18
Apr
2012

Brilliante Behinderte

Wenn Menschen eine Behinderung haben und daneben Herausragendes leisten, dann sind sie bewunderte Stars - die gut aussehenden Rollstuhl-Sportler; die brillianten blinden Pianisten. "Es muss toll sein, so einen Menschen zu kennen", sagt meine Freundin Wanda, ein an sich gesunder, aber gequälter Mensch. "Bestimmt richtet einen das auf."

Ich habe ihr von Zelda erzählt - jener Frau, die ich neulich am Waldrand kennen gelernt habe. Wir haben uns wieder getroffen. Zelda hat einen Sohn allein gross gezogen und absolviert gerade ein Literatur-Studium. Sie ist 40 und geht mühsam an zwei Stöcken. Ja, es ist toll, sie zu kennen. Aber auf eine andere Art als Wanda es sich vorstellt.

Zelda sagt: "Weisst Du, ich bin ausgeglichener als früher. Ich bin einmal sehr verzweifelt gewesen." Sie hebt die Hand und führt den ausgestreckten Zeigefinger bis hinunter zur Tischplatte. "Dann bin ich am Grund der Verzweiflung angekommen. Seither gehe ich einfach weiter. Und es geht." Wenn ich in ihre hellen, unruhigen Augen schaue, dann sehe ich hinein in den Abgrund. Dann weiss ich: Es ist ein Abgrund von einer Tiefe, die ich nicht kenne. Die ich - Irrtum vorbehalten - nie kennen lernen werde. Ich bin zu oberflächlich und für einmal froh darüber.

Aber ich empfinde ein tiefes Gefühl gegenüber Zelda - ein Gefühl der Dankbarkeit und der Zärtlichkeit. Weil sie mich in den Abgrund hat blicken lassen.

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steppenhund - 18. Apr, 11:26

Der "behinderte" Mensch, (von den "bekannten") den ich am meisten schätze, ist Thomas Quasthof. Ein hervorragender Sänger, dessen Contergan-Missbildung auf der Bühne in Vergessenheit zu geraten schien. Wenigen wird bewusst, dass Contergan auch Langzeiteffekte hat, sodass er sich jetzt aus gesundheitlichen Gründen vom Podium zurück gezogen hat.
Was ich aber an ihm so sehr schätze, ist seine Lebenshaltung und die Interviews, die ich von ihm gehört habe. Ein Fehlen jeglicher Verbitterung und die Ausstrahlung einer Haltung: hier bin ich nun mal, wie ich bin. Ich kann's nicht ändern sondern nur das Beste daraus machen.
-
Und als Sänger ist er noch immer erstklassige Spitze.

diefrogg - 18. Apr, 12:08

Ohne Thomas Quasthoff...

zu kennen (und im Moment höre ich zu wenig, um mir ein YouTube-Video von ihm anhören zu können), gebe ich Ihnen recht, herr steppenhund: Das ist bestimmt eine erstrebenswerte Haltung. Und gewiss besitzt Quasthoff die an sich bewundernswerte Gabe und Disziplin des absolut professionellen Auftritts.

Und genau weil diese Haltung so erstrebenswert ist, will ich mehr sehen als den Glanz und den absolut professionellen Auftritt (über den ich als ehemalige Journalistin sowieso das meiste weiss, was ich wissen muss). Ich will wissen: Wie überwindet ein solcher Mensch die Anfechtungen, denen er ohne Zweifel ausgesetzt ist? Nicht aus Voyeurismus. Sondern, weil ich es wissen muss.

Meine neue Freundin ist übrigens eine Nietzsche-Leserin. Das dürfte Ihnen gefallen, Herr Steppenhund. Und wohl auch solche Aussagen in einen Kontext setzen.
Ani72 - 18. Apr, 12:14

Ich habe mehrere Freunde mit schweren körperlichen Behinderungen. Irgendwie vergesse ich immer, dass sie behindert sind und gehe ganz normal mit ihnen um. Manchmal bin ich dabei aber ein bisschen dusselig, wie wenn ich meiner blinden Mailfreundin ein Foto sende. Aber sie finden das eigentlich ganz gut, weil Mitleid will keiner meiner Freunde haben. Und über meine faux pas sind sie auch nicht böse. (Die Behinderung ist nicht wie ein rosa Elefant, der im Raum steht und über den keiner spricht)

diefrogg - 18. Apr, 12:47

Sie und Ihre Freunde...

scheinen eine hohe Sozialkompetenz zu haben, Frau Ani!

Das erinnert mich an die Zeit, als ich erstmals ertaubte und meinen beiden besten Freunden in Deutschland schrieb, ich könne nicht mehr telefonieren - sie müssten mir mailen. Sie riefen beide unverzüglich an, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Damals fand ich das reichlich merkwürdig. "Sind die plötzlich erblindet?! Können sie nicht mehr lesen?!" dachte ich. Heute lache ich darüber.

Übrigens wollte weder Zelda Mitleid, noch will ich es. Im Gegenteil: Wir waren einfach zwei Frauen, die nicht das Gefühl hatten, einander schonen zu müssen.
Ascentive - 18. Apr, 17:02

Der Begriff Behinderung ist und bleibt negativ behaftet und ist in meinen Augen eine Diskriminierung.

Wir "Otto-Normalmenschen" sollten uns eine dicke Scheibe von denjenigen abschneiden, die tag täglichen
Herausforderungen in ihrem Leben ausgesetzt sind.

~Anja~

diefrogg - 18. Apr, 19:09

Danke, Anja!

Das ist ein wahres Wort!

Allerdings finde ich den Begriff "Behinderung" nicht a priori negativ besetzt. Wer mit einer Behinderung oder chronischen Krankheit lebt, weiss, dass man diese Tatsache nicht einfach ignorieren und wegdiskutieren kann. Also kann man sie also auch gleich beim Namen nennen.

Diskriminierend wird es dort, wo man sagt, jemand sei behindert und damit meint oder andeutet, er oder sie sei irgendwie inkompetent oder qua seiner Behinderung seiner Aufgabe oder dem Leben ganz allgemein nicht gewachsen.

Ich habe gelernt zu sagen "A. lebt mit einer Behinderung", statt "A. ist behindert". Das ist insofern weniger krass als ein Mensch damit zunächst als ganzer Mensch gesehen und nicht zuallererst auf seine Behinderung reduziert wird.
Falkin - 20. Apr, 10:52

auch für mich ist der Begriff "Behinderung" negativ besetzt. Eben da er zu oft und zu unbesonnen verwendet wird als Synonym suboptimaler Intelligenzbegabung. In meiner Kindheit war der Begriff Behinderte zudem auf vom Down-Syndrom-Betroffene gemünzt, welche ad absurdum stigmatisiert wurden. Es gab da so eine Down-Syndrom/ Behinderten-Uniform. Jeans, gelbe Gummistiefel, khakifarbener Parker und eine Wollmütze möglichst ungünstig ins Gesicht gezogen. Ich frag mich, wer/ welche in dieser Uniformierung nicht vollkommen bescheuert aussieht und genau das fragte ich als Kind ... einen derartig sicherlich durch eine Pflegekraft achtlos Kostümierten. Meine Mutter war entsetzt... und kugelte mir im Wegreißen fast den Arm aus, um sich eiligsten Schrittes aus der Peinlichkeit zu befreien. Ich drehte mich um und der junge Mann winkte mir zu und ich winkte zurück und war mir gewiss, dass er besser verstand als meine nichtbehinderte Mutter.

...was im Übrigen so nicht seine Richtigkeit hat... das nicht-behindert. Nur ihre Behinderungen sah man nicht. Ihre Unfähigkeit, sie selber zu sein, ihr Unvermögen, einer zerstörerischen Liebe Einhalt zu gebieten. Ein sehr wundervoller und liebenswerter Freund von mir leidet unter schweren Depression. Er wird in diesen Phasen geradezu unsichtbar, entschwindet in das schwarze Mauseloch seiner Schatten. Aber er gibt sich Mühe, wie ein manischer Maulwurf, wühlt sich immer wieder ans Tageslicht und dann, dann komponiert er wunder-volle, begnadete, be-rührende Lieder auf seiner Gitarre, die für seine Seele sprechen gelernt hat. Seine "Behinderung" sieht man ihm nicht an.

Behinderung scheint für Viele zu bedeuten: optisch auffällig, sich unterscheidend in der Physiognomie... und damit anders-artig. Und eben das mag ich nicht. Und ich mag es auch nicht, und ich hoffe Sie verstehen mich in diesem Punkt, liebe Frau Frogg, wenn besondere Begabungen von "Behinderten" hervorgehoben werden. Ob nun mit einem Beinchen mehr oder einem Auge weniger, ob mit sieben oder 1000 Haaren, grünen, rosanen oder sonstigen Augen.... wir sind alle Menschlein und haben alle eine Anrecht auf Mängel und Schwächen. Ich bin nicht liebenswerter, nur weil ich mich phasisch mit einem Hinkebein durch.s Leben winde. Aber ich möchte es deswegen auch nicht sein müssen. Da gibt es nämlich eine Seele und einen Geist, die einfach als die akzeptiert werden wollen, die sie sind: ich.

...und ich befürchte, nun vollkommen vom Thema abgewichen zu sein. Dennoch... manchesmal wünschte ich mir, den Menschen würden allesamt Hören und Sehen und Sprechen vergehen, damit sie verstehen lernen, sich zu spüren und wahr-zu-nehmen als das, was sie sind, beraubt um diese ganzen verüschten Zusatz-Module. Ich bewundere Menschen sehr, die Höllen durchliefen/ durchlaufen und dennoch die Kraft haben, sich den Herausforderungen Ihres Daseins zu stellen. Daran erinnere ich mich wieder und wieder, wenn ich Gefahr laufe, mich in Selbstmitleid zu verstricken.

Im Vorbei(p)flug grüßt herzlich: die Falkin
diefrogg - 20. Apr, 12:45

Wow, Frau Falkin...

Das sind aber eine Menge Themen, die Sie da aufgreifen! Zuerst zur Bekleidung von Heim-Bewohnern: Es fällt mir auch auf, dass diese oft eher lieblos angezogen sind. Das kann verschiedene Gründe haben: Nebst der Achtlosigkeit von Angehörigen und Personal kommt auch Geldmangel als Ursache in Frage. Behinderungen gehen oft mit finanziellen Schwierigkeiten einher, die sich gesunde Menschen überhaupt nicht vorstellen können.

Allerdings sollte man meiner Meinung nach als erwachsener Mensch in der Lage sein, hinter den Kleidern den Menschen zu sehen.

Zur Aussage: Viele Menschen sind behindert und man sieht es ihnen nicht an. Dazu möchte ich ausdrücklich als Person Stellung nehmen, die eine Hörbehinderung hat - zuweilen eine beträchtliche: Auch diese Behinderung sieht man nicht. Und doch liegt mir daran, dass sie als Einschränkung meines täglichen Lebens wahrgenommen wird - vor allem von den Leuten, mit denen ich täglich sprechen muss.

Und für mich ist es ein Unterschied, ob jemand mit einer Behinderung durch den Alltag kommen muss oder ob er gesund ist und sein Leben einfach nicht auf die Reihe kriegt. Gerade was Liebeskummer betrifft, halte ich mich hier qua meiner langen Lebenserfahrung (auch in der Liebe) für befähigt, ein Urteil abzulegen: Wer sich auf eine zerstörerische Beziehung einlässt, erlebt nicht zu unterschätzende Schmerzen und Leid. Aber er hat die Chance, sich daraus zu befreien, zu reifen. Über eine Behinderung kann man nicht einfach hinauswachsen. Man muss lernen mit ihr zu leben - und zwar täglich neu. Damit meine ich auch Ihren Bekannten, der an einer - nicht sichtbaren - Depression leidet. Auch er muss das. Und bei vielen greift sie in jeden Bereich des täglichen Lebens ein.

Aber wenn Sie einen besseren Begriff kennen, der das negativ besetzte Wort "Behinderung" sinnvoll ersetzt, dann lasse ich mich gerne belehren.
Falkin - 20. Apr, 13:15

....ja, man sollte in der Lage sein, hinter den Kleidern einen Mensch zu erkennen, dummerweise ist ein Großteil der Menschheit geistig nicht so weit gereift. Auch ein Grund, wieso wir in unserem Wohnheim (physisch und psychisch Erkrankte) gezielt bemüht sind, auch mit geringfügigen finanziellen Mitteln ein Optimum an Lebensqualität zu erreichen, wozu für viele nun auch einmal die Bekleidung gehört.

...ich weiß um Ihre Hör-ver-hinderung, Frau Frogg. Und nein, mir fällt kein besseres Wort ein. Ende letzten Jahres wurde mir eine irreversible Geh-Behinderung attestiert - (ich kann nur von unsäglichem Glück reden, dass die Ärztinnen irrten), jedoch war ich zu dem Zeitpunkt nicht gewillt, mich als behindert zu betrachten, als irreversibel gehunfähig durchaus. Mir gefällt das Wort nicht, weil es einer Art Stigma gleichkommt. Trotz meiner durchaus existenten Schwierigkeiten, mich mühelos in den Alltag einzufügen, gefiel mir die gravierende! Veränderung des Verhaltens in meinem anonymen Alltags-Umfeld nicht. Ich persönlich fühlte mich reduziert. Auch der Ton im Umgang mit mir änderte sich... in so etwas mitleidig Verhätschelndes. Ich hatte tatsächlich schon die Hand einer Servicekraft im Gesicht, die - nachdem ich zu meinem Tisch gehinkt war - mir das Gesicht tätschelte, ob es denn gehe. Nein, offensichtlicht GEHT es nicht. Sie mag es durchaus nett gemeint haben. Ändert nichts daran, dass ich derartige Grenzüberschreitungen nicht schätze. - Im Kolleginnenkreis wird dem Begriff Behinderung das "Handicap" vorgezogen. Finde ich aber genauso unpassend, wohl, da ich stets Golf assoziiere. Ja, vielleicht hat der Begriff seine Richtigkeit und es wird einfach Zeit, ihn mit neuem Leben zu füllen. Ich sollte mir Gedanken darüber machen, denn noch ist eine "chronische Genesung" nicht absehbar (auch wenn es Tage gibt, an denen ich durchaus zu hüpfen und springen vermag). Durch Sie angeregt werde ich das wohl nun tuen... Danke dafür! Und ein schönes WE gewünscht!
diefrogg - 20. Apr, 14:05

Liebe Frau Falkin...

Ich wollte Ihnen in der Kleiderfrage nicht zu nahe treten, bitte entschuldigen Sie! Es ist gut zu wissen, dass die Menschen, die in Wohnheimen arbeiten, heute besser auf Kleiderfragen achten. Äusserlichkeiten sind ja heute leider noch wichtiger als vor 20 Jahren.

Bei der Schilderung Ihrer Probleme mit dem Gehen ist mir eins plötzlich klar geworden: Natürlich verstehe ich, dass Sie sich gegen die Kategorisierung als Behinderte wehren, wenn Sie wegen Ihrer Einschränkungen beim Gehen solch grobe Grenzüberschreitungen erlebt haben. Bei mir ist es eben genau umgekehrt: Ich leide daran, dass die Leute ständig VERGESSEN, dass ich nicht gut höre und mir dadurch - nicht böswillig, aber gedankenlos - die Zugehörigkeit in einfachsten sozialen Situationen verweigern.

Da zeigt sich doch wieder mal, zu welch unterschiedlichen Einschätzungen und Denkweisen uns unsere Erfahrungen führen. Es ist schon so: Ich lasse mich auch nicht gerne als "behindert" bezeichnen. Aber an manchen Tagen habe ich eine Behinderung, und ich möchte, dass das auch zur Kenntnis genommen wird. Ich wünsche Ihnen auf jeden Fall, dass die Ärzte sich bei Ihnen dauerhaft geirrt haben und Sie immer öfter hüpfen und springen!
seifenblasenpusterin - 21. Apr, 22:37

Das "mitleidig Verhätschelnde" bekommt man auch ohne Behinderung ab, es muss einem nur etwas widerfahren sein, das außerordentlich betroffen macht - egal, was es ist. Ich ringe zur Zeit damit.

Behinderung als Begriff empfinde ich nicht per se als negativ (weiß aber, dass das oft so gesehen wird); jemand i s t behindert durchaus. Eine Frage der Grammatik und wie es durch den gängigen Sprachgebrauch geprägt worden ist.

Meinen Kindern habe ich bewusst "Handicap" an die Hand gegeben und sie gehen miit Wort und Inhalt sehr natürlich um... was mich immer wieder freut.

Liebe Grüße @frogg
diefrogg - 22. Apr, 17:49

Hm, das "mitleidig

Verhätschelnde" kenne ich so gut wie gar nicht. Vielleicht gehört es in unserem Land weniger zum kulturellen Repertoire als in unseren emotional doch etwas expansiveren Nachbarländern. Und vielleicht fordert mein Wesen es einfach nicht heraus. Viele Leute nehmen mich als etwas reserviert wahr.

Wobei ich unter keinen Umständen andeuten will, wer Opfer von Übergriffen werde, fordere diese auf irgend eine Art und Weise heraus.

Dir liebe Seifenblasenpusterin, wünsche ich alle Kraft, die Du brauchst und umarme Dich aus der Ferne - aber nur, wenn Du willst!
seifenblasenpusterin - 24. Apr, 20:24

Von dir

- natürlich. Danke auch für deine Worte drüben; ich habe mich ehrlich gefreut. Liebe Grüße.
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