefühl gegenüber Zelda - ein Gefühl der Dankbarkeit und der Zärtlichkeit. Weil sie mich in den Abgrund hat blicken lassen.

14
Apr
2012

Sentimentaler Männerfilm

Ich sass im Kino, sah "Intouchables" und rund um mich lachten die Leute. Ihr wisst schon: Intouchables ist dieser Kinoknüller aus Frankreich, in dem ein steinreicher Tetraplegiker einen jungen Kerl aus der Banlieue zum Betreuer nimmt.



Ich lachte nicht. Ich hatte keine Zeit, den Film komisch zu finden. Denn ich verstand ihn nicht. Warum, rätselte ich, warum wählt ein so stark behinderter Mensch einen Rüpel mit dem Einfühlungsvermögen eines Presslufthammers zum Pfleger?

Ich selber bin ja ab und zu merklich hörbehindert. Dann bin ich gerne von Leuten umgeben, die schnell wenigstens ansatzweise erfassen, was das bedeutet. Zum Beispiel für die Kommunikation. Aber Tetraplegiker Philippe hat offensichtlich andere Bedürfnisse. Er ist eben ein Mann, dachte ich. "Verstehe eine die Männer!" dachte ich. Und dann fiel bei mir der Groschen: Das ist es! Philippe will einen richtigen Mann zum Pfleger! Diese handgestrickten Softie-Memmen, die sich sonst noch für die Stelle beworben haben, machen ihn depressiv. Und so wählt er den Obermacker Driss - einen, der schnelle Autos liebt und das Parkverbot vor dem Haus seines Herrn mit den Fäusten durchsetzt. Und der weiss, was Frauen wollen.

Nun ist Driss zwar sehr maskulin. Aber als Ex-Knacki und ohne Geld ist er eben auch kein wirklich ganzer Kerl. Im Dienste seines neuen Herrn ändert sich das allmählich: Er bekommt zuerst eine luxuriöse Unterkunft und dann eine Einführung in die Welt der Privilegierten - mitsamt Kunstunterricht.

So ist "Intouchables" ein wahrscheinlich witziger und - das ist mir nicht entgangen - leicht sentimentaler Film: ein Film über zwei Männer, die einander helfen, ihre Männlichkeit wiederzuerlangen. Eine These, die hier viel besser als bei mir ausgeführt wird.

Das ist ganz okay. Damit habe ich überhaupt kein Problem.

Mehr Probleme habe ich damit, dass ich im Grunde so wenig über Philippe und seine Behinderung erfahre. Dieser Philippe ist ja so schicksalsergeben, so massvoll traurig und von Driss so leicht zu erheitern. Und überhaupt hätte ich gern gewusst, wie Philippe das Kapital für seinen fürstlichen Lebensstil zusammenbringt. Da lobe ich mir Al Pacino in Scent of a Woman. Auch das ist ein leicht sentimentaler Film über einen Mann mit Behinderung und seinen Begleiter. Auch ein Film über Männer. Aber Pacino ist wenigstens masslos verbittert. Und, glaubt mir: Er weiss, was Frauen wollen!

logo

Journal einer Kussbereiten

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Suche

 

Impressum

LeserInnen seit dem 28. Mai 2007

Technorati-Claim

Archiv

Juni 2025
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 
 
 
 1 
 2 
 3 
 4 
 5 
 6 
 7 
 8 
 9 
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Aktuelle Beiträge

Kommentar
Liebe Frau frogg, schauen Sie bitte bei WordPress...
Freni - 28. Nov, 20:21
Ein schreckliches Tal
Soglio im Bergell, Oktober 2013. Was habe ich Freunde...
diefrogg - 6. Okt, 20:27
Liebe Rosenherz
Danke für diesen Kommentar, eine sehr traurige Geschichte....
diefrogg - 11. Jan, 15:20
Ja, die selektive Wahrnehmung...
auch positives oder negatives Denken genannt. In den...
diefrogg - 9. Jan, 18:14
liebe frau frogg,
ein bisschen versuch ich es ja, mir alles widrige mit...
la-mamma - 5. Jan, 14:04

Status

Online seit 7570 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 14. Apr, 12:45

Credits


10 Songs
an der tagblattstrasse
auf reisen
bei freunden
das bin ich
hören
im meniere-land
in den kinos
in den kneipen
in den laeden
in frogg hall
kaputter sozialstaat
kulinarische reisen
luzern, luzern
mein kleiner
offene Briefe
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren